Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Vult war verreiset. Ein Briefchen an Walt war an die Tür gesiegelt: »Bester! Ich reisete heute flüchtig ab, um in Rosenhof mein versprochenes Konzert zu blasen. Künftig arbeit' ich viel fleißiger; denn wirklich tu' ich für unsern Gesamt-Roman zu wenig, besonders da ich gar nichts dafür tue. Es entgeht uns nicht, daß ich lieber spreche – im reißendsten Strome mich schwemmend – als schreibe. Gut aber ists nicht, weder für die Literatur noch das Honorar. In Schulen gilt sonst Rechen- und Schreib–Meister für einen; ein trefflicher Buch-Schreibmeister hingegen ist selten ein Rechenmeister; leider bin ich nicht einmal einer von beiden und brauche doch Geld. Adieu! v. H.«

»Der gehetzte Bruder!« sagte Walt, »so muß er sich jetzt das Geschenk erpfeifen, das er mir so spaßhaft in die Hände gespielt; warum fall' ich immer so heftig aus und drücke den Guten?« Er faßte den ernstlichen Vorsatz, künftig seinem Sturm- und Poltergeiste ganz anders den Zügel anzuziehen. –

Aber Rosenhof warf bald heiteres Licht auf alles und heiligte fast den Flötenspieler, den er in den nachschimmernden Auen des schönsten Morgens mit Glanz besprützt umherwaten sah.

Wackerer als je betrat er nun seine Notariats-Gänge wieder, die sich gegen das Ende seines Erbamts immer häufiger auftaten. Es war ihm ganz einerlei – so freudig ging sein Puls –, worüber er ein Instrument aufsetzte, ob über die Verlassenschaft eines Hofpredigers, oder über eine angebohrte Öl-Tonne, oder über eine Wette: immer dacht' er an das Haus des Generals, oder an den Wasserfall, oder an Leipzig, und es konnte ihm gleichgültig sein (denn er gab nicht darauf acht), was er niederschrieb als offner kaiserlicher Notar.

So glänzend-umsponnen vom Nachsommer des Herzens, kam er aus dem September und dem Notariat endlich in den Oktober hinüber, wo er vor den Kabelschen Testaments-Exekutoren die Rechnung über das bisherige Erbamt abzulegen hatte, vor welcher ihm nicht im geringsten bange war; denn Winas Blick hatte in ihm einen so feurigen Herzschlag entzündet, daß er mit einem solchen Frühlings-Pulse vermochte, in jeder äußern Kälte des Schicksals warm zu bleiben.

Sein Vater Lukas hatte ihn neuerlich in mehreren Kopien von Brief-Originalen (die der Schulze behielt, weil im Briefschreiben das Original das schlechtere ist) seine Angst vor dem Notariats-Hintergrund und die Beteurung seiner »Herbeikunft« wissen lassen. Walten wurde die Wiederholung desselben dürren Gedankens, die so manchen frischen erdrückte, sehr zur Last, und er wünschte nichts weiter als die alte Freiheit, an hundert Dinge zu denken: »Warum ist denn ein Irrweg so verdrießlich,« sagt' er, »als bloß weil man so lange, bis man den rechten wieder erwischt, immer die abgeschabte platte Idee des Wegs besehen und behalten muß!« Die gemeinen Qualen des Lebens belasten weniger unter ihrer Geburt als während ihrer Schwangerschaft, und der eigentliche Leidenstag geht 24 Stunden oder Zeiten früher an als der äußere. Der erste Schritt, den Walt am anberaumten Morgen ins Rathaus tat, machte ihn zu einem andern Menschen, nämlich zum alten – die Sache war für ihn vorbei, denn sie war so nahe. – Zu bald kam er im Vorzimmer an, harrte aber vergnügt und machte einen Polymeter, worin er einige gute Gruppen besang, die in halberhobener Arbeit am Ratsofen mit aller der Wärme dargestellt waren, welche die Jahreszeit an einem kalten Ofen erlaubt. Tanz-Horen, Füllhörner voll Heu, Fruchtschnüre oder -stricke, Büschel von dicken festen Blumen oder Obst und sechs Frühlinge aus Ton (denn es war ein Zirkulierofen) waren allerdings imstande, einen Dichter wie er zu heizen. – Als noch immer die Ratsstube zu blieb, so geriet er auf Neben-Ideen, ob nämlich nicht ein ganzer Roman aus Ofen-Pasten darzustellen und zu entwickeln wäre, besonders ein komischer. So vermag nur ein Mann vor einer wichtigen Wendepunktsstunde, z.B. vor einer Krönung, Schlacht, Selbstermordung, nicht aber seine Frau vor einer ähnlichen, z.B. vor einem Balle, – zu dichten, zu schlafen, zu lesen.

