Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Otto de la Roche fand jetzt Muße, sich in seinem attischen Staate einzurichten, dessen Besitznahme ihm sehr leicht geworden war. Während Champlitte und Villehardouin als Helden Morea von Stadt zu Stadt erobern mußten, meldet keine Kunde, daß jener irgendeinen Widerstand von seiten der Griechen zu bezwingen hatte. Obwohl ihn der Tod des Königs Bonifatius nicht von dem Lehnsverbande mit Thessalonike rechtlich frei machte, so minderten doch die Folgen desselben seine Verpflichtungen. Dieser große Markgraf hatte seinen Günstling mit Attika und Böotien beliehen, ohne ihn durch einen der feudalen Hierarchie entnommenen Titel besondern Ranges auszuzeichnen. Sein Lehnsmann konnte sich nur Herr von Theben und Athen nennen, durchaus wie Thomas von Stromoncourt sich Herr oder »dominus« Salonas nannte. Es geschah wegen des weltberühmten Namens Athen, daß Otto de la Roche den Titel von dieser erlauchten Stadt annahm. Als »Sire d'Athènes« oder »dominus Athenarum« wurde er in öffentlichen Akten von den Franken und auch vom Papst bezeichnet.In päpstl. Briefen wird immer gesagt: »dominus Athenarum«, nicht minder auf den ersten Münzen der La Roche. – »Nos Guis de la Roche, Sire d'Athènes«, Urk. von 1259, davon später. Dies einfache Wort Sire oder in ihrer Sprache Kyr scheinen die Griechen zu dem pomphafteren Titel Megaskyr (Großherr) gesteigert zu haben. Doch ist es irrig, denselben dadurch zu erklären, daß die ehemaligen byzantinischen Verwalter Athens ihn geführt hatten, denn das läßt sich nicht erweisen.Buchon, Éclairciss., p. 316, nimmt das willkürlich an. Μέγας κύρ ist kein byzant. Titel. So nennt den fränkischen Herrn Athens die griech. Chronik von Morea (v. 223 u. öfters). Nur »Sire«, nie »Grand Sire« nannten sich die La Roche, ehe sie Herzöge wurden. Du Cange, Hist. de Cp., I, p. 379, irrt, wenn er glaubt, daß sie als Großadmirale (Mega Dux) den Titel »Grand Sire« von den Frankenkaisern erhielten; wäre das der Fall gewesen, so hätten sie ihn sicherlich gebraucht.

Das Reich des Sire Athens war im Verhältnis zu den geographischen Raumverhältnissen jener Zeit keineswegs klein an Umfang. Im Vergleich zum antiken Freistaat der Athener konnte es sogar recht ansehnlich genannt werden, denn dieser hatte selbst auf dem Gipfel seiner Macht unter Perikles zwar ein ausgedehntes Insel- und Kolonialgebiet besessen, aber weniger festes Land. Das fränkische Athen umfaßte die Provinzen Attika und Böotien nebst dem opuntischen Lokris, wo der Hafenort Talanti etwa die Stelle des alten Opus einnahm; ferner gehörte zu ihm Megaris. Dies kleine gebirgige Land, welches an Böotien und Attika grenzt, war von nicht geringer Wichtigkeit, sowohl als Schlüssel zum Isthmos als wegen seiner Küsten an beiden Meeren, dem korinthischen und saronischen. Die alte Stadt Megara hatte niemals ihre Lage und ihren Namen verändert. Freilich mußte sie tief herabgekommen und ihr im Altertum stark befestigter Hafen Nisäa längst verfallen sein. Einst hatten diesen die Athener mit Megara durch lange Mauern verbunden, wie sie ihre eigene Stadt mit dem Piräus so in Verbindung setzten.Leake, Travels in Northern Greece, II, Megaris.

