Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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4.

Man hat trotzdem behauptet, daß Athen im 12. Jahrhundert sogar für das transkaukasische Georgien eine Pflanzschule der Wissenschaften gewesen sei. In diesem merkwürdigen Lande Karthali, dem antiken Iberien, welches seit den ältesten Zeiten bis auf seine Einverleibung in Rußland im Jahre 1783 von eigenen Königen beherrscht worden ist, regierte von 1089 bis 1125 der Bagratide David II., der »Erneuerer«. Von ihm, dem Gemahl einer byzantinischen Prinzessin Irene, wird erzählt, daß er jährlich zwanzig junge Georgier nach Athen geschickt habe, zu dem Zwecke, auf der dortigen Schule zu studieren.Friedr. Bodenstedt, Tausend und Ein Tag im Orient (Gesamm. Schriften III, S. 31ff.), ohne Angabe der Quelle dieser Nachricht.

Die jährliche Unterhaltung so vieler Stipendiaten in Athen auf öffentliche Kosten würde sowohl den wissenschaftlichen Bedürfnissen als der Regierung des kleinen Georgien zum höchsten Ruhme gereicht haben, und sie könnte heute jeden Unterrichtsminister großer Kulturstaaten in Erstaunen setzen, wenn sie nämlich eine beglaubigte Tatsache wäre. Die georgischen Reichsannalen, welche der König Wachtang am Anfange des vorigen Jahrhunderts redigieren ließ, haben jenen Fürsten David mit überschwenglichen Phrasen als einen zweiten Salomo verherrlicht. Sie rühmen seinen Wissensdurst, der so mächtig gewesen sei, daß er sich selbst auf der Jagd von den Büchern nicht trennen konnte; sie preisen ihn als den großartigsten Mäzen, der sogar fremde Klöster in Griechenland fürstlich ausstattete und beschenkte. Sie erzählen, daß er in seinem eigenen Lande ein prachtvolles Kloster der heiligen Jungfrau erbaute, dies mit den kostbarsten Reliquien und Schätzen ausrüstete, unter denen sich auch der goldene Thron der Chosroiden befand, und daß er in dasselbe die auserwähltesten Mönche einsetzte. »Er machte aus diesem Ort das zweite Jerusalem des Orients, das Wunder aller Vollkommenheit, den Mittelpunkt der Gelehrsamkeit, ein neues Athen, welches dem alten weit überlegen war.«Une autre Athènes, bien supérieure à la première: Histoire de la Géorgie depuis l'antiquité jusqu'au XIX siècle, traduite par M. Brosset, I. partie, St. Petersb. 1849, p. 357. Brosset (Note) hält das Kloster für Génath oder Gélath. Dies Kloster könnte demnach das Athen für die Studien der jungen Georgier gewesen sein. Der berühmte armenische Geschichtsschreiber Wardan, welcher dem 13. Jahrhundert angehört, hat übrigens von dem Könige David folgendes berichtet: »Indem er das unwissende Volk der Georgier zu bilden suchte, wählte er vierzig junge Leute aus, die er nach Griechenland schickte, um dort die Sprache zu erlernen, aus ihr Übersetzungen zu machen und diese dann mit sich nach Hause zu bringen, was sie auch wirklich getan haben. Drei unter ihnen, die sich als die fähigsten erwiesen, haben dies rohe Volk geziert.«Brosset, Additions et éclaircissements à l'hist. de la Géorgie (Petersb. 1851, p. 233), hat diese Stelle aus Wardan, p. 93, 94 ausgezogen. So verwandeln sich die jährlich vom Könige David nach Athen geschickten Stipendiaten in Übersetzer griechischer Werke überhaupt. Die Georgier waren wie die Armenier eifrig bemüht, theologische und philosophische Schriften aus dem Griechischen in ihre Landessprache zu übertragen; so hatte schon der König Georg, ein Vorgänger Davids, den sogenannten Philosophen Janne Petrizi mit der Übersetzung von Werken des Plato und Aristoteles beauftragt.Klaproth, Reise in den Kaukasus und nach Georgien II, S. 173 Solche Georgier machten also ihre Studien in »Griechenland«, das heißt doch wohl in Thessalonike, in den Athosklöstern und vor allem in Konstantinopel. Wenn sie auch in Athen studiert hätten, so würde Wardan, welcher die Verhältnisse Georgiens sehr gut kannte, von dieser Stadt schwerlich geschwiegen haben, dessen Hochschule einst, im 5. Jahrhundert, sein berühmter Landsmann Moses von Chorene wirklich besucht hatte.

