Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Der nationalen Partei stand in Athen eine fränkische gegenüber, diejenige der Anhänger des Hauses Acciajoli. Zu ihr gehörten nicht nur die Italiener, Hofleute, Beamte und Kapitäne des verstorbenen Herzogs, sondern auch manche eingeborene Griechen, die dem Hause des Chalkokondylas feindlich gesinnt waren.Chalkokond. VI, p. 321, nennt diese Gegenpartei die Vorsteher des Demos. Sie erhoben sich, sobald derselbe an den Hof des Sultans gegangen war. Mit List entfernten sie die Herzogin aus dem Palast der Akropolis; wie es scheint, täuschten sie dieselbe durch das Versprechen, ihren Adoptivsohn Acciajoli mit einer ihrer Verwandten zu vermählen. Dann aber verjagten sie das Geschlecht der Chalkokondylas aus der Stadt, besetzten die Burg und riefen Nerio II. zum Herrn Athens aus.So verstehe ich die dunkle Stelle bei Chalkokondylas. Die Gemahlin Nerios II. war Chiara Giorgio, eine Tochter des Markgrafen Niccolo II. von Bodonitsa; ihre Schwester Maria heiratete Nerios Bruder Antonio (Hopf II, S. 91).

Durch seine Erhebung und das schnelle Erscheinen einer türkischen Truppenmacht unter Turahan in Böotien wurden die Absichten eines dritten Prätendenten auf Athen vereitelt. Nichts war natürlicher, als daß der Palaiologe Konstantin, der Despot von Sparta, die Gelegenheit wahrzunehmen suchte, um Hellas endlich mit dem griechisch gewordenen Peloponnes wieder zu vereinigen. Noch ehe der Herzog Antonio gestorben war, hatte er seinen vertrauten Rat Phrantzes, den späteren Geschichtsschreiber, nach Athen geschickt, um Maria Melissena einen Vergleich anzubieten; sie sollte ihm Athen und Theben abtreten und dafür Ländereien in Lakonien, in der Nähe ihrer väterlichen Erbgüter, erhalten.Phrantzes II, c. X, p. 158ff. Ihre Mitgift umfaßte dort Astron, Hagios Petros, Hagios Joannes, Platamona, Meligon, Prosastion, Leonidas, Kyparissia, Rheontas und Sitanas. Phrantzes erzählt, daß er auf das ausdrückliche Ersuchen der Herzogin diese Unterhandlungen mit ihr fortsetzte, und es ist wahrscheinlich, daß Maria in ihrer ersten Ratlosigkeit nach dem Tode des Gemahls die Vorschläge des Despoten annehmbar fand. Der Abgesandte Konstantins machte sich, von einer Truppenschar begleitet, zum zweiten Male auf, um mit der besiegelten Vertragsurkunde in der Hand Athen und Theben in Empfang zu nehmen. Jedoch nicht allein hatte sich Nerio II. bereits der Gewalt bemächtigt, sondern Phrantzes vernahm auch, daß Turahan in Böotien eingerückt sei und Theben belagere, welches sich ihm nach einigen Tagen ergab. Er kehrte deshalb am Isthmos um und zu seinem Fürsten nach Stylari zurück, welcher gerade venezianische Handelsschiffe erwartete, um mit ihnen nach Konstantinopel zu segeln.Phrantzes, a.a.O. Von Negroponte schickte jetzt Konstantin seinen Vertrauten nach Theben zu Turahan, um wegen Athens mit ihm zu unterhandeln, doch richtete derselbe nichts aus, sondern er kehrte nach Euböa und von dort nach Konstantinopel zurück.

Der türkische Sultan hätte schon damals ohne große Anstrengung dem Frankenstaat in Athen ein Ende machen können; aber er hielt es für besser, das Gesuch des jungen Nerio zu genehmigen, indem er ihm die Regierung über Attika und Böotien als seinem tributbaren Vasallen verlieh. Hierauf zog Turahan aus Böotien ab.

Der neue Herzog von Athen war nach dem Zeugnis des Chalkokondylas ein kraftloser und weichlicher Mann und deshalb unfähig, unter so schwierigen Verhältnissen seinen Staat zu regieren. Derselbe Geschichtsschreiber erzählt, daß Nerio II. von seinem eigenen Bruder Antonio vertrieben wurde, nach Florenz ging und erst nach dessen Tode wieder nach Athen zurückkehrte.Lib. VI, p. 322. Die ›Origine della famil. Acciajoli‹, p. 177, sagt nur von Antonio: »sotto inganni gli tolse lo stato«, und schweigt von Florenz. Ein Epigramm des Florentiners Jakobus Gaddi, freilich aus dem 17. Jh. (Corollar. poetica p. 33, in Gaddi, Adlocutiones et Elogia, Flor. 1636), De Nerio II. et Antonio II. Acciaiolis fratribus ducibus Athenarum lautet so:

