Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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4.

Unterdes fanden im Westen wie im Osten große Ereignisse statt, welche auf die Schicksale des byzantinischen Reichs und demnach auch Griechenlands einen bestimmenden Einfluß ausübten. Während die althellenischen Provinzen von den Stürmen der Zeit nur mittelbar berührt wurden, erfuhr das Reich der Romäer neue Bedrängnisse und schwere Verluste. Das türkische Nomadenvolk der Seldschuken wälzte die Länder Asiens um vom Kaspischen Meer bis nach Samarkand, von den Grenzen Chinas bis zum Euphrat. Togrulbeg, sein Neffe Alparslan und der dritte dieser großen Völkergebieter, Malik-Schah, stifteten seit 1040 das ungeheure Türkenreich, welches im alten Merw in Chorassan, »der Königin der Welt«, einen seiner Sultansitze hatte.Die Nachfolger der Seldschuken in Merw sind jetzt die Russen, die in derselben Weise wie jene Innerasien umwälzen und heute vor den Toren Indiens wie vor denen Konstantinopels stehen. In Merw oder Meru waren Alparslan († 1072) und sein Sohn Malek-Schah († 1092) in prachtvollen Mausoleen bestattet. Die byzantinischen Geschichtsschreiber nennen auch die Seldschuken »Perser«. Von Armenien aus stießen die Seldschuken mit den Byzantinern zusammen; Alparslan eroberte dieses Land und Georgien; er überwand im Jahre 1071 den mannhaften Kaiser Romanos Diogenes, den er gefangennahm und dann großmütig entließ. Seither drangen die Türken in das griechische Kleinasien ein, wo sie unter Soliman das Reich Rum (Romania) mit der Hauptstadt Ikonion gründeten.

In derselben Zeit eroberten die Normannen unter Robert Guiscard die byzantinischen Provinzen Apulien und Kalabrien und entrissen im Jahre 1072 die Insel Sizilien den Arabern. Das mit jugendlicher Kraft emporstrebende, durch seine Küstenlage auf die Levante hingewiesene Normannenreich Unteritaliens griff alsbald in die Schicksale Griechenlands und des Orients ein. So entstand für Europa aufs neue jenes große Problem seiner Machtbeziehung auf das griechische Mittelmeer und das westliche Asien, welches mindestens so alt ist wie die Perserkriege der Griechen und trotzdem noch in unserer Gegenwart einen Weltkrieg zu entflammen droht. Der makedonische Alexander hatte dasselbe durch die Eroberung und Hellenisierung des Orients und die größte seiner Taten, die Schöpfung Alexandrias, gelöst. Die Römer hatten sein Erbe angetreten und alle Küstenländer des Mittelmeers beherrscht und kolonisiert. Sodann war durch die Gründung Konstantinopels dies weltgeschichtliche Problem auf das byzantinische Reich übergegangen. Sobald dieses Syrien und den Taurus an die islamitischen Völker verlor und in seinem Bestande erschüttert wurde, mußte die orientalische Frage das Abendland und seine stark werdenden Mächte von neuem beschäftigen. Zuallererst haben sie die Normannen angeregt und die Päpste, als Beweger der Kreuzzüge, zu einer der wichtigsten Aufgaben Europas gemacht.

Die kühnen Absichten Robert Guiscards waren zunächst auf den Besitz von Epiros und der ionischen Inseln gerichtet, von wo er sich den Weg nach Thessalonike und vielleicht weiter nach Konstantinopel zu bahnen hoffte. Als er im Mai 1081 von Brindisi aufbrach, um in Albanien festen Fuß zu fassen und Durazzo, den Schlüssel Illyriens an der Adria, zu bezwingen, fand er an dem Kaiser Alexios I. Komnenos einen keineswegs verächtlichen Gegner.

