Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.

Während das Evangelium den Widerstand der platonischen Philosophenschule und der antiken Gewohnheiten des Volks in Athen immer mehr zu lockern vermochte, schwanden auch die politischen Formen des Altertums, indem sie der gleichförmigen römischen Munizipalverfassung Platz machten. Vor der Mitte des 5. Jahrhunderts bemerkte der Kirchenvater Theodoret, der im Jahre 458 als Bischof von Kyros starb: Nach römischen Gesetzen werden die Städte der Griechen verwaltet; bei den Athenern sind müßig der Areopag, die Heliaia und der alte Gerichtshof des Delphinion, der Rat der Fünfhundert, die Elfmänner und die Thesmotheten; der Polemarch und der Eponym-Archont sind zu Begriffen geworden, welche nur die wenigen kennen, die in den Schriften der Alten bewandert sind.καὶ αργει̃ μὲν παρ' ’Αθηναίοις ο ’Άρεος πάγος... Theodoreti IX. De Legibus, Migne IV, 1339. Die Zeit des Aufhörens dieser städtischen Magistrate fällt wahrscheinlich in die Regierung Theodosios' II., wo das große Gesetzbuch, der von ihm genannte Kodex, abgeschlossen worden ist.Hertzberg, Gesch. Griech. unter den Römern III, S. 425ff. Beutler, De Athenar. Fatis, p. 37, setzt für das Erlöschen des Areopags im allgemeinen das 5. Jh. an.

Das Kollegium der Archonten ist vielleicht schon unter diesem Kaiser durch eine neue Munizipalbehörde verdrängt worden; allein in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts finden sich noch zwei vornehme Athener aus den Kreisen der Wissenschaft, Nikagoras der Jüngere und Theagenes, als die letzten Eponym-Archonten, was immerhin beweist, daß die Athener diese uralte Würde wenigstens als Ehrentitel bis dahin festgehalten haben.Corsini, Fasti Attici IV, 199. 201. Nach seiner Ansicht erlosch der Name des Eponym-Archonten in Athen um 500.

Immer tieferes Dunkel senkte sich auf Athen und Hellas nieder. Glücklicherweise wurde Altgriechenland von den Stürmen der Hunnen und Vandalen, einige Plünderungen der Küsten abgerechnet, verschont. Selbst der Fall des weströmischen Reichs unter die Gewalt der Germanen übte zuerst nur einen günstigen Einfluß auf die althellenischen Länder aus. Die Ostgoten, welche unter ihrem Könige Theoderich Thessalien und Makedonien verheert und die Einfälle Alarichs zu wiederholen gedroht hatten, zogen mit dem Willen des Kaisers Zenon nach Italien, um dieses Land dem Usurpator Odoakar zu entreißen. Die Flut der germanischen Barbaren floß demnach von der Donau nach dem Abendland ab. Als Provinz Ostroms, den Heerstraßen der Wandervölker entrückt, blieb Hellas geraume Zeit von den Streifzügen fremder Horden frei und konnte allmählich seine Verluste ersetzen. Allein das politische Leben war erloschen, und weder Handel noch Industrie gaben den Griechenstädten mehr eine besondere Bedeutung. Außer dem reichen Emporium Thessalonike zeichnete sich nur noch Korinth als Handelsstadt und Metropole der Eparchie Hellas-Achaia aus, während Athen nur die Metropole Attikas wie Theben diejenige Böotiens war.Im Synekdemos des Hierokles aus dem 6. Jh. heißt es: Θη̃βαι μητρόπολις Βοιωτίας... ’Αθη̃ναι μητρόπ. ’Αττικη̃ς... Κόρινθος μητρόπ. πάσης ‛Ελλάδος. Metropolis ist hier politischer Begriff. Sparta war Metropolis Lakoniens.

