Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Im allgemeinen hat der Geschichtsschreiber Athens und Griechenlands während der Türkenherrschaft eine so schwierige wie unerfreuliche Aufgabe zu lösen.Ich nenne außer Surmelis vor allem Konstantin Sathas (Τουρκοκρατουμένη ‛Ελλάς 1453–1821), Athen 1869; und den Schotten Finlay. Eben erst hat Demetrios Kampuroglu eine Geschichte der Athener unter der Türkenherrschaft zu veröffentlichen begonnen, welche viel Neues zu bringen verspricht. Er sieht vor sich eine Wüste, in welcher er nach Gestalten und Zeichen des Lebens späht, an denen sein Auge noch hoffnungsvoll haften kann. Sein Ziel ist immer auf die endliche Befreiung des edlen Landes gerichtet, und er lauscht auf jedes Lied eines Klephten und Palikaren, um sich zu überzeugen, daß sich noch die Muse von Hellas in ihrem Sarkophage regt und der Freiheitsgedanke noch das Herz des entwürdigten Griechen klopfen macht. Die Stadt Athen selbst gleicht einer in die Barbarei verkauften Sklavin, die verschwunden oder verschollen ist. Aus ihrer lethargisch gewordenen Versunkenheit, aus der abstumpfenden Gewöhnung an Elend und Niedrigkeit wurde sie bisweilen durch Kriegslärm in den Meeren Griechenlands aufgerüttelt, und so hoffnungslos war ihr Zustand, daß sie von der Annäherung der Feinde ihres Zwingherrn eher Verschlimmerung ihres Loses als Errettung erwartete.

Den Kampf mit den Türken haben wesentlich zunächst Ungarn, Polen und Österreich auf der Landseite und Venedig auf dem Meere übernehmen müssen. Die glanzvolle Republik stieg in dem Augenblicke abwärts, wo der Sultan in Byzanz einzog, und zu ihrem Sinken vereinigten sich bald andere Weltverhältnisse. Ihre Größe war wesentlich durch Griechenland, die Kolonien und den Handel im Ostmeer bedingt. Die Quellen ihres Reichtums und ihrer Macht strömten dort. In ihrem Niedergange hat sie vielleicht heroischer geglänzt als in ihrem Aufsteigen seit dem 13. Jahrhundert. Die Türken hat sie doch von der Adria abgewehrt und die Propyläen der Levante, die ionischen Inseln, zu verteidigen vermocht. Der Löwe von San Marco schützte drei Jahrhunderte lang Europa vor dem Einbruch der asiatischen Barbarei.

Die Venezianer erhoben sich wiederholt zum Kampfe gegen den Sultan. Sie drangen sogar im Juli 1464 unter ihrem Generalkapitän Vettore Capello in Athen ein, welches sie ehedem, zur Zeit der Acciajoli, regiert hatten. Leider schändeten damals ihre Söldner die Ehre des venezianischen Namens durch die rücksichtslose Mißhandlung der Stadt, die sie überfielen, plünderten und schnell verließen, ohne einen Versuch gegen die wohlbefestigte Akropolis zu wagen. In demselben Jahre wurde auch Sparta von den Venezianern für einige Tage besetzt. Ihr Condottiere Sismondo Malatesta ließ die Reste Plethons, welcher dort um 1450 gestorben war, nach Rimini hinüberbringen und in dem berühmten Dom bestatten.Spandugino, Comment. dell' orig. dei principi Turchi, Flor. 1551, p. 50.

Die griechischen Kolonien Venedigs wie Genuas gerieten eine nach der andern in die türkische Gewalt. Die Insel Euböa fiel nach heroischer Gegenwehr der Venezianer; am 12. Juli 1470 zog Mehmed II. in den rauchenden Trümmerhaufen Negroponte ein. So verlor Venedig sein lange gehütetes Besitztum im ägäischen Meer. Dreißig Jahre später eroberten die Türken auch die moreotischen Kolonien Modon und Koron, dann Ägina, im Jahre 1522 das den Johannitern gehörende Rhodos, 1540 Napoli di Romania und Monembasia.

Das osmanische Reich erlangte unter Suleiman I. (1519–1560), einem Herrscher, welcher an Genie und Kraft keinem andern im großen Zeitalter Karls V. nachstand, seine höchste Machtentfaltung; es umfaßte den Südosten Europas, die schönsten Länder Vorderasiens, den Norden Afrikas vom Roten Meer bis nach Algier. Es dehnte sich auch jenseits der Donau aus. Da der Sultan die Hälfte Ungarns an sich riß und bereits Wien bedrohte, wurde der Schauplatz des Kampfs zwischen Asien und Europa von der Balkanhalbinsel in das mittlere Donaugebiet verlegt. Gerade in dieser Zeit beschäftigten die wichtigsten Aufgaben und innere Krisen das Abendland. Die Renaissance der Bildung, die Reformation der veralteten Kirche, die Entstehung der Monarchie Karls V., eines neuen Weltreichs, welches zur rechten Stunde dem osmanischen sich entgegenstellte, die Kämpfe zwischen Spanien-Österreich und Frankreich um die Hegemonie in Europa, alle diese Vorgänge zogen die Teilnahme des Westens von den Schicksalen Griechenlands ab.