Das berühmte Geschlecht der Komnenen war schon mit dessen Oheim Isaak I. im Jahre 1057 auf den griechischen Kaiserthron gelangt, dann hatte es diesen zwei Jahre darauf der Familie Dukas überlassen. Alexios führte zum Glücke des sinkenden Reichs sein Haus auf den Thron zurück. Kaum hatte er am 1. April 1081 Konstantinopel eingenommen, den Kaiser Nikephoros Botoneiates zur Abdankung gezwungen und den Purpur angelegt, als er dem Angriff der Normannen begegnen mußte. Die aus den Themen aufgebrachten Regimenter und die buntgemischten Haufen barbarischer Söldner waren jenen nur an Zahl, nicht an Kriegstüchtigkeit überlegen, während die griechische Flotte der feindlichen in keiner Weise gewachsen war. Daß ein Reich wie das byzantinische, mit seinen Küsten, Inseln und herrlichen Häfen, mit seinen seekundigen Völkerschaften, nicht dauernd zur herrschenden See- und Handelsmacht des Mittelmeers zu werden vermochte, ist eine befremdende Tatsache. Im 10. Jahrhundert, zur Zeit des Nikephoros Phokas und des Tzimiskes, war die kaiserliche Marine noch unvergleichlich stark gewesen, und Konstantin Porphyrogennetos konnte von der Thalassokratie des griechischen Kaisers bis zu den Säulen des Herkules reden.De Themat., p. 58. Der Verfall der Flotte trug seither wesentlich Schuld an der Schwäche des Reichs. Durch die Landkriege erschöpft, vernachlässigte die Regierung die kostspielige Ausrüstung von Schiffen; sie blieb daher unfähig, die Meere von den Piraten zu säubern und den ionischen Kanal, den Hellespont, den Bosporos feindlichen Geschwadern zu verschließen. Dieser Mangel aber erlaubte den aufstrebenden Seestädten des Abendlandes, groß zu werden, ihre Kolonien in Konstantinopel wie in andern Seeplätzen einzupflanzen und den Handel in der Levante den Griechen zu entreißen.

Unter den Seestädten Italiens hatte Venedig angefangen, seine Nebenbuhler Amalfi, Pisa und Genua zu überflügeln. Die wunderbare Lagunenstadt mit dem nach Westen und Osten gewendeten Janusantlitz stand noch seit der Zeit, wo Karl der Große in seinem Friedensvertrage mit dem griechischen Kaiser Nikephoros ihre Zugehörigkeit zum oströmischen Reich anerkannt hatte, zu diesem wenigstens dem Rechtsprinzip gemäß, wenn auch keineswegs mehr tatsächlich, im Verhältnis des Vasallen zum Oberherrn. Sie war ein freier, reicher und mächtiger Handelsstaat geworden, in dessen Schutzhoheit sich am Ende des 10. Jahrhunderts sogar die Seestädte Dalmatiens begeben hatten. Jetzt aber kam die Zeit, wo sich Venedig zu ungeahnter Größe erhob, um dann Jahrhunderte lang die Königin des Mittelmeers zu sein.

Da Alexios I. nicht mit ausreichenden Schiffen den Normannen begegnen konnte, rief er die flottenstarke Republik San Marco nicht vergebens zu seiner Hilfe auf; denn diese begriff, daß ihre eigene Wohlfahrt auf dem Spiele stand. Sie hätte ihre letzte Galeere daransetzen müssen, um die Entstehung einer normannischen Seemacht zu hindern, durch welche sie selbst vom Levantehandel würde verdrängt worden sein. Sie hat damals dem byzantinischen Reich ihre Dienste um den höchsten Preis verkauft. Denn als Lohn ihrer Hilfe im Normannenkriege gewährte ihr Alexios I. ein Privilegium von so unermeßlicher Wichtigkeit, daß man zweifeln muß, was größer gewesen sei, die Blindheit und Schwäche der griechischen Regierung oder die Klugheit und das Glück jenes kleinen Inselstaats.