Da endlich der Schirmherr der Kabelschen enterbten Erben, der Pfalzgraf Knoll, eintrat, so fing alles an und wurde gehörig vor den Bürgermeister Kuhnold gestellt.

In seinem Leben war ihm nie so federleicht in einer Ratsstube gewesen; auf dem Staubfaden einer Lilie hätt' er sich schaukeln können. Er fiel aber bald von seiner Lilie ins Beet herunter, als der Schirmherr anfing vorzutragen und zu belegen, »daß der offne geschworne Notar bisher sehr absurd gewirtschaftet« – daß er nicht nur erstlich und zweitens zweimal in Instrumenten abbrevieret – drittens ein nächtliches (das Turm-Testament) mit zweierlei Dinte und viertens bei einerlei Licht geschrieben – fünftens einmal radiert – sechstens einmal gar nicht angegeben, daß er ausdrücklich zur Aufrichtung des Instruments vorgefordert worden – desgleichen siebentens in dem nämlichen auch die Stunde nicht – achtens den nägelein-braunen Bindfaden, womit die Klagschrift N. N. contra N. N. umwickelt gewesen, als einen gelben zu Protokoll gebracht – neuntens Hauszeugen, als sie eidlich aussagten für ihren Herrn, ihrer Pflicht vorher durch Handgeben sowohl zu entlassen als diesen Akt des Entlassens anzuzeigen ganz vergessen – sondern daß er auch zehntens einen falschen Datum im Wechselprotest, ja eilftens neuerlich und ganz zuletzt ein Instrument gar an einem 31. September, der nicht existiere, auszufertigen wenig Anstand genommen. – Nun wurd' er gerichtlich befragt, was er dawider einzuwenden habe. »Ich wüßte eigentlich nichts« – versetzt' er gegnerischerseits –; »auch trau' ich fremdem Gedächtnis hier weit mehr als eignem. Doch was die Hauszeugen anlangt, so hielt ich es für eigenmächtig und unmöglich, sie durch mein bloßes Wort ihren Pflichten zu entnehmen und wieder zurückzugeben.« Darauf sagte Herr Kuhnold, dieser Grund sei mehr edel gedacht als juristisch, und berief sich auf Herrn Fiskal Knoll. Nichts sei lächerlicher, versetzte dieser und schob nun zehn bis zwanzig breite hohle Worte aneinander, um bei den Testaments-Exekutoren um das nachzusuchen, was sich von selber verstand – die Eröffnung des hier eintretenden geheimen Artikels.

Eh' es Kuhnold tat, erwies er dem Pfalzgrafen, daß gar nicht alle Rechtsgelehrten allgemein zu Nacht-Kontrakten drei Lichter begehrten, sondern nur mancher; und langte – als Knoll auf seinem Satze beharrte – bloß das promtuarium juris von Hommel oder Müller als den nächsten Beweis aus dem Schranke vor. Die Ratsbibliothek war nicht höher als die vier Bände des promtuarium stark; dennoch fehlte ihr, wie den meisten öffentlichen Bibliotheken, ein Katalog.

Knoll behielt sich das Seinige vor; Kuhnold gab aber nicht nach, sondern verlas den Straftarif; »daß nämlich für jeden juristischen Notariats-Schnitzer des jungen Harnisch jedem der sieben Erben ein Tannenbaum in Kabels Wäldchen zu fällen verstattet sein sollte«. Da er nun in zehn Sünden geraten war – ohne die streitigen Lichter –, so belief sich der Decem, mit den sieben letzten Plagen multipliziert, auf den ansehnlichen Schlag von 70 Stämmen, so daß Walt nie halb so gut dadurch gelichtet werden konnte als das Wäldchen selber. – »Nu«, sagte der Notar, schnell beide Hände seitwärts auswerfend, »was ist zu machen?« – Er wußte sich innerlich über die Zufälle des Lebens so erheiternd zuzureden wie ein Schuster den Kunden über neue Stiefel, die er bringt; sind sie zu enge, so sagt der Meister: sie treten sich schon aus; sind sie zu weit, so sagt er: die Nässe zieht sie schon ein. So dachte Walt heimlich: »Das witzigt mich. Jetzt kann ich doch als Notar ruhig alle meine Instrumente machen, ohne daß mir geheime Artikel das Geringste zu befehlen oder zu nehmen haben.« Aber am Ende machte ihm doch der Fiskal Knoll den leichten poetischen Götter-Ichor des Herzens schwer, dick und salzig, als dieser, ohne im geringsten durch die Freude über den Gewinn von Schlagholz irre oder trunken zu werden, seine Protestation im Punkte der drei Lichter erneuert zurückließ. Die stehende Gegenwart eines deutlich hassenden Wesens drückt und preßt eine immer liebende Seele, die ihre Kälte schon für Haß ansieht, mit dem schwülen Dunstkreis eines Gewitters, dessen Schlag weniger quält als dessen Nähe. Betrübt, selber von Kuhnolds sanftem Worte, das ihm so vermeidliche Fehler eben als die unverzeihlichern vorwarf, ging er nach Hause; und er sah Vults Fluchen und Scherzen darüber schon entgegen.

