Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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3.

Nach dem Falle der Hauptstadt war Balduin II., begleitet von Marco Gradenigo, dem venezianischen Podesta, vom Patriarchen Giustinian und vielen andern Flüchtlingen, zunächst nach Euböa entronnen; dann lud ihn der Herzog Guido nach Theben und Athen ein.Marin Sanudo, p. 115, nennt nur Theben, aber eine Urkunde, die ich angeben werde, zeigt, daß Balduin auch nach Athen ging. Der letzte lateinische Kaiser Konstantinopels besuchte wie einst sein Vorgänger Heinrich, aber als armseliger Verbannter, Athen, und hier umgaben ihn seine ehemaligen Vasallen, die La Roche, die Dreiherren Euböas, der venezianische Bailo Negropontes Lorenzo Tiepolo, die Gemahlin des Angelo Sanudo, des Herzogs von Naxos, und viele andere vornehme Franken, welche die Ruinen der Akropolis nur als das Leichengefolge eines erstorbenen Reiches beleben konnten. Der flüchtige Kaiser hatte keine anderen Ehren auszuteilen als den Ritterschlag und keine anderen Schätze mit sich gebracht als einen Rest von Reliquien aus der unermeßlichen, aber von den Lateinern doch fast schon erschöpften byzantinischen Schatzkammer solchen heiligen Plunders. Er war dem Baron von Karystos, Otto de Cicons, 5000 Hyperpern schuldig, wofür er ihm einen der vielen Arme verpfändet hatte, mit denen Johannes der Täufer wie Briareus ausgerüstet war. Er konnte lachen, weil sein Gläubiger gutmütig genug war, diese Knochen jener Summe gleichwertig zu finden, und dafür die Schuld quittierte.Urkunde aus d'Achery III, 642, Oct. 1261 Athenarum, bei Riant, Exuviae sacrae Constantinopolitanae II, p. 144. Die Reliquie, die übrigens in einem kostbaren Schrein mit griechischer Inschrift lag, schenkte dann Cicons der Abtei Citeaux; ibid., p. 145ff. Du Cange, Hist. de Cp. I, p. 367.

Von Athen ging Balduin weiter nach Achaia, schiffte sich im Hafen Clarenza nach Apulien ein, besuchte den König Manfred, der ihn reich beschenkte, und erschien dann in Frankreich als Prätendent seines verlorenen Reichs, mit dessen Titeln er einen noch vorteilhafteren Handel trieb als mit den Reliquien der griechischen Heiligen. Diese Titel waren zwar tatsächlich wertlos geworden, jedoch fürstliche Käufer von wirklicher Macht konnten sie zu rechtsgültigen Urkunden stempeln und ihnen eine geschichtliche Bedeutung verleihen.

Unterdes befand sich der Fürst von Morea noch immer in der Haft des sieggekrönten Kaisers Michael in den Blachernen oder im Bukoleon. Er überzeugte sich jetzt, daß ihm nach dem Falle Konstantinopels nur die Wahl übrig blieb zwischen der Annahme harter Bedingungen oder hoffnungsloser Gefangenschaft. Da er die ersteren wählte, so konnte er nicht zum Vorbilde jenes standhaften Prinzen von Portugal dienen, welcher den Tod im Kerker seines Feindes der Auslieferung einer einzigen Festung an den Sultan von Marokko vorzog. Nach peinvollem und langem Sträuben nahm Wilhelm II. das ihm gestellte Ultimatum an: sich dem Palaiologos als rechtmäßigem Kaiser des Reichs der Romäer zu unterwerfen, ihm die Festungen Maina, Misithra, Geraki und Monembasia abzutreten und für das ihm noch gelassene Morea zu huldigen. Michael VIII. hatte auch Argos und Nauplion verlangt, aber er stand davon ab, weil ihm Villehardouin vorstellte, daß er den Herzog von Athen nimmer zwingen könne, dieses Besitztum des Hauses La Roche ihm auszuliefern.So ist Pachymeres I, p. 188, zu verstehen: ’Ανάπλιον δὲ καὶ ’Άργος εν αμφιβόλοις ετίθει. Nach dem Liv. d. l. Cq. verlangte der Kaiser die Abtretung von Malvasia, Misithra und Maina; die aragon. Chronik, p. 67, fügt sogar noch Korinth hinzu, welches indes der Kastellan nicht herausgab. Der spätere Phrantzes lib. I, p. 17, sagt: Μονεμβασίαν καὶ τὰ Λευ̃κτρα Μαΐνης, η καὶ Ταιναρία πάλαι άκρα εκαλει̃το παρ' ‛Έλλησι, καὶ τὴν Λακωνικὴν Σπάρτην. Dies hat Phrantzes aus Nikephoros Gregoras IV, c. 1, entlehnt, der im 14. Jh. schrieb. Da der Fürst die Erfüllung seines Verzichts auf jene lakonischen Städte, die er übrigens selbst erobert hatte und deshalb als seine eigene Domäne ansah, noch von der Zustimmung der Großen Moreas abhängig machte, so wurde Gottfried von Bruyeres aus dem Gefängnis entlassen, um diese einzuholen.