Im Mai 1082 überlieferte der Kaiser den Venezianern das Handelsmonopol im griechischen Mittelmeer und damit eigentlich schon die Lebensadern seines Reichs.Tafel u. Thomas, Urk. z. älteren Handels- u. Staatengesch. der R. Venedig I, S. 36ff. Das Privilegium wurde erneuert im Okt. 1148, Febr. 1187, Nov.1198. Das erste, noch bescheidene gehört schon dem Jahr 992 an. In dieser Goldbulle sicherte er ihnen im allgemeinen den zollfreien Verkehr in allen byzantinischen Ländern. Die ansehnlichsten Städte und Häfen Asiens wie Europas, in denen sie so verkehren durften, wurden namentlich bezeichnet.Noch genauer ist die Aufzählung in dem letzten venez. Privilegium des Kaisers Alexios III. vom Nov. 1198, erläutert von Tafel, a.a.O. In Griechenland waren diese neben andern auch Paträ, Korinth, Argos und Nauplia, Euripos, Theben und Athen.‛Όριον ’Αθηνω̃ν; όριον ist »ager« oder Landschaft und wird so gebraucht von Niketas und Michael Akominatos. Dies ist die erste geschichtlich beglaubigte Beziehung der Republik Venedig zur Stadt Athen, welche neben Theben als der wichtigste Ort in Hellas überhaupt erscheint. Der Piräus mußte demnach noch immer von Kauffahrern besucht sein.

Die Flotte der Venezianer unter dem Befehl des Dogen Domenico Selvo leistete dem griechischen Kaiser die gehofften Dienste trotz des schwankenden Kriegsglückes und einiger Niederlagen. Die purpurgeborene Tochter des Alexios hat diese Kämpfe beschrieben und sogar die Bestandteile angegeben, aus denen das sehr mangelhafte byzantinische Heer zusammengesetzt war; sie nennt die um Achrida in Bulgarien angesiedelten Türken, die Manichäer, d. h. paulikianische Ketzer, welche einst Konstantin Kopronymos aus Asien nach Thrakien verpflanzt hatte, fränkische Söldner, wozu wohl auch die Warangen und Nemitzen (Deutsche) zu zählen sind, und den Heerbann der Makedonen und Thessalier.Alexiad. IV, c. 4. Es ist auffallend, daß niemals Truppen aus Hellas und dem Peloponnes erwähnt werden. Diese Themen scheinen hauptsächlich mit dem Flottendienst belastet gewesen zu sein.Anna Komnena XI, c. 10, nennt als ausgezeichneten Flottenführer den Peloponnesier Perichytan.

Die Normannen, welche in ihrem ersten Heldenlauf Apulien und Sizilien hatten bezwingen können, scheiterten in ihren Plänen gegen Griechenland, weil ihnen hier doch ein großes Nationalreich entgegentrat, das zufällig von tatkräftigen Herrschern regiert wurde. Ihre kühnen Unternehmungen hat damals ganz im besondern Venedig gelähmt.

Die Ereignisse in Italien, wo der Papst Gregor VII., der Lehnsherr der Normannen, im Kampfe mit dem Kaiser Heinrich IV. zu unterliegen drohte, nötigten den siegreichen Robert Guiscard, von Epiros heimzukehren. Auch sein Sohn Boemund, aus Thessalien herausgeschlagen, verlor sein Heer und seine Eroberungen und kehrte zu seinem Vater zurück. Noch einmal nahm Guiscard den Kampf mit dem griechischen Kaiser auf, aber der Tod raffte ihn am 17. Juni 1085 in Kephallenia hin, und so wurde Alexios I. von seinem furchtbarsten Feinde befreit.