Im Südwesten gebot über die Marken diesseits und jenseits der korinthischen Landenge noch der griechische Tyrann Leon Sguros, so daß hier die Verbindung des fränkischen Hellas mit dem Peloponnes unterbrochen war. Ein anderer feindlicher, viel mächtigerer Griechenstaat bedrohte die Westgrenze; dies war das Despotat Epiros, welches von Epidamnos oder Durazzo bis Naupaktos reichte, sich über Ätolien gegen Phokis und Lokris vorschob und sich nördlich zum Öta, zum Flusse Sperchios und dem Golf von Volo auszubreiten suchte. Nach jener Seite hin schützten jedoch die Grenzen des Megaskyr als Bollwerke zwei Lehnsherrschaften befreundeter Waffenbrüder, Bodonitsa und Salona. Das Haus der Stromoncourt in Salona behauptete sich tapfer gegen die Angriffe von Epiros her, obwohl schon der erste dortige fränkische Gebieter Thomas im Kampf mit dem Despoten Michael gefallen war.Nach Überlieferungen in der Chronik von Galaxidi, ed. Sathas, p. 201.

Einige größere Häfen, Livadostro (der Portus Hostae der Franken), der Piräus Athens, Megara und Talanti, vermittelten den Verkehr mit Europa und der Levante. Die fruchtbare Insel Euböa war an die Lombarden gefallen, welche alsbald die Oberhoheit der Republik Venedig anerkannten, aber diese konnte nach dem Wortlaut der Teilungsurkunde die Athen benachbarten klassischen Eilande Ägina und Salamis beanspruchen.»Egina et Culuris: Partitio R. G., pars secunda domini ducis et communis Venetiarum.« Allein wie die Venezianer nicht Kräfte genug hatten, weder Euböa noch Korfu, noch die ihnen zugewiesenen Teile des Peloponnes tatsächlich in Besitz zu nehmen, so meldet auch keine Kunde, daß sie jene beiden Inseln besetzten. Da dieselben später wirklich zum Herzogtum Athen gehörten, so darf man annehmen, daß sie diesem von Venedig überlassen wurden.Es fehlt an einer Karte des Herzogtums Athen, da die von Spruner-Menke (Handatlas für die Gesch. des Mittelalt., 3. Aufl. 1880, n. 86) nicht ausreicht.

Es war für einen über Nacht zum Gebieter Attikas gewordenen Fremdling keine leichte Aufgabe, ein ihm völlig unbekanntes Volk zu regieren, dessen Sprache er nicht einmal verstand und dessen jahrhundertealte Einrichtungen er gewaltsam umstürzte. Die merkwürdige Geschichte der Verfassungen des Freistaates Athen sollte jetzt durch eine neue vermehrt werden und zu Solon, Kleisthenes, Aristides, Perikles und Thrasybulos sich ein unwissender Ritter aus Burgund als Gesetzgeber gesellen. Dies Unternehmen war, so scheint es, schwieriger als das Werk eines jeden jener alten Staatsmänner hatte sein können.

Selbst das Genie Solons würde durch das Problem in Verlegenheit gebracht worden sein, zwei einander so widersprechende Elemente zu einem politischen Ganzen zu verbinden, als es die griechische Nation und die französische Ritterschaft waren. Denn in diese beiden Gegensätze zerfiel fortan das eroberte Land. Die herrschende Klasse der Lateiner war allein im Besitze des Frankenrechts, welches die persönliche Freiheit und alle juridischen und staatlichen Rechte in sich schloß; die andere der beherrschten Griechen war zur rechtlichen und staatlichen Unfreiheit herabgesetzt. Der burgundische Gesetzgeber hatte wenigstens diesen Vorteil vor seinen antiken Vorgängern voraus, daß er keinen Widerspruch des Demos und der Demagogen Athens zu fürchten brauchte. Das Volk der Griechen kam bei der Aufrichtung des Frankenstaats erst in zweiter Linie in Betracht; denn die Hauptsache war, diesen selbst zu erschaffen. Für dies rohe Kunstwerk aber war glücklicherweise so etwas wie ein Modell bereit, denn Otto de la Roche konnte zunächst das militärische Lehnsystem aus Burgund, der Champagne oder jeder beliebigen Grafschaft Frankreichs auf das attische Land übertragen und hier eine Timokratie, einen aristokratischen Feudalstaat aufrichten, dem sich die unterjochten Griechen einzufügen hatten. Das Gerüst desselben konnte schnell aufgezimmert werden, sobald nur erst der Megaskyr den Grund und Boden des Landes unter seine Waffengefährten verteilt und diese zum Kriegsdienst und zur Vasallentreue verpflichtet hatte.

