Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Aber ein Schauder dauert länger als sein Anlaß oder Irrtum; er ging, noch sorgend für den Bruder, in dessen Wohngasse, als seine Flöte schon von ferne herauftönte und wie die Flut alle die offnen rauhen Klippen der Welt mit einem weichen Meer zudeckte. Der elende November, der herrnhutische Wirt, die Vogelscheuche und die leere Ebbe des Lebens gingen nun unter in schönen Wogen. Walt trat, weils finster war – denn am Tage schauete er nur die lange Gasse hinab –, dicht vor Vults Haus, obwohl in die Monds-Schatten-Seite. Er drückte den Türdrücker wie eine Hand, weil er wußte, wie oft ihn die brüderliche mußte angefaßt haben. Vult, dies merkte er aus dem Schatten und dem Lichtschimmer gegenüber, mußte mit dem Notenpulte nah' am Fenster stehen. Als wieder ein langer Wolkenschatte die Gasse heraufflog: schritt er quer über und guckte hinauf und sah hinter dem erleuchteten Notenpulte das so lange begehrte Gesicht; und weinte bitter. Er ging an ein großes rotes Tor seitwärts, worauf Vults Schattenriß, aber greulich auseinandergezogen wie ein angenagelter Raubvogel, hing, und küßte etwas vom Schatten, aber mit einiger Mühe, weil sein eigner viel verdeckte.

Gern wär' er jetzt zu ihm hinauf gegangen mit der alten Bruder-Brust an sein Herz; aber er sagte: »Blies' ich selber droben, o so weiß ich alles wohl – nein, es gäbe für mich kein fremdes Herz; aber er ist fast immer das Widerspiel seines Spiels und oft fast hart, wenn er sehr weich dahinflötet. – Ich will ihn in seiner Geister-Lust nicht stören, sondern lieber manches zu Papier bringen und morgen schicken.«

Er tats zu Hause, die Flötentöne des Bruders fielen schön in das Rauschen seiner Gefühle ein – er versiegelte einen geistigen Sturm. Er legte dem Sturm zwei Polymeter über den Tropfstein bei, dessen Säulen und Bildungen bekanntlich aus weichen Tropfen erstarren.
 

Erster Polymeter

Weich sinkt der Tropfe im Höhlen-Gebirge, aber hart und zackig und scharf verewigt er sich. Schöner ist die Menschen-Träne. Sie durchschneidet das Auge, das sie wund gebiert; aber der geweinte Diamant wird endlich weich, das Auge sieht sich um nach ihm, und er ist der Tau in einer Blume.

Zweiter

Blick' in die Höhle, wo kleine stumme Zähren den Glanz des Himmels und die Tempelsäulen der Erde spielend nachschaffen. Auch deine Tränen und Schmerzen, o Mensch, werden einst schimmern wie Sterne und werden dich tragen als Pfeiler.
 

Vult antwortete darauf: »Mündlich das Übrige, Lieber! Wie mich unser so wacker gefödertes Schreiben freut, weißt du besser als ich selber.« – »So hol' ihn der Henker,« sagte Walt, »ich habe mehr eingebüßt als er, denn ich lieb' ihn ganz anders.« Er war nun so unglücklich, als es die Liebe auf der Erde sein kann. Er webte – ganz entblößt von Menschen und Geschäften – seinen Roman fort, als das einzige dünne leichte Band, das sich noch aus seiner Stube in die brüderliche spannen ließ.

An einem Abende, als der ausgewachsene reife Mond gar zu hell und lösend schien, bedacht' er, ob es denn nicht schicklich sei, ordentlich Abschied zu nehmen. Er schrieb folgendes Briefchen:

»Empfange mich nicht übel, wenn ich diesen Abend um 7 Uhr komme. Wahrlich, ich nehme nur Abschied; alles wird auf der Erde ohne Abschied auseinander gestürmt; aber der Mensch nimmt seinen von einem Menschen, wenn er kann, wenn kein Meer-Sturm, wenn kein Erdbeben die Seelen-Nächsten plötzlich zerwirft. Sei wie ich, Vult; ich will dich nur wieder sehen und dann nicht länger. Antworte nur aber nicht; weil ich mich fürchte.«