Zehn Jahre später war es dieser Kaiser selbst, der den Papst Urban II. und die Mächte des Abendlandes zu einem Kreuzzuge gegen die Seldschuken aufrief, welche im Jahre 1078 Jerusalem erobert hatten und von Ikonion aus immer weiter in Kleinasien vordrangen. So begann die erste kriegerische Bewegung Europas nach dem Orient zur Befreiung Jerusalems. Byzanz konnte anfangs aus diesem religiösen Fanatismus des Abendlandes, so gefährlich er auch im Grunde für dasselbe war, wirkliche Gewinnste ziehen, denn die Fortschritte der Türken wurden durch die Kreuzfahrer tatsächlich gehemmt. Das eroberte Nikaia kam wieder an das griechische Reich. Ritterliche Lehnsstaaten der Lateiner in Jerusalem, Tripolis, Antiochia und Edessa bildeten eine Zeitlang ebenso viele Bollwerke, welche Konstantinopel auf der Seite Asiens deckten. Der oströmische Kaiser vermochte den Türken Lydien und Pamphylien und so kostbare Perlen des Mittelmeers wie Chios und Rhodos wieder zu entreißen. Eine Ausgleichung der zwischen Byzanz und dem Abendlande bestehenden feindseligen Spannung zu dem großen Zweck, die gemeinsame christliche Kultur gegen die Fortschritte des Islam zu schützen, würde eine neue Epoche im Weltleben herbeigeführt haben. Allein die Trennung des griechischen Ostens vom römisch-germanischen Westen war zu tief geworden, als daß sie noch heilbar sein konnte. Die Schöpfung des Reichs Karls des Großen mit dem Zentrum Rom hatte das Abendland von Byzanz politisch geschieden; durch den Streit um das Verhältnis der römischen und griechischen Kirche zueinander war sodann die Trennung religiös und vollständig gemacht worden, zumal seit die Legaten des Papsts Leo IX. im Jahre 1054 es gewagt hatten, den Bannfluch gegen den Patriarchen Michael Kerullarios auf dem Altar der heiligen Sophia niederzulegen. Es fehlte zwar nicht an Bemühungen, diese Kluft durch die Union beider Kirchen zu schließen. Die griechischen Kaiser selbst boten von Zeit zu Zeit den Päpsten die Hand dazu dar, sooft sie in ihrer Bedrängnis durch die Türken die Hilfe des Abendlandes zu gewinnen suchten. Nur mußten leider solche Bestrebungen an dem unversöhnbaren Gegensatz der Kulturen, der Nationalgeister und der hierarchischen Systeme beider Hälften der christlichen Welt scheitern. Die Union konnte für den Papst nur in der Unterwerfung der griechischen Kirche unter seine Suprematie bestehen.

Durch den kunstvollen Staatsmechanismus, in welchem noch die politischen und rechtlichen Traditionen Roms fortlebten wie durch die hellenische Bildung war das gealterte Reich Konstantins dem Abendlande weit überlegen. Dieses konnte jedoch jenem außer der gewaltigen Macht der römischen Papstkirche den jugendlichen Heldenmut seines kriegerischen Adels und Rittertums wie das aufstrebende Bürgertum handeltreibender Republiken entgegenstellen. Die Kreuzzüge gestalteten sich alsbald zu dem Ausdruck des geschichtlichen Triebes Europas, die engen Schranken des Westens wieder aufzuheben und das verlorene Griechenland und den Orient in die abendländische Machtsphäre zurückzunehmen. Wenn das Morgenland die religiösen Gemüter des Westens mit magnetischer Gewalt an sich zog, weil in ihm die Urstätte der Religion lag, so strebte dorthin immer heftiger auch das gesteigerte Handelsbedürfnis der Westvölker, die sich den Straßen und Emporien zu nähern und auch zu bemächtigen suchten, auf denen die Produkte Indiens und Chinas an die Küsten des Mittelmeers gelangten. Der Orient aber war noch immer, wie zur Zeit des altrömischen Kaiserreichs, das große Warenlager der köstlichsten Erzeugnisse der Natur und der Kunstindustrie, deren Märkte für die Europäer meist im byzantinischen Reiche, seinem Vorlande, gelegen waren.

Die Idee der Wiederherstellung der römischen Weltmonarchie erschien in Byzanz nur vorübergehend und nur als Kaisergedanke; sie war dauernd und religiös im Papsttum, welches eben erst aus den Reformen Hildebrands als die leitende Kraft Europas hervorgegangen war. Das aus der dogmatischen Auffassung aller göttlichen und irdischen Verhältnisse, aus der Ansicht vom Gottesstaat entsprungene Prinzip der päpstlichen Weltregierung war so stark geworden, daß weder der byzantinische Cäsarismus noch die griechische Kirche ein Gegengewicht dafür besaßen. Schon Gregor VII. hatte die Wiedervereinigung der Kirche des Ostens mit Rom durch einen Kreuzzug ins Auge gefaßt. Wenn sich nun das zur Universalgewalt aufsteigende Papsttum mit den kriegerischen Leidenschaften des Abendlandes und dem Kolonisationstriebe der westlichen Seestädte verband, so konnte das immer schwächer werdende griechische Reich in den Fluten dieser Strömung begraben werden.