Analogien boten die Kreuzfahrerstaaten in Syrien und Zypern dar. Auf dieser gesegneten Insel hatte wenige Jahre vor der Eroberung Athens der erste fränkische König Guy von Lusignan dreihundert Baronien für Ritter mit Goldsporen und zweihundert kleinere Kriegslehen gestiftet. Solche Ansprüche konnten die Paladine des La Roche schwerlich erheben, selbst wenn Attika, Böotien und Megara dafür ausgereicht hätten. Wir kennen nicht die sicherlich geringe Zahl der Krieger, die den Fahnen des ersten Megaskyr folgten, noch die Namen seiner ritterlichen Gefährten und solcher Edlen, die er zur Übersiedlung aus Burgund einladen mochte; überhaupt werden angesehene Barone in seinem Gefolge nicht genannt. Nur ist es wahrscheinlich, daß ihn schon damals die Falkenberg von St. Omer begleiteten, die bald darauf in Theben sichtbar wurden. Schon der erste La Roche hat ohne Zweifel ein Verzeichnis aller fiskalischen und privaten Güter seines Staates anfertigen lassen, wie das die Normannen Englands im Doomsdaybook getan hatten und die Eroberer Achaias es taten.In der griech. Chronik von Morea wird mehrmals von solchem Lehnsregister (ριτζίστρο) gesprochen: v. 637, 641, 749, 6337. Die athenische Lehnsmatrikel hat sich leider nicht erhalten.

Ein so vielgestaltiges Feudalsystem, wie es sich im fränkischen Peloponnes ausbreitete, konnte in den Gebieten des Megaskyr nicht Platz haben. Denn Morea war ein großes, durch seine Natur für das Lehnswesen besonders geeignetes Land. Mächtige Baronien mit ihren Ritterlehen bildeten sich dort. Noch heute geben die Ruinen der Schlösser (Paläokastra von den Griechen genannt) in Kalavryta, Akova, Karitena, Geraki, Veligosti, Passava, Chalandritza und andere von der reichen Geschichte des Frankenadels in Morea Kunde. In Attika finden sich Trümmer dieser Art, außer fränkischen Warttürmen an den Küsten, keine namhaften, in Böotien derer mehr, aber im Verhältnis zu Morea wenige vor. In diesen Landschaften entstanden nicht Baronien wie Matagrifon (Akova), welches 24, und Karitena, welches 22 Ritterlehen aufweisen konnte. Eine Zuteilung des Landes an Erbherren oder Barone, welche dann wieder Ritter- und Sergeantenlehen vergaben, ist sicherlich auch im athenischen Staate geschehen, denn die gesamte politische Verfassung wie die Rechtspflege und endlich die Wehrkraft des Landes beruhten in jedem großen oder kleinen Frankenstaat auf dem Lehnsverbande und den nach dem Maße des Grundbesitzes sich richtenden militärischen Leistungen.

Indem sich der Megaskyr durch das Recht der Eroberung als Eigentümer des Landes betrachtete, behielt er für sich als Domänen Theben und Athen und alle ehemals dem kaiserlichen Fiskus zustehenden Güter, dann gab er der Kirche und seinen Dienstmannen Ortschaften zu Lehen. Keine Kunden berichten, in welcher Weise diese Verteilung ausgeführt wurde. Wenn in einigen Fällen griechischen Grundherren gewaltsam und unter verschiedenen Vorwänden ihr Eigentum ganz oder teilweise genommen wurde, so vollzog sich doch die Invasion der Franken ohne Kampf. Dies mußte im ganzen ein friedliches Abkommen mit den Eingeborenen zur Folge haben. Auch war die Anzahl der eingedrungenen Ritter und Sergeanten so gering, daß zunächst viele Landgüter den Hellenen verbleiben mußten.