Ein gleicher Bildungseifer und eine noch größere Pflege der Literatur wird der gefeierten Königin Thamar nachgerühmt, die von 1184 bis 1211 als eine zweite Semiramis über Georgien herrschte. An ihrem Hofe lebte der ausgezeichnete Dichter dieses Landes Sota Rustawel, der in einem kleinen Ort Rustawo an den Ufern des Kur, wie man glaubt, um 1172 geboren war. Er verherrlichte die geistvolle und schöne Fürstin in einer Thamariade und verfaßte viele Dichtungen, unter andern ein dem Persischen entlehntes Epos ›Der Mann mit dem Tigerfell‹.De la poésie géorgienne par Brosset jeune, Paris 1830 Von ihm aber wird erzählt, daß er um das Jahr 1192 nebst anderen jungen Georgiern nach Athen gekommen sei. Dort habe er sich mit den großen Geistern des Altertums vertraut gemacht, die Werke der attischen Philosophen und Geschichtsschreiber gelesen und auch in der Musik sich ausgebildet. Nach einem Aufenthalt von mehreren Jahren sei er zur Königin Thamar zurückgekehrt, deren Bibliothekar er dann wurde.Bodenstedt, a.a.O., und ausführlich M. J. Mourier, Chota Rousthavéli, poète géorgien du XII siecle, sa vie et son oeuvre, im Journal asiatique, 8. Série, T. IX, 1887, p. 520ff. Wenn nun der georgische Dichter in Athen so glänzende und umfassende Studien machte, so mußte das genau zu derselben Zeit geschehen sein, wo Michael Akominatos dort Erzbischof war und sein Schicksal beklagte, welches ihn dazu verdammt hatte, in jener Stadt unter barbarisch gewordenen Menschen zu leben, bei denen nach seinem Urteil keine wissenschaftliche Bildung mehr zu finden war. Die Erzählung von den athenischen Studien Rustawels gehört daher so gut in den Bereich orientalischer Märchen wie jene von den zwanzig Stipendiaten des Königs David. Sollten sich dafür, was nirgends bekannt ist, wirklich Berichte in Schriften georgischer oder armenischer Autoren vorfinden, so haben diese Athen entweder mit dem Athos oder mit Konstantinopel verwechselt, wo seit dem Ende des 11. Jahrhunderts zumal unter der Regierung der Komnenen die byzantinische Akademie wieder in Blüte war und ohne Zweifel auch die christliche Jugend Georgiens und Armeniens an sich zog.Herr Mourier beruft sich für die Behauptung von den Studien der Georgier in Athen nur auf Wardan als Quelle. Allein in den von Brosset übersetzten Stellen steht nichts davon, und der gründlichste deutsche Kenner der armenischen Literatur, Herr Heinrich Hübschmann in Straßburg, hat mich versichert, daß Wardan (Venez. Textausgabe 1862) weder vom mittelalterlichen Athen noch von Rustawel ein Wort gesagt habe.