Seinen Fall hielt noch die ungewöhnliche Kraft der Komnenen auf. Die Klugheit Alexios' I., welcher Normannen, Petschenegen, Kumanen und Seldschuken glücklich bekämpft, die Gefahr des ersten Kreuzzuges zu seinem Vorteil abgelenkt und selbst Boemund als Fürsten Antiochias seiner kaiserlichen Hoheit unterworfen hatte, ging nach seinem Tode im August 1118 auf seinen edlen und mannhaften Sohn Kalojohannes über. Diesem aber folgte im April 1143 der noch glänzendere Manuel I., der letzte große Herrscher des Komnenenhauses, der unter unablässigen Kriegen das Reich bis 1180 regierte, selbst den Hohenstaufen gegenüber in Italien eine drohende Stellung einnahm und Konstantinopel wieder zum politischen Mittelpunkt des Morgenlandes machte.Als solchen schildert die Stadt Eustathios in seiner Grabrede auf diesen Kaiser, c. 21.

Gerade Manuel erlebte einen der heftigsten Angriffe der Normannen. Denn deren Unternehmungen nahm Roger II. auf, der Neffe Guiscards, seit 1130 König des mit Apulien vereinigten Sizilien. Er benutzte den zweiten Kreuzzug unter Konrad III. von Deutschland und Ludwig VII. von Frankreich zu einer Kriegsfahrt gegen Griechenland, von wo der mißtrauische Kaiser seine Truppen nach Konstantinopel gezogen hatte. Der sizilianische Admiral Georg von Antiochia, ein Grieche von Geburt, überfiel mit einer starken Flotte im Jahre 1146 erst die Insel Korfu, umsegelte dann den Peloponnes, bestürmte fruchtlos das starke Monembasia, plünderte die Küsten Achaias und Ätoliens, fuhr dann in den Golf von Korinth und landete im Hafen Salona. Das normannische Kriegsvolk rückte von dort nach Theben, welches vom Strategen von Hellas verlassen war und nicht verteidigt wurde. Diese wohlhabende Stadt war wie Korinth und Konstantinopel selbst durch ihre Seidenfabriken berühmt, in denen seit Jahrhunderten ein großer Teil der Gewänder von Purpursamt gefertigt wurde, welche der Luxus der Höfe und des Kirchenkultus gebrauchte.Die Seidenindustrie blühte in Griechenland seit dem Ende des 10. Jh. und ihre Mittelpunkte waren lange Zeit hindurch Konstantinopel und Theben. Pariset, Hist. de la Soie II, p. 19, p. 64. Die byzantinische Regierung pflegte diese vornehme Kunstindustrie mit so großer Sorgsamkeit, daß sie die Fischer, die aus Korinth und Nauplion, aus Chalkis, Karystos und Athen zum Sammeln der Purpurmuscheln ausliefen, von der Militärsteuer befreite; und mit Eifersucht hütete sie das Geheimnis der Manufakturen vor dem Auslande.Auch die Pergamentfabrikanten waren steuerfrei: κογχυλειταί, χαρτοποιοί, Konst. Porphyr., De adm. imp., c. 51. Michael Akominatos, Op. ed. Lambros, II, p. 275, spricht von Fischern der Purpurmuscheln, die nach Keos kamen. Die Fabrikation der Seide wurde in Griechenland so lebhaft betrieben, daß sie den freilich sehr gefährlichen Wetteifer der arabischen Erzeugnisse Syriens und der persischen auszuhalten imstande war.

Die Normannen plünderten mit barbarischer Roheit Theben aus. Gold und Silber, Seidenstoffe, brokatene Linnengewänder, die Schätze der Kaufhallen und der Kirchen dieser Stadt wurden fortgeschleppt, viele edle Männer und Frauen, auch Seidenweber und Purpurfärber, hinweggeführt.Niketas von Chonä, lib. I, p. 99, nennt ausdrücklich χρυσοϋφεὶς οθόνας, Leinenzeuge mit Goldbrokat, und Frauen schön und reich καὶ τὴν ιστουργικὴν κομψότητα καλω̃ς επισταμέναι. Der König Roger siedelte diese Fremdlinge in Palermo an, um ihre Kunst in Sizilien heimisch zu machen. Das Schicksal Thebens erlitt sogar Korinth, damals in Griechenland das reichste Emporium des Levantehandels nächst Thessalonike. Die normannischen Krieger selber erstaunten, als der feige byzantinische Befehlshaber ihnen die uneinnehmbare Burg Hohenkorinth ohne Widerstand übergab. Unermeßliche Kostbarkeiten fielen auch hier in die Hände der Räuber.