Die Umwälzung der Besitzverhältnisse war im allgemeinen fühlbarer für die griechischen Eigentümer von Latifundien, die Magnaten und die Kirche, als sie es für die Stadtgemeinden und vor allem für die Landbevölkerung sein konnte. Diese befand sich zur Zeit der fränkischen Einwanderung überall in Griechenland, durchaus wie in den Feudalstaaten Europas im Zustande der Unfreiheit. Sie war unter der byzantinischen Regierung in zwei Klassen geschieden gewesen, die Freibauern (χωρίται) mit Eigentumsrecht und die Kolonen (παροίκοι) ohne solches. Die Verwaltung des Reichs hatte sich zu verschiedenen Zeiten bemüht, den freien Bauernstand in seinem Landbesitz zu erhalten, da er die Steuerlast trug. Im 9. und 10. Jahrhundert hatten die Kaiser Theophilos und Basileios I. und besonders im Jahre 922 Konstantin Porphyrogennetos und Romanos Lakapenos, sodann auch Nikephoros Phokas, Johannes Tzimiskes und Basileios II. durch Gesetze dem Verfalle dieses Standes Einhalt zu tun gesucht. Allein dies gelang nicht, weil die weltlichen und geistlichen Großen entweder die Wirkung solcher Edikte verhinderten oder deren Aufhebung durch andere, ihnen verpflichtete Kaiser durchzusetzen wußten. Die Mächtigen, das heißt der Geschlechter- und Beamtenadel, die Bischöfe und Äbte, zwangen die Bauern durch Wucher, List und Gewalt, durch trügerische Kauf- und Erbschaftsverträge, ihnen ihre Güter abzutreten. Sie eigneten sich sogar die Soldatenlehen an, welche die byzantinische Regierung in manchen Provinzen eingerichtet hatte, um deren Inhaber zum Kriegsdienst auf der Flotte oder zu Roß im Landheer zu verpflichten.Edikte der Kaiser zum Schutz der Bauerngüter und Soldatenlehen: Leunclavius, Jus graeco-roman. II, p. 139ff. – Zach. v. Lingenthal, Jus graeco-roman. II, p. 234ff. – Gfrörer, Byzant. Geschichten III, c. 1. Die übermächtig gewordene Aristokratie der großen Grundherren hatte noch zuletzt Andronikos I. auszurotten versucht, doch hinderte sein Sturz die Ausführung seiner Reformen. Die Latifundien verschlangen den Freibauer. Die Privatgüter waren in den Besitz der zahllosen Kirchen, der steuerfreien Hof- und Provinzialbeamten und der Staatsdomänen gekommen. Zur Zeit der Frankeninvasion mußte das ländliche Gut der Einzelbauern wie der ehemals mit unveräußerlichem Gesamtbesitz ausgestatteten dörflichen Gemeinheiten in Griechenland stark zusammengeschwunden, der Freibauer meist zum Zustande des an die Scholle seines Herrn gebundenen Kolonen herabgekommen sein. Man unterschied zuletzt im byzantinischen Reich nur noch zwei mit gleichem politischen Recht begabte Klassen der Bevölkerung, die Reichen (δυνατοί) und die Armen (πένητες). Diese Peneten aber waren ein Rest der Freibürger und Freibauern, scheinbar noch frei, in Wirklichkeit schon Sklaven des Staats oder ihrer Patrone, und nur ein letzter Schritt trennte sie von dem Stande des Kolonen oder Periöken, der für seinen Herrn fronte.Über diese Verhältnisse: Montreuil, Histoire du Droit byzantin III. J. Rambaud, L'Empire grec au X siècle. Zach. v. Lingenthal, Gesch. des griech.-röm. Privatrechts, Leipzig 1864. Der Begriff πάροικοι ging in das fränk. Recht über, wo die Kolonen »vilani de angaria oder rustici und parigi« hießen. »Aggiunte alle assise di Romania« in Hopf, Chron. Gréco-Romanes, p. 222.