Nun haben aber auch die Engländer am äußersten Thule Athen in derselben Epoche noch als eine Bildungsanstalt für Gelehrte ihres eigenen Landes beansprucht, von denen manche dort ihre Kenntnisse geholt haben sollen wie unter andern ein namhafter Arzt Johannes Ägidius.Leyser, Hist. poetar. et poemat. M. Aevi, p. 499. Die Person des Ägidius ist jedoch zweifelhaft, und Leysers Angabe beruht nur auf Fabricius, der jenen Arzt ins 12. Jh. setzt. Sehr merkwürdig ist, was der englische Chronist Matheus Paris von den wissenschaftlichen Zuständen Athens berichtet hat. Er erzählt, daß um 1202, im 3. oder 4. Jahre des Königs Johann, einige griechische Philosophen, ihrem Aussehen nach ernste und ehrwürdige Männer, aus Athen an den englischen Hof gekommen seien, dort über religiöse Fragen disputiert und Bekehrungsversuche gemacht hätten, bis ihnen der König zu schweigen gebot und sie des Landes verwies.»Quidam philosophi Craeci, vultu er gestu severi et venerabiles... ab Athenis venientes.« Hist. Anglor. (Minor), ed. Madden, London 1869, III, p. 64. Diese Griechen waren ohne Zweifel Mönche oder Geistliche. Der englische Chronist gab ihnen den traditionellen Titel der Philosophen, und wahrscheinlich deshalb bezeichnete er sie auch als Athener. Aber derselbe Matheus hat noch einen andern Bericht, welcher darzutun scheint, daß Athen in jener Zeit eine Stätte wissenschaftlichen Lebens gewesen ist.

Sein älterer Zeitgenosse, der Archidiakon von Leicester, Johannes Basingestokes, meldete, wie der Chronist erzählt, dem gelehrten Bischof Robert von Lincoln, daß er während seiner Studien in Athen von kundigen griechischen Doktoren mancherlei erfahren habe, was den Lateinern unbekannt geblieben sei.»Quod, quando studuit Athenis, viderat et audierat ab peritis Graecor. doctoribus quaedam Latinis incognita.« Chronica Majora, ed. Luard, London, 188o, V, p. 285. Unter anderm fand er daselbst die Testamente der zwölf Patriarchen, welche die Juden aus Neid versteckt gehalten hatten. Der Bischof Robert ließ diese Schriften aus Griechenland holen und ins Lateinische übersetzen.Durch Nikolaus von St. Albans. Robert selbst übersetzte die Ethik des Aristoteles. Jourdain, Rech. crit. sur l'âge et l'origine des traductions latines d'Aristote, Paris 1843, p. 59. Basingestokes brachte aus Athen nach England auch die griechischen Zahlfiguren und manche Bücher, die er ins Lateinische übertrug, wie eine ihm von den Athenern mitgeteilte Grammatik.

Noch erstaunlicher ist die Versicherung desselben Archidiakons, daß er, trotz seiner auch in Paris gemachten Studien, sein bestes Wissen einer noch nicht zwanzig Jahre alten Jungfrau Konstantina, der Tochter des Erzbischofs von Athen, verdankte: Sie habe das ganze Trivium und Quadrivium innegehabt und Pest, Gewitterstürme, Sonnenfinsternisse, sogar Erdbeben ihren Zuhörern sicher vorauszusagen gewußt und diese dadurch vor Unglück bewahrt.Math., a.a.O., p. 286: »Quaedam puella, filia archiepiscopi Atheniensis, nomine Constantina –«. Da Matthäus Paris behauptet, diese erstaunlichen Mitteilungen von Basingestokes selbst öfters gehört zu haben, so nötigt er uns, mindestens anzunehmen, daß jener englische Magister wirklich in Athen gewesen war und dort das Griechische studiert hatte. Auch kann es immerhin eine Athenerin gegeben haben, die sich gleich der im Purpur geborenen Anna Komnena rühmen durfte, die attische Sprache und Redekunst, die Weisheit des Plato und Aristoteles, nebst allen Disziplinen des Quadrivium gelernt zu haben.Alexias, Vorwort p. 4. Lange bevor im Zeitalter der Renaissance Frauen Italiens durch Geist und Wissen namhaft wurden, glänzten Griechinnen durch ihre klassische Bildung. Am Anfange des 14. Jahrhunderts wurde eine schöne Frau in Thessalonike, die Tochter eines Kanzlers, wie eine zweite Theano und Hypatia bewundert.Nikephoros Gregoras VIII, 3, p. 293 Die jugendliche Lehrerin des Engländers sieht indes der Papessa Johanna Anglica ähnlich, deren Fabel sich bekanntlich bei einem Chronisten des 13. Jahrhunderts findet.Flores Tempor. (Mon. Germ. XXIV, p. 243). Döllinger, Papstfabeln: Die Päpstin Johanna. Da Basingestokes nach der Angabe des Matheus im Jahre 1252 starb, so mußte er in Athen zur Zeit studiert haben, als es dort noch einen griechischen Erzbischof gab. Dieser aber konnte kein anderer sein als der letzte orthodoxe Metropolit vor der Frankeninvasion des Jahres 1205, und das war eben Michael Akominatos. Es ist unmöglich zu glauben, daß der englische Scholast in Athen nicht mit diesem großen Hellenisten in Verbindung kam, und deshalb sehr auffällig, daß er seiner nicht erwähnt hat. Seine vermeintliche Lehrmeisterin Konstantina würde aber als Tochter des athenischen Erzbischofs nur Michael Akominatos selbst zum Vater gehabt haben; und das hat man auch wirklich geglaubt.Hopf I, S. 177. Allein dieser war kinderlos; er selbst hat von sich gesagt: »Wenn ich auch nicht Vater geworden bin, so weiß ich doch, was Liebe zu Kindern ist.«Sp. Lambros beruft sich auf diese Aussage (Op. II, p. 244, 22) in seiner Abhandl. ›Athen am Ende des 12. Jh.‹ und in der Einleitung zu den Schriften des Erzbischofs, und er verwirft die Glaubwürdigkeit aller solcher Berichte. Paparrigopulos (III, p. 603) nimmt zwar im allgemeinen das Fortbestehen der athenischen Hochschule an, beschränkt aber doch deren Wirkung auf die Athener durch die Klagen des Akominatos über ihre Unwissenheit. Auf die Angaben des Paris bezieht sich Lelandus, Comment. de scriptor. Britannicis, Oxoniae 1709, I, p. 266, bemerkend, daß nur sehr wenige Engländer Studierens halber nach Athen gegangen seien; von solchen will er nur aus Gottfried Monensis von einem Könige Bladud und aus Platina von der Johanna Anglika (der Papessa) wissen.