Indem die Normannen Böotien ausplünderten und selbst einen flüchtigen Einfall nach Euböa oder Negroponte wagten, konnte sie wohl auch das nahe gelegene Athen zu einem Raubzuge reizen. Sie scheinen in der Tat in das attische Gebiet eingedrungen zu sein.Annal. Palidenses, M. Germ. XVI, p. 83: »Atheniensium namque fines invadens idem Rogerius multa cum eis conseruit praelia, quorum anceps... victoria.« Nur ein einziger deutscher Geschichtsschreiber behauptet, daß sie auch Athen erreicht und geplündert haben.Otto v. Freising, De gest. Frid. I, c. 33: »Inde ad interiora Graeciae progressi, Corinthum, Thebas, Athenas, antiqua nobilitate celebres, expugnant.« – Chron. Andreae Danduli, p. 282, nennt nur »Corinth., Theb., Negropontem et alia loca.« Die Annal. Cavens. (M. Germ. III, p. 192): »Estivam et Corinthum omnemq. illam maritimam usq. ad Malvasiam cepit.« Siegbert, M. Germ. VI, p. 483: »Corinthum...« Romuald, M. Germ. XIX, p. 424: »Corinthum vero et Stipham ceperunt.« – Auch Cinnamus (lib. III, p. 92, 119), der zur Zeit Manuels I. schrieb, nennt als geplündert nur Korinth, Euböa und Theben. Allein die Einnahme dieser Stadt würde doch von griechischen und lateinischen Chronisten ebensowenig verschwiegen worden sein wie die Plünderung Thebens und Korinths. Als später der Kaiser Manuel mit dem Könige Roger Frieden schloß und dieser die gefangenen Griechen herausgab, wird ausdrücklich bemerkt, daß er die Korinther und Thebaner geringeren Standes, zumal Seidenweber, behalten durfte; athenischer Gefangener aber wird dabei nicht gedacht.Niketas, De M. Comneno II, c. 8. Daher ist es als sicher anzunehmen, daß ein guter Genius Athen auch diesmal verschonte.

Kaum zwei Dezennien später besuchte der Reisende Benjamin von Tudela Griechenland; seine höchst wertvollen Berichte zeigen, daß der Normanneneinfall dort keine ihm auffallenden Spuren mehr zurückgelassen hatte. Der spanische Rabbi reiste zwischen 1160 und 1173 über Südfrankreich, Italien und Griechenland bis tief nach Asien. Da es sein Zweck war, die Zustände der jüdischen Glaubensgenossen zu erforschen, hat er in seinem Reisebericht von Spanien bis nach Persien die Städte angegeben, in denen sich Israeliten befanden.Cormoly, Notice historique sur Benjamin de Tudèle, nouv. éd., Bruxelles 1852, p. 10ff. Seit langer Zeit hatten sich ihre fleißigen Gemeinden auch auf dem griechischen Festlande und den Inseln angesiedelt.

Benjamin traf Juden in Patras, in Lepanto, in Krissa, selbst auf dem Götterberge Parnaß, wo sie in Ruhe Landgüter bebauten; ferner in Korinth. Er hat sodann Theben als eine »große Stadt« ausgezeichnet, in welcher er zweitausend Hebräer vorfand, fast so viele als zu Pera in Konstantinopel, und unter ihnen bemerkte er sowohl talmudische Gelehrte als die geschicktesten Seidenweber und Purpurfärber Griechenlands. Demnach hatte sich Theben von der normannischen Plünderung bereits erholt und seine Industrie wiederhergestellt.