Nobile par fratrum, Graecos Dux rexit uterque
Non simul, alterno tempore sceptra ferens.
Gesserat haec Nerius, quo pulso Antonius ardens
Rursus at extincto fratre gerit Nerius.
Nimium Pollux et Castor in urbe fuissent,
Si fratrum illis gratia sanctus amor.
Die Zeit seiner Vertreibung kann nicht genau festgestellt werden.Hopf II, S. 113, gibt das Ende des Jahres 1439 an, ohne dies Datum zu beurkunden. Sie fand statt zwischen den Jahren 1437 und 1441. Denn in jenem befand sich Nerio noch in Athen, während er im Februar und März 1441 als Herr von Theben und Athen in Florenz Urkunden erließ.Am 6. Aug. 1437 bestätigte er zu Athen durch ein griech. Diplom dem Georgios Kamachi das diesem vom Herzog Antonio erteilte Frankenrecht (Buchon, N. R. II, LXXI, p. 297). Sodann gibt es zwei lat. Diplome Nerios, Florenz 24. Febr. und 5. März 1441; er ernannte darin Tommaso Pitti zu seinem Prokurator und trat ihm als Schuldner Güter ab. In beiden Urkunden nennt er sich »Magnif. Dom. Nerius, olim Franchi Domini Donati de Acciaiuolis de Florentia Dominus Athenarum er Thebarum«. Der Herzogstitel fehlt. Im Griechischen wird αυθέντης ’Αθηνω̃ν καὶ Θηβω̃ν καὶ τω̃ν εξη̃ς gesagt.

Nerio II. ist der einzige unter den florentinischen Gebietern Athens gewesen, der seine Vaterstadt wiedergesehen hat. Sie war zu jener Zeit von einem großen Ereignis aufgeregt. Der Papst Eugen IV. hatte seine heißen Kämpfe mit dem Basler Konzil siegreich durchgeführt und dieses am 10. Januar 1439 nach Florenz verlegt. Dorthin war ihm der unglückliche griechische Kaiser Johannes VIII. gefolgt, welcher ins Abendland gekommen war, um den Papst und die Fürsten Europas zur Rettung Konstantinopels auf zurufen. Jetzt mußte er aus dem alten trügerischen Spiel seiner Vorgänger mit der Kirchenunion verzweifelten Ernst machen. Am 6. Juni 1439 legten der Kaiser und die ihn begleitenden byzantinischen Bischöfe im Dom zu Florenz das katholische Glaubensbekenntnis ab. Diese Union brachte dem bedrängten Konstantinopel keinen Gewinn, sie beschleunigte vielmehr nur seinen Sturz, wie Phrantzes geurteilt hat.Lib. II, c. 13, p. 178.

Wenn sich Nerio II. damals dort befand – und das ist sehr wahrscheinlich –, so konnte er Zeuge dieser pomphaften Szene sein. Von den beiden Flüchtlingen aus Griechenland war Johannes VIII. der Repräsentant des untergehenden legitimen Reiches Konstantins, und Nerio Acciajoli der Vertreter des Restes jener fränkischen Feudalherrschaften auf dem griechischen Festlande, die aus dem verhängnisvollen lateinischen Kreuzzuge hervorgegangen waren. Die Florentiner Republik erlangte damals von dem ohnmächtigen Kaiser der Romäer ein Privilegium, wodurch sie alle Rechte erhielt, die ehedem Pisa in Konstantinopel und Romanien besessen hatte.Griech. Akt, Florenz Aug. 1439 bei Gius. Müller, Docum. sulle relaz. ... p. 175. Vittore Pisano machte in Florenz die Medaille Johanns VIII. Abgebildet in Hertzberg, Gesch. der Byzantiner und des osmanischen Reiches, Berlin 1883, S. 572.

Da Florenz von Griechen erfüllt war, begegnete der Herzog von Athen hier berühmten Männern dieser Nation, wie Gemistos Plethon, Theodor Gaza, dem gelehrten Bischof Markos von Ephesos, dem nachmals berühmten Bessarion von Nikaia und andern Byzantinern, die im Laufe der Zeit in Italien eine zweite Heimat fanden. Nachdem die Franken Griechenland mißhandelt und ausgebeutet, kirchlich und politisch vernichtet hatten, um dasselbe zuletzt der türkischen Barbarei zu überlassen, war der bleibende Gewinn, den das Abendland aus dieser Gewalttat zog, die Besitznahme der griechischen Literatur als des unvergänglichen Schatzes menschlicher Bildung.