Nachdem die Fahne des Propheten auf der Hagia Sophia Konstantinopels und dem Parthenon Athens aufgepflanzt worden war, erhob sich das Kreuz der Christen auf der Alhambra Granadas. Die Verluste Europas im Osten an die Mohammedaner wurden durch die Vernichtung der Maurenherrschaft in Spanien wenn nicht ersetzt, so doch gemindert. Die Entdeckung und Kolonisierung Amerikas eröffnete der Menschheit unermeßliche Perspektiven in eine neue Welt und Zukunft jenseits des Ozeans, während die Auffindung des Seewegs nach Indien den alten Handelsstraßen des Mittelmeers zum Orient ihre ausschließliche Bedeutung nahm: eine Ursache mehr zum Sinken Venedigs, aber auch zu dem des osmanischen Reichs. In der gesamten Geschichte der Erde ist kein Punkt sichtbar, auf welchem sich, wie damals, tatsächlich so viele und so große Lebensströme vereinigt hätten, um die Völker mit neuem Geist zu erfüllen, sie aus den engen Schranken der dynastischen Interessenpolitik und des banalen Pfahlbürgertums zum Bewußtsein des Weltganzen zu erheben. Das veraltete System der Griechen vom Stillstande des Erdkörpers hatte Kopernikus zerstört.

Man durfte im 15. Jahrhundert Europa anklagen, daß es in mattherziger Ohnmacht, nur von den kleinlichsten Trieben der Politik beherrscht, nicht die Stunde wahrnahm, um sich zum gemeinsamen Kampf gegen den Koloß des Türkenreichs zu erheben, sondern Griechenland ruhig preisgab, aber im 16. war es begreiflich, wenn das Abendland sich mit der vollendeten Tatsache abfand, Hellas als verloren betrachtete und so gut wie vergaß. Athen verschwand aus dem Gesichtskreise Europas. Schon im Jahre 1493 begnügte sich ein deutscher Humanist in seiner Chronik zu verzeichnen: »Die Stadt Athen war die herrlichste im Gebiet Attika; von ihr sind noch einige wenige Spuren übrig.«»Athene civitas fuit praeclarissima in attica regione. Cujus pauca vestigia quedam manent.« Hartmann Schedel hat das und anderes der Europa des Äneas Sylvius entnommen. Wir sahen bereits, daß Schedel Athen in dem Bilde einer deutschen Stadt darstellte.

Laborde hat die vereinzelten Kunden des Abendlandes von dem Schicksal Athens im 16. Jahrhundert zusammengesucht und gezeigt, wie dürftig sie gewesen sind. Jehan de Vega, der auf einer französischen Flotte im Jahre 1537 nach der Levante kam, bemerkte in seinem Reisebericht, daß er in Porto Leone, dem Hafen Athens, einen großen Löwen von Stein gesehen habe; die Stadt aber betrat er nicht. Am Kap Sunion ließ er sich von dem Piloten erzählen, daß über den Säulen des Tempels dort ein Gebäude stand, worin Aristoteles Philosophie gelehrt habe, wie es auch in Athen noch Säulen gebe, auf denen das Rathaus des Areopags erbaut gewesen sei. Wilhelm Postel, welcher zwischen 1537 und 1549 Griechenland, Konstantinopel und Kleinasien bereiste und ein gelehrtes Werk über die Republik der Athener schrieb, scheint es nicht der Mühe für wert gehalten zu haben, Athen zu sehen. Der Franzose Andrée Thevet, der Verfasser einer Kosmographie der Levante, behauptete, im Jahre 1550 dort gewesen zu sein, aber sein Bericht von Athen enthält nichts mehr als diese Lächerlichkeiten: Im Hause eines Renegaten habe er eine schöne Statue von Marmor, sonst nichts Merkwürdiges in der Stadt gesehen. »Es ist freilich wahr, daß es dort einige Säulen und Obelisken gibt, doch fallen sie alle in Trümmer; so gibt es auch einige Spuren von Kollegien, wo, nach dem allgemeinen Glauben der Einwohner, Plato Vorlesungen gehalten hat. Sie haben die Form des römischen Kolosseums. Jetzt ist diese vormals so berühmte Stadt von Türken, Griechen und Juden bewohnt, die wenig Achtung für solche merkwürdigen Altertümer haben.«Laborde I, p. 49ff. Die Juden in Athen hat sich Thevet erfunden.