Der Mangel des freien Bauernstandes, verbunden mit der Knechtung der städtischen Kurien, hatte das weströmische Reich den Germanen preisgegeben, und dieselben Übel bewirkten, daß auch Ostrom erst gegen den Einbruch der Slaven, dann der Franken wehrlos wurde. Die um ihre rechtliche Freiheit gebrachte, vom Fiskus und den Archonten ausgezogene Bevölkerung setzte den fränkischen Eroberern kaum einen Widerstand entgegen; sie betrachtete dieselben vielmehr als ihre Befreier vom Joch des Steuereinnehmers, des Adels und der Kirchen. Im Grunde aber war es ihr gleichgültig, welchem Herrn sie diente. Sie wechselte nur den Gebieter. Sie fuhr fort, dieselben Steuern und Dienste dem Frankenfürsten und den neuen Grundherren zu entrichten, welche sie ehedem der kaiserlichen Regierung und den Archonten gezahlt hatte.Griech. Chron. von Morea, ed. Buchon, p. 92ff.: »Et que le peuple payaissent et servicent ainsi come il estaient usé à la signorie de l'empereur de Csple.« Livre de la Conq., p. 39. Was von Morea gilt, gilt auch von Hellas. Sie gewann sogar dabei, denn die Abgaben flossen nicht mehr in die Kasse des fernen Byzanz, sondern in die des Landesherrn. Die Periöken verwandelten sich ohne weiteres in »villani« und »rustici« der fränkischen Eigentümer; sie wurden das versklavte lebende Inventar der Domänen, der Lehnsvasallen und der lateinischen Kirche.Innozenz III. schrieb dem Erzbischof von Patras, er solle dem Konvent der regulierten Kleriker dort zuteilen »villanos et rusticos, qui sine mercede vel expensis eorum in domo sua labores exerceant universos«. (Lib. XIII, ep. 159, vol. II, Baluze.)

Die erbarmungslose Maxime des Feudalrechts »nulle terre sans seigneur« kam allmählich in dem eroberten Lande zur Durchführung, so daß auch die letzten Reste des Freibauerngutes, wie ehemals in Syrien und dann in Zypern, verschwanden.

Das Los der Unterjochung traf überall in Griechenland auch die Stadtgemeinden, aber diese doch schonender, wo es deren ansehnliche gab. Denn schon die Klugheit gebot den Eroberern, diesen keine unerträglichen Lasten aufzulegen, sondern ihr Eigentum und ihre hergebrachte Verfassung zu achten. Als der Kaiser Balduin die ihm zugeteilten Länder in Besitz nahm, ließ er die dort herrschenden Gesetze bestehen, und große Städte wie Thessalonike ergaben sich den Franken ausdrücklich auf die Gewähr des Fortbestandes ihrer Rechte und Gebräuche. Champlitte und Villehardouin gewannen Morea durch die gleiche Achtung der einheimischen Gesetze und des Eigentums.Dies ist mehrmals in der Chronik von Morea bemerkt. Man darf daher annehmen, daß ähnliche Verträge oder Zusicherungen in Böotien und Attika gemacht waren, allein es gab dort, Theben und Athen ausgenommen, keine so bedeutenden Ortschaften wie in Thrakien und Makedonien, in Thessalien und im Peloponnes. In Böotien lagen Orchomenos, Koronea, Leuktra, Thespiä, Platää, Tanagra in Ruinen, oder sie waren zu elenden Flecken herabgesunken. Nur Lebadea gewann später als wichtige fränkische Festung wieder Bedeutung.