Seit Boccaccio im Jahre 1360 den Kalabresen Leontius Pilatus am Florentiner Studium als ersten griechischen Lehrer angestellt hatte, war dort die Pflege der hellenischen Wissenschaft mit rühmlichem Eifer gefördert worden. Es gab jetzt Florentiner, welche Plato, Aristoteles und Homer in der Ursprache zu lesen imstande waren. Manuel Chrysoloras hatte in Florenz seit 1397 gelehrt und manche Schüler herangebildet, wie Bruni, Nicoli, Manetti, Poggio und Traversari. Die Strozzi und die Medici, vor allem Cosimo, waren Philhellenen; sie unterstützten mit ihren Reichtümern nicht den fallenden byzantinischen Thron, aber das Studium der griechischen Literatur. In den Kreisen dieser Florentiner mußte der flüchtige Herzog von Athen besonders deshalb eine sehr anziehende Figur sein, weil er aus der Stadt des Plato als ein Nachfolger des Theseus hergekommen war. Bald faßt Cosimo den Plan, die platonische Akademie am Arno wieder herzustellen.

Nerio II. traf in Florenz auch die dort heimischen Mitglieder des Hauses Acciajoli, unter andern einen Enkel des Donato, den später berühmt gewordenen Staatsmann Angelo. Die Achtherren der Balia hatten ihn im Jahre 1433 als Anhänger des verbannten Cosimo de' Medici erst gefoltert, dann nach Kephallenia verbannt, von wo er ein Jahr darauf zurückgekehrt war, nachdem Cosimo infolge des Sturzes der Partei des Rinaldo Albizzi im Triumph nach Florenz hatte heimkehren dürfen.›Commentatio della vita di Agnolo Acciajoli‹ von Vesp. Bist. Stor. Ital. IV, 1843, p. 339ff.). Die Acht schickten ihn nach Kephallenia, »per esser terra di suoi parenti quella, et Atene e Tebe e più terre di Grecia, le quali già aveva avute in governo messer Donato«. Der Verbannung Angelos erwähnt Machiavelli, Stor. Fior. IV, c. 30 Ein Bruder dieses Angelo, Donato mit Namen, später Schüler des Argyropulos, wurde ein ausgezeichneter Hellenist und einer der größten Staatsmänner der Florentiner Republik.Geb. 1428, † 1478. ›Vita di Donato Acciajoli‹ von Angiolo Segni, ediert von Tommaso Tonelli, Flor. 1841.

Die Acciajoli gehörten durchaus zum Anhange der Medici. Der Herzog von Athen mußte demnach bei Cosimo die freundlichste Aufnahme finden, und er konnte wahrnehmen, daß dies Bankhaus im Begriffe war, die Gewalt über Florenz zu gewinnen, während die Herrlichkeit der Acciajoli im fernen Griechenland zugrunde ging.

Nerio II. scheint noch im Jahre 1441 nach Athen zurückgekehrt zu sein, nachdem dort sein Bruder gestorben war.Chalkokond., a.a.O. Er ahmte also nicht das Beispiel Ottos de la Roche nach, des Gründers des Frankenstaats Athen, noch dasjenige Champlittes, des Stifters des Fürstentums Achaia, die ihrem hellenischen Dominium den bescheidenen Besitz der heimischen Güter vorgezogen hatten. Kaum ist anderswo so klar gezeigt worden, welchen Zauber das Herrschen auf Menschen ausübt, als im damaligen Griechenland. Denn im unrettbaren Zusammensturz der dortigen Staaten, unter den gezückten Schwertern der Janitscharen, klammerten sich die fränkischen und byzantinischen Dynasten an die letzten Fetzen ihrer Macht. Einander nahestehende Verwandte, selbst Brüder, wie jene des Kaisers Johannes VIII., führten um sie erbitterte Kriege. Sie erinnerten an jenes Wort des griechischen Höflings Heloris, der einst den Tyrannen Dionys bewogen hatte, von der Thronentsagung abzustehen, da doch der Purpur ein schönes Sterbekleid sei.Als Gegensatz dazu hat die Geschichte der Gegenwart die Abdankung Milans zu verzeichnen, des Königs von Serbien, dem in bescheidenen Verhältnissen wiedererstandenen Lande des Dusan.

Als Vasall des Sultans vermochte Nerio II. seine Regierung wenigstens ohne gewaltsame Katastrophe zu beschließen. Er wird uns auf der Akropolis noch im Jahre 1447 sichtbar, neben seinem Gast Cyriacus von Ancona, dem ersten Franken, der die Stadt Athen mit dem Blick des Altertumsforschers betrachtet und, kurz vor dem Aufhören ihrer politischen Verbindung mit Italien und Europa, ihre Ruinenwelt in dauernden Bezug zur Wissenschaft des Abendlandes gesetzt hat. Er verdient deshalb einen Ehrenplatz in der Geschichte Athens.


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