Obwohl durch die Universitäten in Konstantinopel, in Thessalonike, Antiochia und Alexandria allmählich verdunkelt, glänzten auch jetzt noch in den Schulen Athens einige Männer, die letzten altgläubigen Philosophen in der »goldenen Kette« Platos. Selbst Ausländer fuhren noch fort, in Athen ihre Bildung zu vollenden. Der armenische Geschichtsschreiber Moses von Chorene studierte dort und in Alexandria. Daß Boethius, der letzte Philosoph unter den Römern, als Jüngling lange Jahre in Athen gelebt und auch den gefeierten Platoniker Proklos gehört habe, ist freilich nur eine Fabel.Corsini, Fasti Att. IV, 201, rechnet aus, daß er 485, im Todesjahre des Proklos, nach Rom zurückgekehrt sei. Allein seine Rechnung ist mehr als zweifelhaft. Auch Gibbon V, c. 39, glaubt an das Studium des Boethius in Athen, jedoch die Stelle im Cassiodor., Var. I., ep. 45: »Sic enim Atheniensium scholas longe positas introisti« sagt eher das Gegenteil. »Introisti« wird gleich darauf im Sinne des Kennenlernens überhaupt gebraucht: »In preclaram artem... per quadrifarias mathesis januas introisti.« Die besten Lehrer der Hochschule waren übrigens nicht Einheimische, sondern zugewanderte Hellenen aus der Fremde, wie Syrianos, der Alexandriner, und sein Schüler Proklos, der Lykier aus Konstantinopel. Doch gab es in Athen zu jener Zeit auch hochgebildete und reiche Eupatridengeschlechter. Der letzte wissenschaftliche Mäzenat der Stadt des Perikles ist an die Namen Nikagoras, Archiadas und Theagenes geknüpft.

In welches ärmliche Wesen immer diese Schule eleusinischer Schwärmer und Geisterseher ausgeartet sein mußte, so war es doch für die Athener ehrenvoller, ihr städtisches Leben mit dem Parteikampf um die Besetzung der Professorenstühle und mit ihren platonischen Träumen auszufüllen, als es für die Römer, Byzantiner und Alexandriner derselben Zeit der wütende Streit um die Faktionen der Rennbahn sein konnte. Während die Reichsgesetze den Götterkultus unterdrückt hatten, fristete der klassische Hellenismus in den Reflexen der Philosophie des Pythagoras und Plato noch sein schwindendes Leben fort, bis auch dieses infolge von gewaltsamen Maßregeln des Kaisers Justinian erlosch. Der Gesetzgeber des christlichen Römerreichs entsagte dem Grundsatze seiner Vorgänger, die Reste des Heidentums auf den Lehrstühlen der Wissenschaft und in Staatsämtern zu dulden; er verhängte gegen sie schonungslose Verfolgungsedikte.Joh. Malalas XVIII, 449. Prokop., Hist. Arc. III, c. 11. Man hat ihm endlich auch die Schließung der Universität Athen zugeschrieben, insofern sich diese mit Notwendigkeit aus einem im Jahre 529 erlassenen Verbot ergeben mußte, dort fernerhin Philosophie und die Rechte zu lehren. Allein der wenig glaubwürdige byzantinische Chronist Malalas, welcher von diesem Edikt redet, scheint sich selbst zu widersprechen, indem er berichtet, daß der Kaiser im Jahre 529 sein neues Gesetzbuch nach Athen und Berytos schickte. Eine Rechtsschule in Athen ist freilich nicht bekannt. Prokopios sagt nichts von jenem Verbot; nur aus seiner Bemerkung, Justinian habe die öffentlichen Lehrer ihres Unterhaltes beraubt und die Privatstiftungen für wissenschaftliche Zwecke konfisziert, hat man gefolgert, daß sich diese Maßregel vor allem auf die Akademie Athens erstreckt habe, deren uraltes, sehr ansehnliches Stiftungsvermögen vom Kaiser eingezogen worden sei.Prokop., Hist. Arc., c. 26. Er sagt nichts von Athen. Alle neueren Forscher über die Schicksale der platon. Akademie haben die Schließung derselben infolge der Einziehung des Stiftungsvermögens angenommen; doch hat sich Lasaulx begnügt zu sagen: Das Stiftungsvermögen der platon. Akad. blieb, wie es scheint, konfisziert. Den entschiedensten Zweifel an der Vernichtung der athen. Universität durch Justinian hat Paparrigopulos ausgesprochen: Gesch. des hellen. Volks III, 1872, S. 202ff.