In Attika war Athen seit alten Zeiten die einzige wirkliche Stadt, während alle andern Orte, die ehemaligen ländlichen Demen, verschwunden waren oder sich wie Eleusis nur als kleine Dörfer erhalten hatten. Indes auch dort mußte die Eroberer sowohl ihre eigene geringe Anzahl als die Unkenntnis der Verhältnisse und der Sprache des Landes bei dessen unbestrittener Besitznahme dazu nötigen, den Ortsgemeinden ihren bürgerlichen Organismus und ihre Richter zu lassen, welche nach dem byzantinischen Gesetzbuch der Basiliken Recht sprachen. Sie begnügten sich zunächst damit, ihre Herrschaft zur Anerkennung zu bringen, indem sie den Huldigungseid der Städte empfingen und die Summe derjenigen Abgaben einforderten, welche jene bisher an die byzantinische Regierung gezahlt hatten. Sie selbst brachten ihre feudalen Rechtsgrundsätze mit sich und wandten diese sofort auf ihre eigenen neuen Lehnsverhältnisse an. Diese Gesetze waren im allgemeinen dem berühmten Rechtsbuche der Assisen Jerusalems ähnlich, von welchem die unverbürgte Sage behauptete, daß es schon Gottfried von Bouillon im Jahre 1099 abfassen und in der heiligen Grabkirche niederlegen ließ. Dieser Kodex sollte bei der Einnahme Jerusalems durch Saladin im Jahre 1187 untergegangen sein, und nur die Rechtstradition bis 1192 in St. Jean d'Acre, dem letzten Reste jenes fränkischen Königreichs, sich erhalten haben. So viel ist gewiß, daß nach den Rechtsnormen der Assisen der Feudalstaat der ersten Könige vom Hause Lusignan in Zypern eingerichtet worden ist.Sathas, Bibl. graeca VI, 1877, Einleitung. In diesem Bande hat der verdiente Gelehrte die griechischen Assisen Zyperns veröffentlicht. Beugnot, Einleitung zu den ›Assises de la haute cour‹, I. (Rec. des ouvr. de Jurispr. composés pend. le XIII s. dans les royaumes de Jérus. et de Cypre, Paris 1841, p. XIV ff.) weist nach, daß nicht die Assisen Jerusalems (Lettres du S. Sépulcre) nach Zypern, Morea und Konstant. kamen, sondern nur ihre in Acre gesammelten und dann aufgeschriebenen Rechtsgrundsätze. Zypern brachte am Ende des 12. Jh. den ersten berühmten Juristen, Philipp von Navarra, hervor, dessen Arbeiten Jean d'Ibelin fortsetzte. – K. E. Schmidt, Hermes, Bd. 30. Auch im ganzen fränkischen Griechenland bildete sich ein gleichmäßiges Feudalrecht aus, welches mit der Zeit als »Liber consuetudinum imperii Romaniae« eingeführt wurde. Es stimmte in allem Wesentlichen mit den kreuzritterlichen Assisen Jerusalems überein. Da diese Gesetze in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Peloponnes im Gebrauch waren, werden sie auch im fränkischen Athen Eingang gefunden haben.Es gibt keine franz. Redaktion der Gesetze Romanias. Erst 1421 ließ die Regierung Venedigs sie für Negroponte im venez. Dialekt redigieren; Canciani, Barbaror. leges antiquae, Vened. 1785, III, p. 493ff.

Schon bei der ersten Einrichtung seines Feudalstaats wird Otto de la Roche aus den angesehensten seiner ritterlichen Vasallen einen Obersten Lehnshof, die »haute cour«, zusammengesetzt haben, welche die wahre souveräne Staatsgewalt darstellte. Die Entstehung des athenischen Staats war freilich die Folge einer einfachen Besitzergreifung von Gebieten, welche der Markgraf Bonifatius dem La Roche zu Lehen gegeben hatte. Nicht wie im Peloponnes, einem durch Krieg eroberten Lande, hatten in Attika und Böotien die Waffengefährten für den Landesherrn ihr Blut vergossen und diesen dadurch verpflichtet, sie mit Baronien auszustatten und ihnen neben sich die Stellung der Pairs einzuräumen, ohne deren Zustimmung keine feudale und politische Angelegenheit entschieden werden durfte. Der Landesherr Athens befand sich daher gegenüber den burgundischen Rittern, die sein Gefolge bildeten, offenbar in einer günstigeren Lage als diejenige Champlittes neben seinen Kriegsgefährten sein konnte. Trotzdem mußte auch er seinen Staat nach denselben Grundsätzen der Lehnsverfassung einrichten und die Staatsgewalt auf eine »haute cour« übertragen. Sie bildete nicht nur den hohen Rat des Landesherrn für alle politischen Dinge, sondern auch den obersten Gerichtshof in ritterlichen Lehnsangelegenheiten.