Die lange und heroische Verteidigung Famagustas, ihr und Zyperns grausiger Fall, dann der am 7. Oktober desselben Jahres 1571 bei Lepanto gewonnene große Seesieg der vereinigten Mächte Spanien, Österreich und Rom unter Don Juan d'Austria wendeten aber doch die Aufmerksamkeit des Abendlandes wieder dem eigentlichen Hellas zu. Athen selbst wurde mit dem gebildeten Europa durch den von der Renaissance gesponnenen Faden der klassischen Wissenschaft verknüpft. Das gelehrte Bedürfnis, eine bestimmte Kenntnis von dem Schicksal der ruhmvollen Stadt zu erlangen, machte sich in der Frage geltend, ob dieselbe überhaupt noch fortbestehe. Ein deutscher Philhellene, Martin Kraus, Professor der klassischen Literatur in Tübingen, hat diese Frage gestellt. Sie machte ihn unsterblich, wie die Auffindung der Laokoongruppe einem namenlosen Römer den Nachruhm gesichert hat. Martin Crusius entdeckte gleichsam Athen wieder.

Im Jahre 1573 wandte er sich mit einem Briefe an Theodosios Zygomalas, den Kanzler des Patriarchen in Konstantinopel, um von ihm zu erfahren, ob es wahr sei, was die deutschen Geschichtsschreiber behaupteten, daß die Mutter aller Wissenschaft nicht mehr bestehe, daß sie bis auf einige Fischerhütten vom Erdboden verschwunden sei. Die Antwort des gebildeten Byzantiners und ein späterer Brief des Akarnanen Symeon Kabasylas, eines Geistlichen an demselben Patriarchat, brachten dem deutschen Gelehrten die erste sichere Kunde von der Fortdauer der Stadt, und sie warfen zuerst wieder einen leisen Lichtschein auf den Zustand ihrer Monumente und ihres fortvegetierenden Volks.Crusius veröffentlichte die Briefe in seiner berühmten ›Turcograecia‹, Lib. VII, p. 10, 18.

So hatte es gerade mitten in der hellsten Aufklärung und der genialsten Kunstproduktion Europas eine Zeit gegeben, wo das Fortleben der Stadt Athen tatsächlich unbekannter und zweifelhafter war als während jener Epoche ihrer byzantinischen Geschichtslosigkeit, die einen deutschen Gelehrten noch im Jahre 1835 zu der Ansicht verleiten konnte, daß sie nach Justinian vier Jahrhunderte lang eine unbewohnte Waldwildnis gewesen sei. Es war zunächst die Wissenschaft, welche Athen für das Bewußtsein des gebildeten Abendlandes wiedereroberte, und diese Eroberung wurde noch im 16. Jahrhundert durch die Türkenkriege und die Unsicherheit des Reisens nach dem verschlossenen Attika sehr erschwert.

Im Verhältnis zur Erforschung der Stadt Rom verspätete sich die Altertumskunde Athens um ein paar Jahrhunderte. Denn der erste große Fortschritt von den Mirabilien Roms im Mittelalter zur wirklichen Stadtbeschreibung wurde schon im 15. Jahrhundert durch Blondus Flavius gemacht, worauf sich im folgenden die römische Altertumswissenschaft mächtig entwickelte. Von den Athenern selbst konnte keine Tätigkeit dieser Art in bezug auf ihre Stadt erwartet werden. Die Griechen in Kreta und Korfu, jene andern gelehrten Hellenisten, die sich um Aldus Manutius in Venedig sammelten, die an den griechischen Gymnasien Mantuas, Paduas, Roms, in Paris, Genf, Heidelberg und anderswo tätig waren, widmeten ihre Kräfte der philologischen Kritik.

Seit dem Beginne des 17. Jahrhunderts legte der Holländer Jean de Meurs durch seine zahlreichen Studien von ehernem Fleiß und staunenswerter Belesenheit den Grund zur athenischen Altertumskunde. Dieser Sammlung in zwölf Folianten gehört auch eine Schrift an, welche die Geschichte Athens bis zum Falle unter die Türken übersichtlich darstellt.»Fortuna Attica, sive de Athenar. origine, incremento, magnitudine, potentia, gloria, vario statu, decremento et occasu liber singularis, Lugd. Batav. 1622.

Wie gering im Abendlande selbst damals die Kenntnis vom Zustande der Stadt war, zeigt das lateinische Werk des Rostockers Lauremberg: ›Genaue und sorgsame Beschreibung des alten und neuen Griechenlands.‹ Hier wiederholte der Verfasser noch die alte Fabel, indem er behauptete: Von Athen, welches die Wohnung der Musen genannt wurde, ist heute nichts mehr übrig als geringe elende Hütten und Weiler, und es wird jetzt Setine genannt.Description exacte et curieuse de l'ancienne et nouvelle Grèce composée en Latin par J. Lauremberg et traduite en Français, Amsterd. 1677, p. 99. Gleichwohl kannte Lauremberg die ›Turcograecia‹ des Crusius, denn in seiner geschichtlichen Übersicht Attikas bezog er sich auf den Brief des Kabasylas. Auf seiner attischen Karte hat er Athen in Miniatur als eine kreisrunde Stadt bezeichnet, in deren Mitte sich ein hoher kegelförmiger Berg erhebt, mit zwei gotisch zugespitzten Türmen gekrönt.


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