Die Berichte des Matthäus Paris sind daher übertrieben und zum Teil fabelhaft; entweder hat er sich selbst von seinem Gewährsmann ein Märchen aufbinden lassen oder, was er in seiner Jugend von ihm gehört hatte, durch phantastische Zusätze umgestaltet. Welche Fabeln in jenem leichtgläubigen Zeitalter gerade in England umliefen, zeigt die bekannte Erzählung desselben Chronisten vom ewigen Juden, dessen Sage er zuerst aufgezeichnet hat. Er berichtet ernsthaft, daß im Jahre 1228 ein armenischer Erzbischof nach der Abtei St. Albans gekommen sei und den dortigen Mönchen versichert habe, den Josephus Cartaphilus, jenen Pförtner des Pilatus, von dem der Heiland aus dem Tribunal gestoßen worden sei, persönlich zu kennen, da derselbe oft Armenien besuche und kurz vor seiner eigenen Abreise von dort an seinem Tische mit ihm gespeist habe.Chronica Majora III, p. 161ff. Nach seiner Erzählung wurde Cartaphilus von Ananias getauft; er wandere aber auf der Erde bis zur Wiederkunft Christi umher, indem er sich nach je 100 Jahren zu einem dreißigjährigen Manne verjünge. Der armenische Bischof versicherte den Engländern auch, daß die Arche Noah noch immer auf dem Ararat stehe.