Neben diesem Tribunal gab es in den Frankenstaaten auch einen bürgerlichen Gerichtshof, die »cour des Bourgeois«, in welcher Abgeordnete städtischer Gemeinden saßen unter dem Vorsitze des Vicomte, des Stellvertreters des Landesherrn. Da dieser selbst den Vicomte ernannte, konnte von einer freien, munizipalen Selbstverwaltung kaum die Rede sein.Einl. Beugnots II, Assises de la Cour des Bourgeois. Das niedere Gericht hatte alle Rechtshändel und Kriminalsachen der nicht ritterlichen Einwohner zu entscheiden und seinen Sitz in dazu bestimmten Städten. Wieweit und ob überhaupt im athenischen Staat dasselbe auf die Griechen angewendet worden ist, wissen wir nicht, da man annehmen darf, daß diese lange Zeit hindurch nach dem byzantinischen Gesetzbuche gerichtet wurden. Erst spät findet sich eine zufällige Spur, welche erkennen läßt, daß der niedere Gerichtshof im Staate Athen bestanden hat.Im ›Livre de la Conq.‹, v. 409, wird gesagt, daß der Herzog Guido von Athen 1301 einen Edeln, »que on appellait viscomity«, als Marschall in Wlachien einsetzte; offenbar einen Mann, der im Herzogtum Athen »vicomte« der »cour inférieure« gewesen war. Er aber setzte die Anerkennung munizipaler Körperschaften voraus, wie solche sich mit ihren Räten, den Archonten, Demogeronten oder Vechiaden, unter den Byzantinern erhalten hatten.Montreuil II, p. 17; III, p. 75. Auch in Syrien hatte Gottfried von Bouillon den Gemeinden ihre alten Gerichtshöfe gelassen, bis diese allmählich anderen, aus Franken und Eingeborenen zusammengesetzten Tribunalen unter einem Bail Platz machten.Heimbach, Griech.-röm. Recht, Ersch u. Gruber, Bd. 87, S. 16ff.

Von Städten wie Theben und Athen ist es durchaus anzunehmen, daß sie anfangs auch unter ihren fränkischen Vögten fortfuhren, die Angelegenheiten ihrer Gemeinde, zumal das Steuerwesen, durch einen Rat zu verwalten, welcher nur aus einheimischen, im Vertrauen der Eroberer stehenden Bürgern gebildet sein konnte. Dies änderte sich freilich mit der Zeit, als die Franken auch die Sprache der Griechen erlernten, als sich immer mehr französische Einwanderer in den Orten niederließen und die Eingeborenen verdrängten. So bildete sich auch in dem fränkischen Hellas ein aus eingewanderten Lateinern zusammengesetztes Bürgertum. Ritter und Barone wurden aber zugleich Feudalherren von Städten, deren Einkünfte, soweit nicht der Fiskus Rechte darauf besaß, sie selbst bezogen. Der Feudalismus stand durch sein Lehnsprinzip im schroffsten Gegensatz zu dem Munizipalwesen. Denn die politischen Rechte waren im Lehnsstaate einzig auf dem Grundbesitz gegründet, der dem Inhaber seine Stellung in ihm gab, und die Lehnspflichten bildeten die Kette, welche dies timokratische System zusammenhielt. Gerade in Griechenland, wo die Städte, wenige ausgenommen, verarmt und herabgekommen waren, mußten die abendländischen Barone als Eroberer ihr Eldorado finden. Dort strebte kein wohlhabendes und selbstbewußtes Bürgertum gegen das kirchliche und weltliche Lehnswesen auf wie in Flandern und Frankreich, in Italien und in Deutschland. Besonders in Attika und den andern hellenischen Provinzen wurde die Erdrückung der griechischen Nation den Franken dadurch erleichtert, daß es dort, schon bei ihrem Einbruch ins Land, kaum noch hervorragende Patrizierfamilien mehr gab. Wenn sich aber damals noch ein Rest solcher vorfand, so verschwand auch dieser mit der Zeit. Daher läßt sich während der ganzen Epoche der Fremdherrschaft weder in Theben noch in Athen auch nur der Name eines griechischen Magnaten oder angesehenen Bürgers entdecken. In diesen beiden Hauptorten des Staates Athen, deren Akropolen ihnen eine besondere militärische Wichtigkeit gaben, setzte schon der erste Megaskyr Vögte mit Gerichtsbarkeit ein. Im Jahre 1212 wird der Kastellan Thebens genannt, welcher in einer Streitsache zwischen den Diözesen Theben und Zaratora im Verein mit thebanischen Domherren und Laien gewaltsam in das Haus des Bischofs von Zaratora eindrang und daraus einen Mann entführte.G. de S. Cruce castellanus Thebanus, Ep. Innoc. III. XV, 30, V. Id. April. anno XV.