Der Herzog von Athen empfing mit Freuden seinen Schwiegersohn in Theben, aber als Bail Achaias mußte er über die ungeheure Zumutung erschrecken, den Griechen mit den stärksten Festungen des Peloponnes auch das Schicksal der Lateiner zu überliefern. Er berief die Haute Cour der Barone nach Nikli. Die Chronik von Morea bemerkt, daß dies Parlament größtenteils aus Damen bestand, den Frauen oder Witwen der bei Pelagonia verunglückten Edlen, und daß zu ihrem Beistande dienten der Kanzler Achaias Leonardo, ein Italiener aus Veruli in Latium, und der greise Pierre de Vaux, »denn alle Edelleute des Landes waren mit dem Fürsten gefangen worden«. Man wird hier zwar nicht die Abwesenheit, aber doch das Nichthervortreten der Geistlichkeit bemerken und daraus den Schluß ziehen, daß der Einfluß der Kirche auf die Staatsangelegenheiten im Fürstentum Morea nicht groß war.

Das Parlament zu Nikli bot die Kehrseite zu jenem anderen dar, auf welchem wenige Jahre früher dieselben Männer Guido von Athen und Gottfried von Karytena die Gnade ihres Überwinders Villehardouin hatten erflehen müssen. Von ihnen war jetzt der eine der Anwalt seines die Befreiung fordernden Lehnsherrn, der andere der Vertreter des in seinem Bestande gefährdeten Landes Achaia. »Frau Fürstin und ihr andern Herren Prälaten und Ritter«, so sagte der Herzog von Athen, »ich habe zwar zuvor um meiner Rechte willen meinen Herrn, den Fürsten, mit den Waffen bekämpft, aber deshalb darf niemand wähnen, daß ich nicht seine Erlösung sehnlich herbeiwünsche. Nur werde ich niemals für die Herausgabe der drei Festungen an den Kaiser stimmen. Besitzt er dieselben, so wird er darin so viel Kriegsvolk legen, daß er uns aus dem Lande herauswerfen wird. Wenn es sein kann, so biete ich zur Befreiung des Fürsten meine eigene Person dar; ist es aber um Lösegeld zu tun, so will ich mein ganzes Land für ihn verpfänden.«

Guido mußte die Folgen der Auslieferung Lakoniens für sein eigenes Herzogtum fürchten. Wenn der Chronik von Morea zu trauen ist, stellte er sich auf einen heroischen Standpunkt, indem er erklärte, daß es die Pflicht Villehardouins sei, eher wie ein freier Mann und Christ zu sterben, als sein Land den Griechen abzutreten.»Si feroit comme frans sires et comme Jhesus Christ fist pour racheter son peuple, pour ce qu'il voudroit mieux morir ung home que cent mille.« Livre d. l. Cq., p. 152; Chron. v. Morea, p. 164. Hopf I, S. 285, bezieht sich dagegen auf den Bericht des Marin Sanudo, wonach die Barone den Antrag Bruyeres zurückwiesen und Guido für ihn stimmte »accio non fosse tenuto traditore in corte del re di Francia«. Ähnlich behauptet die aragon. Chronik von Morea, daß Guido dafür stimmte, um nicht glauben zu machen, daß er aus Rache den Fürsten in der Gefangenschaft lassen wolle. Das Parlament und mit ihm endlich auch der Herzog von Athen entschieden sich für die Annahme der Bedingungen des Kaisers. Gottfried von Bruyeres nahm, da es augenblicklich für diesen Zweck an angesehenen Männern im Lande fehlte, zwei edle Damen, Margarete, die Tochter des Jean de Neuilly von Passava, des Marschalls Achaias, und mit ihr die Schwester des Großkonnetabel Jean Chaudron, als Geisel nach Konstantinopel. Diese Frauen unterwarfen sich voll Kummer, doch ohne Murren den Lehnsgesetzen, welche den Vasallen zur Pflicht machten, in Zeiten der Not für die Erhaltung ihres Oberherrn mit ihrer eigenen Person einzustehen.