Er bekam auch keine Antwort und wurde noch furchtsamer und trauriger. Er ging abends, aber ihm war, als sei der Abschied schon vorbei. In Vults Stube war Licht. Welche Bürde trug er die Treppe hinauf, nicht um sie oben abzuladen, sondern zu verdoppeln! Aber niemand sagte: komm' herein! Das Zimmer war ausgeleert, die Kammertüre offen – auf einem Stalleuchter wollte ein sterbendes Licht verscheiden – die Bettstelle beherbergte, gleich einer Scheune, nur fatales Stroh – verzettelte Papier-Späne, Brief-Umschläge, zerschnittene Flöten-Arien bildeten den Bodensatz verlaufener Tage – es war das Gebeinhaus oder Gebeinzimmer eines Menschen.

Walt dachte im ersten Unsinn des Schreckens, Vult könne, wenn nicht damals, doch später, im Wasser gelegen sein, und griff alle Papier-Reliquien mit groß tropfenden Augen halb unbewußt zusammen. Auf einmal rief die baßstimmige Frau des Theaterschneiders herauf, wer droben umtrabe. »Harnisch«, versetzt' er. Da fuhr sie die Treppe herauf und schalt: das sei Harnischens Stimme nicht. Als sie ihn gar im Finstern sah – denn er hatte das sterbende Licht getötet, weil jede Nacht besser ist, so wie der Tod besser als Sterben –, so mußt' er sich mit der Theaterschneiderin in ein anzügliches Hand-, nämlich Wortgemenge über seine Diebs-Tendenzen einlassen und zuletzt über sein Lügen. Denn er hatte sich in der Eile für Vults dasigen Bruder ausgegeben und doch gefragt, wohin Vult gekommen sei.

Verworren und gescholten wanderte er seiner Stube zu und schlich auf den Treppen voll Lichter und Leute – der Hofagent gab einen tanzenden Tee – gebückt hinauf.

Da fand er sein Zimmer aufgetan und einen Mann darin mit Hämmern arbeitend, um sich gut einzurichten in seiner neuen Wohnung. Es war Vult.

»Erwünschter« – sagte Vult und nagelte an einer Theaterwand fort – »Aber guten Abend! Erwünschter, meint' ich nämlich, kann mir nichts kommen, als du endlich kommst. Schon seit Schlag sieben vexier' ich mich ab, um alles aufs Beste aufzustellen und etwa so einzurichten, daß keiner von uns nachher brumme oder grunze; unterstütze mich aber dabei, bei der gemeinschaftlichen Einrichtung, und hilf! – Du siehst mich so an, Walt?« –

»Vult? – Wie? – Sprich nur!« (sagte Walt) »Es könnte doch etwas Himmlisches sein! Und sei nur von Herzen willkommen!« Hier lief er mit Kuß und Umhalsen an ihn; Vult konnte aber, da er in der einen Hand den Nagel hielt, in der andern den Hammer, nichts dazu ablassen als Gesicht und Hals und antwortete: »Die Hauptsache ist wohl, daß du jetzt ein vernünftiges Wort darüber hören lässest, wie die Sachen zu traktieren sind für beiderseitige Lust. Denn ist einmal alles fest genagelt: so änderts der Mensch ungern. Mich däucht aber, so besitzest und beherrschest du gerade das eine Fenster und fast drüber, und ich das andere; ein drittes fehlt.«

»Ich weiß wahrlich nicht, was du vorhast, aber mache nur alles und sage dann, was es ist«, sagte Walt. »So muß ich dich gar nicht verstehen,« versetzte Vult, »oder du mich nicht. Solltest du kein Briefchen von mir erhalten haben?« sagte Vult. – »Nein«, sagte er.