Das Fehlen geschichtlicher Urkunden macht übrigens die genaue Kenntnis von der politischen Einrichtung und der Verwaltung des athenischen Feudalstaates für uns unmöglich. Wir wissen nichts von dem dortigen Finanz- und Steuersystem, vom Schatzamt, der Staatskanzlei und den Hofämtern. Unter der Regierung der La Roche werden niemals Großwürdenträger wie der Marschall, Seneschall, Connetable und Kämmerer genannt. Diese Ämter waren im Königreich Jerusalem, im Kaiserreich Konstantinopel, in Zypern und im Fürstentum Achaia eingeführt; sie setzten demnach ein größeres Staatswesen voraus, als es der Hof des Megaskyr in Athen darstellen konnte. Im allgemeinen wurde wie in England und in Sizilien, im fränkischen Syrien und in Zypern auch in Attika der Beweis geliefert, daß der Feudalismus doch stark genug war, einen Staat von verhältnismäßig langer Lebenskraft aufzurichten. Die burgundische Verfassung Athens übertraf an Dauer die demokratischen Gesetzgebungen der antiken Staatsmänner, und sie wurde nicht wie jene durch Reformen erneuert. Die Tatsache, daß der aristokratische Feudalstaat der La Roche in den hundert Jahren seines Bestehens niemals eine jener vielen inneren Revolutionen erfuhr, welche die Demokratie des alten Athen erschüttert hatten, beweist freilich weder seinen politischen Wert noch die Weisheit seiner barbarischen Gründer. Sein Bestand wurde gesichert sowohl durch die Fortdauer des Geschlechts der La Roche, welchem nur tüchtige Herrscher entstammten, als durch die Befriedigung und den gemeinsamen Vorteil der privilegierten Kaste von Rittern und Baronen, endlich vor allem durch die Ohnmacht der geknechteten Hellenen, die so tief war, daß sie niemals den Versuch machten, sich, wie die Eingeborenen Kretas, in Waffen zu erheben und die eisernen Ketten des Lehnssystems abzuwerfen. Die im Peloponnes eingedrungenen fränkischen Gebieter sicherten sich den Besitz des Landes, indem sie sich beeilten, ihre Zwingburgen aufzubauen, wie ähnliches die Normannen nach der Eroberung Englands getan hatten. Die Slavenstämme und die Griechen in Morea erhoben sich jedoch von Zeit zu Zeit gegen diese Fremdlinge, namentlich als der byzantinische Kaiser Lakonien wieder an sich gebracht hatte. In Attika und Böotien baute der burgundische Adel ebenfalls seine Burgen, doch nicht in solcher Zahl wie die Franken im Peloponnes. Die griechische Bevölkerung in Hellas war überhaupt minder kriegstüchtig, dünner und schwächer als diejenige in der gebirgigen Halbinsel. Sie trug murrend, aber ohnmächtig das Joch der lateinischen Eroberer, trotz deren geringer Zahl. Diese Widerstandslosigkeit könnte verächtlich erscheinen; aber Italien hat zur Zeit der Goten und Langobarden ein ähnliches Schauspiel gezeigt, und werden nicht heute 300 Millionen Inder von 150 000 Engländern und Europäern regiert?


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