Die Aufhebung der Hochschule Athen durch Justinian ist als ein solenner geschichtlicher Akt nicht zu erweisen; doch sprechen alle Gründe der Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser Kaiser den Fortbestand der Akademie unmöglich gemacht hat. Die letzten Philosophen Athens sollen mit ihrem Scholarchen Damaskios an den Hof des Perserkönigs Chosrau ausgewandert sein, um dann, in ihrer Hoffnung, dort ein Asyl für ihre Ideale zu finden, bitter getäuscht zurückzukehren und in Griechenland zu verschwinden.Agathias, Hist. II, 30, nennt sie mit Namen: Damaskios, Simplikios, Eulalios, Priskianos, Hermias, Diogenes und Isidoros. Ihre pythagoreisch-mystische Siebenzahl ist etwas bedenklich. Das ruhmvollste Institut des Hellenentums, dessen letzte geistige Kraft schon mit dem Tode des Proklos am 17. April 485 erstorben war, schwand an eigener Erschöpfung hin und erlosch unbemerkt nach einer Dauer von mehr als acht Jahrhunderten seit Plato. Wenn sich auch in Athen noch private Schulen der Rhetorik und Grammatik fortsetzten, so erlangten sie doch keine wissenschaftliche Wirksamkeit mehr. Die griechische Literatur fand seitdem Schutz und Pflege in byzantinischen Gelehrtenschulen, hauptsächlich in Konstantinopel und zum Teil in Thessalonike.

Eunapios hatte das übertriebene Urteil gefällt, daß Athen schon seit dem Tode des Sokrates nichts Großes mehr vollbracht habe, sondern mit dem ganzen Hellas in Verfall gekommen sei.Im Aedesius, p. 462. Seit Justinian aber versiegten tatsächlich die letzten Quellen des athenischen Geisteslebens. Abgesehen von allen andern Vorteilen, welche die Akademie Platos der Stadt Jahrhunderte lang gebracht hatte, war diese Hochschule die Kette gewesen, die sie mit ihrer eigenen großen Vergangenheit, mit Griechenland und der gebildeten Welt verbunden hatte. Gerade der internationale Charakter der Akademie hatte Athen selbst noch in den ersten christlichen Jahrhunderten zur Hauptstadt des Hellenentums gemacht. Als sie aufhörte, dies zu sein, als die lebendigen Traditionen des Altertums mit den Tempeln der Götter, mit den Werken der Kunst und den Gymnasien der Philosophen untergegangen waren, mußte die Stadt der Weisen den Zweck ihres Daseins selbst verlieren. Der stete Traum der Römer noch in ihrer tiefsten Versunkenheit während des Mittelalters war die Wiederherstellung des Imperium romanum, der alten legitimen Weltherrschaft der ewigen Stadt; sie verwirklichten ihn, weniger in der Erneuerung des Kaisertums als in der weltumfassenden Größe des Papsttums. Aber kein Athener hat mehr in den dunklen Jahrhunderten beim Anblick zertrümmerter Bildsäulen des Phidias und der Ruinen der Akademien des Plato und Aristoteles von der Wiederherstellung der Weltherrschaft Athens im Reich der Künste und Wissenschaften zu träumen gewagt. Die edelste der Menschenstädte trat hoffnungslos in ihre dunkelste byzantinische Epoche ein, in welcher sie nichts mehr war als die ausgebrannte Schlacke des idealen Lebens ihrer Vergangenheit. Denn nie mehr fand in ihr eine solche Verbindung von physischen und intellektuellen Kräften statt, welche sie befähigt hätte, in der neuen christlichen Form zu neuer Größe aufzuerstehen.