»Ich meine das heutige,« fragte jener fort, »worin ich schrieb, ich würde dein Schweigen für ein Ja auf meine Bitte nehmen, daß wir doch möchten zusammen wie ein Vögelpaar ein Nest oder Quartier bewohnen, dieses nämlich? Wie?« – »Nichts« (sagte Walt) »Aber du willst dies? O warum traut' ich denn deinem Gemüte weniger? Gott züchtige mich dafür! O wie bist du!« –

»In diesem Falle muß ich das Blatt noch in der Tasche tragen« (versetzte Vult und zog es hervor) – »zuvörderst müssen wir aber unsern Stuben-Etat für den Winter ins Reine und aufs Trockne bringen; denn, Freund, leichter verträgt sich ein Simultaneum von Religionsparteien in einer Kirche als eines von Zwillingen in einer Stube, wie sie denn schon als kleine Kraken nicht einmal im Mutterleibe es ein Jahr lang ausdauern, sondern sich sondern. Mein Wunsch ist allerdings, daß die Feuermauer, die ich zwischen uns Flammen gezogen – und die Bühnenwand langt zum Glück so nett –, uns körperlich genug abtrenne, um uns nicht geistig zu trennen. Die Scheidewand ist auf deiner Seite mit einer schönen Reihe Paläste übermalt, auf der meinigen ist ein arkadisches Dorf hingeschmiert, und ich stoße nur dieses Palast-Fenster auf, so seh' ich dich von meinem Schreibtische an deinem. Reden können wir ohnehin durch die Mauer und Stadt hindurch.«

»Das ist ja köstlich«, sagte Walt.

»Wir arbeiten dann in unserm Doppel-Käfig am Hoppelpoppel Tag und Nacht, weil der Winter für Autoren und Kreuzschnäbel die beste Zeit zum Brüten ist und wir darin und die schwarze Nieswurz (was sind wir anders als Nieswurz der Welt?) im Froste blühen.«

»O herrlich«, sagte Walt.

»Denn ich muß leider bekennen, daß ich bisher aus einer Ausschweifung in die andere, nämlich aus spaßhaften in reelle geraten und in der Tat wenig gegeben. So aber werden wir beide schreiben und dichten, daß wir rauchen; – nur für Bücher und Manuskripte wird gelebt, nämlich von Honorarien. – In 14 Tagen, mein guter Freund, kann schon ein sehr hübscher Aktenstoß an einen Verleger ablaufen vom Stapel.«

»O göttlich«, sagte Walt.

»Falls ein solches gemeinschaftliches Zusammenbrüten in einem Neste – ich als Tauber, du als Täubin – nicht am Ende einen Phönix oder sonst ein Flügel-Werk aussitzen kann, das sich vor der Nachwelt so gut sehen lässet, daß sie ihre Vorwelt fragt, wer beide Brüder waren, wie lang, wie breit, wie sie gegessen, genieset, und was die Gebrüder sonst für Sitten und Möbeln und Narrheiten gehabt; wenn das, sag' ich, nicht der Fall bei uns sein soll: so will ich nicht im Ernste gesprochen haben.«

»Ach du schöner Gott«, rief Walt mit Freudenblicken.

»Fressen will ich meine Zunge vor Hunger und, wie man von Bomben sagt, krepieren, crêper, wenn wir uns hier nicht lange vorher lieben, eh' wir uns zanken, kurz, überhaupt nicht Sachen vorfallen, wovon in Zukunft ein Mehreres mündlich.« – »Bei Gott, du gibst mir neues Leben«, sagte Walt. »Hältst du es aber genehm,« sagte Vult und führte ihn in die Schlafkammer, »daß ich unsere Bettstellen durch die spanische Wand – für die spanischen Schlösser der Träume – quer geschieden halte? Ich sehe sie aber mehr für einen alten Bettschirm an.«

»Du kennst darüber meine Grundsätze«, sagte Walt; »ich hielt es schon in frühern Jahren für unschicklich, nur mit einem Freunde gymnastisch zu ringen oder ihn zu tragen, es müßte denn aus Lebensgefahren sein.«

Darauf zeichnete ihm Vult den ganzen Weg und engen Paß vor, worauf er hereinkommen, ferner seine Zukunfts-Karten. Schon längst hab' er, sagt er, zu ihm ziehen wollen, teils aus Liebe für ihn und den Hoppelpoppel, teils des halbierten Mietzinses halber, teils sonst. Neulich auf einem Spaziergange hab' er sich in die Gunst der guten Raphaela zurückgeschwungen, mit welcher er als mit einem Hebels-Langarm dann den Vater habe bewegt. Vor einer Stunde sei er mit der Theaterwand von Purzel und mit dem Koffer eingetroffen und habe den Stubenschlüssel im bekannten Mausloch gefunden. »Nun erbrich aber doch mein Schreiben«, beschloß er. Auf dem Umschlag stand: »An Herrn Walt, abzugeben bei mir.«