Während in Athen das Studium der Wissenschaften so gut wie erloschen war, dauerte die Überlieferung von dem Ruhm der Stadt der Weisen im Abendlande fort. Man stellte sich daher vor, daß sie selbst in den dunkelsten Zeiten nicht aufgehört habe, die Hochschule für hervorragende Gräzisten zu sein. Nicht nur die fabelhafte Päpstin Johanna sollte dort im 9. Jahrhundert studiert haben, sondern auch Skotus Eriugena, und doch hatte dieser größte Kenner der griechischen Sprache jenes Zeitalter im Abendlande sein Wissen in irländischen Klosterschulen erworben.Dies aus Lesläus u. Buleus bei H. J. Floß, Ausgabe des Erigena, Patrol. des Migne T. 122, Einl. p. XXVI ff. Dazu Christlieb, Leben u. Lehre des Joh. Scotus Erigena, Gotha 1860, S. 22. Von Irland her hatte schon Karl der Große die Lehrer für seine Schola palatina kommen lassen. Schwache Spuren hellenistischer Schulen und der Erinnerungen an Athen fanden sich auch in Italien. Johann Diaconus, der im 9. Jahrhundert das Leben Gregors des Großen schrieb, bemerkte als einzigen Mangel an diesem Papste seine Unkenntnis der griechischen Sprache, die er mit schwülstigem Ausdruck »facundissima virgo Cecropia« nannte.Joh. Diaconus II, c. 14. Auch der lombardische Panegyrist des Kaisers Berengar, der zwischen 916 und 924 sein Lobgedicht verfaßte, erinnerte sich Athens in barbarischen Versen.»Daedaleis Grajas sequitur laudare loquellis; Stoicus hic noster cluibus quia pollet Athenis.« Mon. Germ. IV, p. 209.

Man wird sich nicht wundern, wenn die Sächsische Weltchronik vom römischen Kaiser Claudius berichtet, daß er seine Söhne nach Athen schicken wollte, »wo die beste Schule war«;Mon. Germ. II, p. 43. Dazu Maßmann, Kaiserchronik I, S. 118. aber auch im Florisel von Niquea, einer Episode des berühmten Romans ›Amadis de Gaula‹, wird gesagt, daß der ritterliche Agesilaos von Kolchos in Athen studierte.Dunlop, Hist. of fiction, deutsch von Liebrecht, S. 157. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts verteidigte ein Klosterbruder von St. Emmeran bei Regensburg die von den Benediktinern zu St. Denis bestrittene Behauptung, daß die Gebeine des irrtümlich zum Apostel Galliens gemachten Dionysios Areopagites von dort nach Regensburg gebracht worden seien. In einem Briefe an den Abt Raginward richtete er eine Apostrophe an Athen, »die Ernährerin der Beredsamkeit, die Mutter der Philosophen, welche durch Dionys verherrlicht worden sei«.»Floreat ergo Athene, fandi et eloquentiae nutrix, philosophorum genitrix«. Chron. Ratisbon. Transl. S. Dion. (Mon. Germ. XI, p. 351).

Schwerlich kannte irgendein Gelehrter im Abendlande aus dem Thukydides die Lobrede des Perikles auf die gefallenen Athener, worin dieser große Staatsmann seine Vaterstadt die »Schule Griechenlands« genannt hat. Doch die christliche Welt wußte, durch die Vermittlung Ciceros wie anderer lateinischer Autoren und der Kirchenväter, von dem Ruhme der Stadt Athen als Mutter aller Wissenschaft. Dies Lob ist feststehend im 12. und 13. Jahrhundert. In seinem ›Speculum rerum‹, einer Genealogie aller Könige und Kaiser, behauptete Gottfried von Viterbo, daß Römer und Deutsche nur verschiedene Zweige der Trojaner seien, daß aber diese selbst von Jupiter abstammten, dem Könige der Athener. Dieser sei als Königssohn in Athen geboren. Von ihm haben die Philosophen ihre Lehre empfangen, und von ihm stamme das Trivium und Quadrivium her. Die Stadt Athen sei von ihm unter dem Namen der Minerva erbaut worden, gleichsam als eine Burg der Weisheit. Niobe, die erste Gemahlin Jupiters, habe zu Athen regiert und die ältesten Rechtsbücher verfaßt. Juno, seine zweite Gemahlin, sei die Mutter des Danaos gewesen, von welchem die Danaer oder Griechen abstammten. Dann sei das geschriebene Recht von Athen nach Rom gekommen. Kurz und gut, alle Künste und Wissenschaften müßten auf Jupiter und Athen zurückgeführt werden.Mon. Germ. XXII, p. 38ff., ed. Waitz.