Der Fürst von Achaia beschwor nach der Ankunft der Geiseln den Vertrag und machte einen ewigen Frieden mit dem Kaiser Michael; er huldigte diesem als seinem Oberherrn, empfing von ihm als Lehnsmann die Würde des Großmarschalls Romaniens und übernahm das Patenamt bei der Taufe eines kaiserlichen Sohnes.

Als hierauf Wilhelm II. im Frühling 1262 nach dreijähriger Gefangenschaft in sein Land heimkehrte, war der Stern seines Hauses erblichen. In die ihm ausgelieferten Festungen legte der Kaiser sein Kriegsvolk unter dem Befehl seines eigenen Bruders Konstantin. Misithra, jene von Wilhelm selbst erbaute gewaltige Burg am Taygetos, wurde fortan der Mittelpunkt des wieder national-hellenisch gewordenen Teiles des Peloponnes, von wo, als aus einer sicheren Festung, die Griechen die Wiedereroberung des noch fränkisch gebliebenen Westens der Halbinsel unternehmen konnten. So war der mächtigste Staat der Lateiner in Griechenland zerbrochen; der Verfall dieses zweiten Frankreichs begann gleichzeitig mit dem Untergange des fränkischen Kaisertums in Byzanz.

Villehardouin hatte sich von Konstantinopel zuerst nach der Stadt Negroponte begeben; dort holte ihn sein ehemaliger Gegner als Herzog von Athen ein, gab seine Vollmacht als Bail Achaias in seine Hände zurück und geleitete ihn nach Theben.Dies weiß die aragon. Chronik von Morea, und daß Guido den Fürsten nach Nikli begleitete. Daselbst wurde am 14. und 16. Mai 1262 der zuvor von Guido vermittelte Friede mit Venedig endgültig abgeschlossen. Die Republik bewahrte sich ihre Besitzungen, ihre Handelsfreiheiten und Zollrechte auf Euböa, aber sie stand fortan davon ab, sich in die Feudalverhältnisse der dortigen Dreiherren einzumischen. Sie wie diese anerkannten sogar die Oberhoheit des Fürsten Achaias über die Inselbarone.Tafel u. Thomas III, n. 348, 349. Actum Thebis in domo et presentia ven. patris Eri, archiep. Thebar. 16. Mai, Ind. V. Die aufsteigende Größe des Wiederherstellers des byzantinischen Reichs gebot allen lateinischen Staaten, sich zu mäßigen und miteinander zu vertragen.

Ein Jahr nach diesem Frieden starb der erste Herzog von Athen nach einer langen und rühmlichen Regierung. Von seinen zwei Söhnen Johann und Wilhelm folgte ihm jener, der älteste. Von den drei Töchtern war Isabella mit Gottfried von Karytena vermählt, Katharina die Gemahlin Karls von Lagonessa, des Seneschalls Siziliens, und Alix heiratete Jean II. d'Ibelin, den Herrn von Beirut aus dem Geschlecht Balians I. von Chartres, welcher um die Mitte des 12. Jahrhunderts das Schloß Iblin in Palästina erworben hatte.Assises de Jérusalem, ed. Beugnot, II, Les Lignages d'outremer, p. 449: »Jehan espousa Aalis la fille dou duc d'Atènes«. Diese Burg gab der in der Geschichte Syriens und Zyperns berühmt gewordenen Familie der Grafen von Jaffa und Askalon und Herrn von Beirut und Rama den Zunamen.


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