Die Zeit des Hellenismus überhaupt war abgelaufen, und dieser verwandelte sich in das Byzantinertum. Das zur Weltherrschaft emporgestiegene Neu-Rom am Bosporos blickte daher mit immer größerer Geringschätzung auf die gesunkene Führerin Griechenlands, die kleine Provinzialstadt Athen, welche noch die abgenutzte Legitimität ihres klassischen Geistesadels geltend machen wollte. Ein byzantinisches Epigramm unbekannter Zeit vergleicht beide Städte miteinander: Die Erde des Erechtheus habe Athen emporgehoben, aber vom Himmel selbst sei die neue Roma herabgestiegen, deren Schönheit alles Irdische wie der glanzvolle Pol überstrahlt.Cramer, Anecdota graeca Parisiensia IV, p. 315. Ihr Athener, so drückt sich ein anderes Epigramm aus, führt immer die alten Philosophen im Munde, Plato, Sokrates, Xenokrates, Epikur, Pyrrho und Aristoteles; allein nichts ist euch übriggeblieben als der Hymettos und sein Honig, als die Gräber der Toten und die Schatten der Weisen; doch bei uns ist der Glaube und auch die Weisheit zu finden.Πολει̃ παρ' ημι̃ν πίστις, καὶ σοφοὶ λόγοι. Ibid. Carl Neumann, Griech. Geschichtsschreiber und Geschichtsquellen im 12. Jh., Leipzig 1888, S. 39

Der Begriff »Hellas« konnte immerhin, wegen der mit ihm unzertrennlich verbundenen Erinnerungen an die demokratische Freiheit, für die byzantinische Cäsardespotie abschreckend sein;S. Zampelios, ’Άσματα δημοτικὰ τη̃ς ‛Ελλάδος, Korfu 1858, p. 81. doch hat ihn wesentlich die griechische Kirche erniedrigt und verhaßt gemacht. Die Götter der Hellenen blieben für dieselbe nicht wesenlose Einbildungen der Phantasie, sondern wirkliche böse Dämonen, die diabolischen Feinde des Christentums; die Hellenen selbst aber waren die Schöpfer und Träger des Götterdienstes, und deshalb fand die Kirche keinen passenderen Ausdruck für Heidentum als den des Hellenentums. Noch lange nach Justinian galten den Byzantinern beide Begriffe als synonym. So gebraucht im 12. Jahrhundert Zonaras, durchaus wie Prokopios, das Wort Hellene für Heide, indem er von dem bilderstürmenden Kaiser Konstantin Kopronymos sagt, daß er weder Christ noch Hellene, noch Jude, sondern ein Gemisch von aller Gottlosigkeit gewesen sei.ου γὰρ χριστιανός, ουχ ‛Έλλην, ουκ ’Ιουδαι̃ος ετύγχανεν ών – Epitome Histor., ed. Dindorf, III, p. 344. ‛Ελληνικὸν ιερόν ist gleichbedeutend mit »Heidentempel«. Statt des verabscheuten Wortes »Hellenen« kam für die christlichen Eingeborenen Altgriechenlands der neue Name der Helladikoi in Gebrauch. Wie zur Zeit der Römer Griechenland seinen glorreichen Namen mit dem Achaias vertauschen mußte, so mußte es ihn unter den Byzantinern dem Christentum zum Opfer bringen, oder es behielt ihn nur als ein Brandmal der Gottlosigkeit.

Die antike Religion war freilich aus den Städten geschwunden, aber sie erhielt sich heimlich in neuplatonischen Sekten. Noch Jahrhunderte hindurch fanden auch die Idole der Griechen ihre Anhänger in unwegsamen Landstrichen und Gebirgen, namentlich im Taygetos. Die heidnische Naturseele pflanzte sich in den christlichen Geschlechtern fort, und noch am heutigen Tage ist die Phantasie des neugriechischen Volks mit zahllosen Vorstellungen aus der antiken Mythologie getränkt.Bernhard Schmidt, Das Volksleben der Neugriechen und das hellen. Altertum, Leipzig 1871.


 << zurück weiter >>