In den Alexanderromanen wird Aristoteles nur deshalb zu einem geborenen Athener gemacht, weil er ein großer Philosoph war und »die Welt keine Weisheit mehr besitzt, die dort nicht zu finden gewesen sei«.»Qu'el mont n'a sapience, qui lá ne fust trouvée...« Li Romans d'Alexandre par Lambert li Tors et Alex. de Bernay, ed. H. Michelant, Stuttg. 1846, p. 46. Wilhelm von Malmsbury wußte den gelehrten Bischof Ralf von Rochester nicht besser zu rühmen, als indem er von ihm sagte, daß er ganz Athen in sich ausgeschöpft habe.»Totas hausit Athenas...« Mon. de gestis Pont. Anglor., ed. Hamilton, London 1870, p. 126. In dieser Stadt, so bemerkte Matthäus Paris, haben die griechischen Weisen studiert, und weil die Weisheit unsterblich ist, so hat davon Athen den Namen erhalten. Denn derselbe sei zusammengesetzt aus der Negation A und dem Worte Thanatos.Chron. Majora V, p. 186. Ein würdiges Seitenstück zu dieser Namenserklärung ist jene, welche Gervasius von Tilbury im 13. Jahrhundert von der Akademie Athens gegeben hat. Dies Wort bedeutet nach ihm Traurigkeit des Volks; denn die Schüler Platos hätten gerade diesen dem Erdbeben ausgesetzten Ort gewählt, damit die beständige Furcht ihre sinnlichen Begierden zügle. Derselbe Gervasius erklärte den Namen »Peripatetiker« daraus, daß die Schüler des Aristoteles in gewisser Weise auf dem Boden der Wahrheit einhergingen.Aus den ›Otia Imperialia‹, angeführt von Egger, L'hellénisme en France, Paris 1869, I, p. 54; welcher jene Erklärung der Akademie aus άχος δήμου entstanden glaubt. Wenn in irgendeiner Stadt des Westens gelehrte Studien blühten, lag es nahe, sie mit Athen zu vergleichen. Alfanus von Montecassino, der Zeitgenosse Gregors VII., rühmte deshalb in einem Gedicht an den Bischof Gosfried Aversa, welches seine Philosophenschulen dem allertrefflichsten Athen ähnlich gemacht habe.Ughelli, Italia sacra X, p. 75, bei O. Hartwig, Die Übersetzungsliteratur Unteritaliens in der normann.-staufisch. Epoche, S. 11.

Wie unter den Gelehrten des Abendlandes so lebte sogar bei den wissensdurstigen Arabern, eifrigen Übersetzern philosophischer und medizinischer Werke der Griechen, der gleiche Ruhm Athens fort. Istahri, der um die Mitte des 10. Jahrhunderts ein geographisches Werk verfaßte, erwähnt darin Athens bei Gelegenheit des Umfanges des Mittelmeers, welches nach seiner Ansicht Galicia, Francia und Rom bespült oder dessen Küstenstriche von Konstantinopel bis nach Athinas und Rom reichen. Er sagt, daß Rom und Athen die Sammelpunkte der Rum seien, d. h. der Italiener und Byzantiner, und daß im besondern Athen der Sitz der Weisheit der Jünan, d. h. der alten Griechen, gewesen sei, wo diese ihre Wissenschaft und Philosophie aufbewahrt hätten.Text Istahris ediert von De Goeje in Leiden 1870. Michele Amari belehrt mich, daß Istahri außer Edrîsi der einzige arab. Geograph ist, der Athens erwähnt; da eine Stelle bei Ibn-Haukal nur die Übersetzung jener Istahris sei. Sie findet sich auch bei Abulseda (1. Hälfte des 14. Jh.). Er beruft sich auf Ibn-Haukal und nennt Athen Itschanijah, die Stadt der griech. Weisen. Abulfedae opus geogr., in Buschings Magazin V, p. 362: »Itschanijah est ut ait Ol Canun, urbs sapientium graecorum.« – Auch in den philosophischen Schriften der Araber wird Athen in derselben Weise gepriesen; so im Fihrist des Mohamed ibn-Ishâg. Aug. Müller, Die griech. Philosophen in der arab. Überlieferung, Halle 1873, S. 2. Von den Arabern hat sich dann der Ruhm Athens den späteren türkischen Chronisten Seadeddin und Hadschi Chalfa mitgeteilt.


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