Das erste, was er zu Hause machte, war ein Sprung aus demselben auf die schönen stillen Höhen der Oktober-Natur, um seinem Vater, dem Schultheiß, und dessen Scherbengerichte zu entspringen, der, wie er gewiß wußte, in die Stadt laufen würde, um jede Scherbe des zerbrochenen Glücktopfes ihm an den Kopf zu werfen. Auf einer friedlichen Anhöhe – dem Wäldchen gegenüber – konnt' er, während er das medizinische Miserere des Schicksals durch Dichten und Empfinden in ein musikalisches verwandelte, recht gut wahrnehmen, daß schon mehrere Erben mit verständigen Holzhauern im Erb-Forste lustwandelten, um einträchtig mit Waldhämmern ihr Gnadenholz anzuplätzen. Endlich ritt im Schritt Flitte an der Spitze einer holzersparenden Gesellschaft mit Äxten, Sägen, Maßstäben in den Händen den Wald hinan. Gleich einem Witwer, der seine Halbtrauer täglich in kleinere Brüche zerfällt, in Drittelstrauer, in ein 1/4, 1/8, 1/64 Teil – wiewohl die Trauer oder die Zähler nie null werden kann, nach mathematischen Gesetzen –, verkehrte Walt bei diesem Anblick seine schwache Halbtrauer, arithmetisch zu sprechen, in einen unendlich großen Nenner und in einen unendlich kleinen Zähler, d. h. er wurde das, was man gemeinhin froh nennt. »Es ist schon recht,« dacht' er, »daß ich dem guten Flitte für seine gutmütige Erbeinsetzung meiner Person doch einen schwachen Dank durch meine Fehler zuschanze; er habe recht viele Freude dabei, nur keine Schadenfreude.« Aber die Lustigkeit über die Holz-Einbuße wurde Walten etwas verkümmert, als er den alten Schulzen aus der Stadt schreiten und ins Holz dringen sah, Märtyrerkrone und Zepter tragend. Auf die angeplätzten Stämme lief Lukas zu – fragte, sagte dies oder das und keifte – durchschnitt den Gehau nach allen Ecken – stritt ohne Vollmacht wider alles – flog als ein flüchtiges Waldgericht und Forstkollegium hin und her, an jeden Busch, neben jede Säge – machte die Wüste seines Gesichts immer dürrer und arabischer, je mehrere Erben ankamen, die größten Baumschänder, die er sich denken konnte – sah seufzend zu jedem Gipfel auf, der stürzen wollte – und trieb nichts durch als forstgerecht den Weg, auf welchem der fallende Baum das Buschholz schonen mußte.

Walt schaute erbärmlich herüber; so leicht er sonst sein schwarzes Schicksal wie sein weißes nur zu dichterischer Farbengebung verrieb, gleichsam zu Kohle und zu Kreide: so konnt' er sich doch den Holzschlag des Schlagholzes zu keinem dichterischen Baumschlag ausmalen, weil ihn der Vater peinigte. Er wartete aber fest dessen Weggang ab; dann fragte er nach der glühendsten Abendröte vor seinen Augen nichts, sondern er ließ in sich abstimmen, welches Erbamt, das seinen Vater freudig lasse, er jetzt zu wählen habe.

Nun fehlte es ihm aus Mangel des Flötenspielers an einer Stimmensammlung und an irgendeiner, auch nur kleinsten Minorität, weil die Majorität selber (er) nur 1 Mann stark war, welches, wenn nicht die kleinste – denn oft ist gar kein Mann beim Stimmen –, doch keine beträchtliche ist.

Endlich wählte er das kürzeste Amt, nämlich das siebentägige Leben bei einem Erben. Die Stelle darüber heißet im Corpus juris des Testaments claus. 6. Litt. g. so: »er (Walt) soll bei jedem der Herren Akzessit-Erben eine Woche lang wohnen (der Erbe müßt' es sich denn verbitten) und alle Wünsche des zeitigen Mietsherrn, die sich mit der Ehre vertragen, gut erfüllen.« Ein so kurzes Amt hoffte er ohne große Fehltritte und Fehlsprünge und mit einiger Ehre und in kurzem, noch eh' der Bruder erschiene, zu beendigen. Nach der Wahl des Amts mußt' er wieder die neue desjenigen Erben anstellen, welchem die erste Ehre davon zuzuwenden sei. Er erlas sich zum wöchentlichen Wohnen den, bei welchem er bisher gewohnt, Herrn Neupeter. »Auch begehrts die Zärte«, sagt' er.


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