Walt bemerkte nicht, daß auf dem Briefe neben Vults Siegel auch seines stand und daß es jener alte war, worin Vult ihm in der Zukunft das nächtliche Poltern, Türen-Zuwerfen seines Polter- oder Schmollgeistes voraussagt, um nachher entschuldigt zu sein, und den wir früher gelesen als Walt, oder vielmehr später. Walt glaubte eilig, er meine eine von heute an zukünftige Zukunft, und sagte, dahin komm' es nicht; aber als Vult ihm am Datum zeigte, daß eine vergangne geschildert sei: so faßte der Notar seine Hände mit beiden fest, sah ihm in die Augen und fing mit langem Ton der Rührung an: »Vult! – Vult!« – Den Flötenspieler drückte es, daß er einige Tropfen in die eignen Augen, über die er mit den gefangnen Händen nicht hinfahren konnte, mußte treten lassen: »Nun,« fuhr er auf, »auch ich bin kein Kiesel; lasse mich aber auf mein Zimmer gehen und auspacken!« und fuhr hinter die Bühnenwand.

Er packte aus und stellte auf. Walt ging im seinigen auf und ab und erzählte ihm über die Stadt herüber seine bisherigen Versuche, ihren Seelen-Tauf-Bund zu erneuern. Alsdann kam er wieder in den Verschlag und half ihm, sein Haus- oder Stubengeräte ordnen. Er war so hülf-fertig, so freundlich-tätig, er wollte dem Bruder so viel Platz aufdringen samt Fenster-Licht und Möbeln, daß Vult heimlich sich einen Narren schalt, daß er ihm den eigensinnigen Widerstand in der Flittischen Wechselsache zu hart nachgetragen. Walt hingegen stellte seinerseits wieder heimlich den Flötenspieler ins größte Glanzlicht, dafür daß er ihm zu Liebe den Widerwillen gegen Raphaela ersticke; und nahm sich vor, alle schönen Züge desselben unbemerkt aufzuschreiben, um sie als Rezepte nachzulesen, wenn er wieder knurren wolle. Die Gütergemeinschaft und Stuben-Verbrüderung wurde auf die hellsten Grenzverträge zurückgebracht, damit man am Morgen gleich anfangen könnte, beisammen zu sein. Schön bemerkte Vult, man müsse innerlich dem Zorne recht viel Platz machen, damit er sich abtobe und tot renne an den Gehirnwänden; dann werde ja dem Menschen nichts leichter, als mit dem gestorbenen Wolf im Herzen ein weiches Lamm zu sein außen mit der Brust. Man könnte aber hier noch andere Bemerkungen machen, z.B.

– Die starke Liebe will für Fehler nur bestrafen und dann doch vergeben – – Wenn mancher von kleinen Beleidigungen der Freundschaft zu tief getroffen wird: so ist daran bloß eine hassende Denkungsart über alle Menschen schuld, die ihn dann in jedem einzelnen Falle ergreift und diesen zum Spiegel des Ganzen macht – – Die höchste Liebe kennt nur Ja und Nein, keinen Mittelstand; kein Fegefeuer, nur Himmel und Hölle; – und doch hat sie das Unglück, daß sie Geburten der Stimmung und des Zufalls, die nur zu Vorhimmel und Vorhölle führen sollten, zu Pförtnerinnen von Himmels- und Höllentoren macht –

Beide kleideten voreinander die eigentümlichsten Gefühle in allgemeine Sätze ein. Aber als Vult hinter dem Schirme ins Bett einstieg, sagt' er: »Versetze mir nichts darauf – denn ich stopfe mir eben die Ohren mit dem Kopfkissen zu –, aber ich glaube selber, ich hätte dich bisher noch besser lieben können.« – »Nein, ich dich«, schrie Walt.


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