Der Rabbi ging weiter nach Negroponte (Egripos), das alte Chalkis in Euböa, ohne, was sehr auffallend ist, für Athen einen Blick oder ein Wort zu haben. Da wir demselben Reisenden einen sehr merkwürdigen Beitrag zu den Mirabilien der Stadt Rom verdanken, so würden wir vielleicht in seinem Itinerarium Ähnliches über Athen lesen, wenn er die berühmteste Stadt Griechenlands wirklich besucht hätte. Es ist wahrscheinlich, daß Benjamin Athen deshalb zur Seite liegen ließ, weil es dort keine Juden gegeben hat. Der Apostel Paulus hatte eine jüdische Gemeinde in Athen gefunden; ihre späteren Schicksale aber kennen wir nicht. Während des Mittelalters und bis auf den heutigen Tag hat die Stadt Athen die Hebräer von sich ferngehalten. Noch Guillet bemerkte im 17. Jahrhundert: »Juden hat man in Athen niemals dulden wollen, obwohl es deren genug in der Nachbarschaft gibt, in Theben und in Negroponte. Im ganzen türkischen Reich haben nur Athen und Trapezunt das Privilegium des ewigen Ausschlusses der Hebräer bewahrt.«Athènes ancienne et nouvelle, 1676. – Dies bestätigt Spon, Voyage II, p. 235. – Die ›Ephimeris‹ vom 13. Nov. 1882 hat als Kuriosum mitgeteilt, daß der erste Israelit (aus Korfu) an der Universität Athen immatrikuliert wurde. Wenn es also in Athen keine oder nur wenige Juden gab, so konnte dort die Seidenweberei und Purpurfärberei nur von geringer Bedeutung sein. Trotzdem gibt es Beweise, daß diese Industrie daselbst nicht ganz gefehlt hat. Man hat im Odeon des Herodes dicke Lagen von Purpurmuscheln gefunden.Finlay, Hist. of Greece IV, p. 56. Otto v. Freising, De gestis Frid. I, p. 33, erwähnt der Seidenfabrikation in Athen neben der in Theben und Korinth. Eine athenische Inschrift vom Jahre 1061 bemerkt einen Fischer solcher Muscheln.Johannes κογχαλάριος. Pittakis, Ephim., n. 1582, p. 937. Aus demselben 11. Jh. werfen n. 1582 u. 1589 ein Dämmerlicht auf den athen. Beamtenstand: Joh. asecretis Grammateus; Stephanos Protocritor. Selbst das Dasein von Juden in Athen könnte aus einer Inschrift, wenn auch ohne Sicherheit, gefolgert werden.Ephimer., n. 271 (Böckh I, n. 9900), und besser ediert von Kumanudis (Att. Epigr., n. 3573). Hier werden Jakob und Leontios, die Söhne eines Jakob von Cäsarea, genannt. Doch bleibt es zweifelhaft, ob sie Juden waren. Lambros, Athen am Ende des 12. Jh., p. 31.

Man hat behauptet, daß in der Mitte des 12. Jahrhunderts Athen, wie Theben und Korinth und das ganze Griechenland, wieder in hohe Blüte gekommen sei und sich dafür auch auf den berühmten Zeitgenossen Benjamins von Tudela, den in Ceuta geborenen und in Cordoba gebildeten Araber Edrisi berufen. In seinem um 1154 vollendeten und für Roger II. von Sizilien verfaßten Werk zählt dieser Geograph viele Binnenstädte und Hafenorte Griechenlands auf und bemerkt, daß Athen eine von Gärten und Äckern umgebene, volkreiche Stadt sei.Geographie d'Edrisi, ed. Amédée Jaubert, Paris 1846, p. 295: »Athènes est une ville populeuse...« Edrisi schreibt »Athina« und nennt Theben »Astibas«, das »Estiva« der Annal. Cavenses. Allein die Berichte Edrisis sind nicht immer auf eigener Anschauung begründet, da er der Anordnung des Königs gemäß die verschiedenen Länder von gebildeten Männern bereisen ließ und sich dann ihrer Angaben bediente.

Das Stillschweigen Benjamins von Tudela lehrt wenigstens so viel, daß Athen zu seiner Zeit keine so hervorragende Stellung in Hellas einnahm, daß auch ein gebildeter jüdischer Reisender von ihr notwendig hätte reden müssen. Die Stadt konnte damals nicht mit dem Wohlstande von Negroponte, Patras, Monembasia, Theben und Korinth wetteifern, vielmehr haben ihren tiefen Verfall gerade gegen das Ende des 12. Jahrhunderts die authentischen Berichte eines Griechen dargetan, welcher ihr eigener Erzbischof war.


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