Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Gewichtige Gründe sprechen dafür, daß Michael Akominatos noch vor dem Jahre 1175 sein bischöfliches Amt in Athen angetreten hat. In seiner Monodie auf den Tod seines Bruders Niketas hat er selbst die Dauer seiner Amtsführung auf mehr als dreißig Jahre bis zu der Zeit angegeben, wo er die Parthenonkirche zu verlassen genötigt wurde, was, wie wir sehen werden, im Jahre 1205 geschah.εμὲ δὲ τὸν εκει̃σε πεφυτευμένον τὰ πρω̃τα πρὸ δεκάδων ετω̃ν τριω̃ν καὶ υπερέκεινα εκ τη̃ς αυλη̃ς κυρίου αποσπώμενον... Monodie, p. 357. Ich teile nicht die Ansicht meines gelehrten Freundes Spir. Lambros, des verdienten Herausgebers der Schriften des Akominatos, welcher jene 30 Jahre nicht durch die Vertreibung des Bischofs aus Athen im Jahr 1205, sondern durch den, nur mutmaßlich auf 1214 oder 1215 angesetzten Tod des Niketas begrenzt und die Ankunft des Akominatos ins Jahr 1182 setzt (Athen am Ende des 12. Jh., p. 20ff.). Daß er um das Jahr 1179 bereits Erzbischof war, scheint aus einem Briefe des Georgios von Korfu an Nektarios, den Abt von Casuli, einem berühmten griechischen Kloster bei Otranto in Apulien, hervorzugehen, welcher auf dem lateranischen Konzil im März jenes Jahres die Dogmen der orientalischen Kirche standhaft verteidigt hatte; in diesem Briefe spricht Georg von seinem früheren Verhältnis zum Bischof Athens, einem »Licht der Welt«, und dieses glänzende Lob kann sich nur auf den geistvollen Michael Akominatos beziehen.Baronius, Ann. 1179, n. XII: »Cum ego legatione fungebar pro Athenar. Episcopo, orbis scilicet lumine, ejus vices sustinens.« Mustoxidi, Delle Cose Corciresi, p. 417ff., hält den Schreiber des Briefes mit vollem Recht für Georgios Cufará, den Erzbischof von Korfu; dagegen Lambros (Op. Acom. II, p. 625ff.) für Georg Bardanes, der von 1228 bis 1236 Metropolit Kerkyras war. Allein der Abt Nektarios war schon 1181 gestorben. (Fabricii Bibl. gr. IX, p. 311, cur. Harles.) Aus den genannten Gründen entscheide ich mich für die Zeit vor 1175, etwa das Jahr 1174, als Beginn des Bistums des Akominatos. Für 1175 sind auch Ellissen, Paparrigopulos, Hopf, Hertzberg und Uspenkis (in einer mir unzugänglichen russ. Monographie über Mich. Akom., Petersb. 1874).

Für den Schüler des Eustathios, den glühenden Enthusiasten der hellenischen Vorzeit, konnte kaum ein bischöflicher Sitz anziehender sein als die Metropole auf der Akropolis Athens, allein seine idealen Vorstellungen traten alsbald zur Wirklichkeit in verzweifelten Widerspruch. Die Athener empfingen ihn, nachdem er im Piräus gelandet war, mit Enthusiasmus; sie jauchzten ihrem neuen Erzbischof zu und feierten seine Ankunft mit festlichen Spielen und Tänzen.Er selbst spricht von πομπικωτέρας υπαντιάσεως καὶ φαιδροτάτης υποδοχη̃ς καὶ του̃ οι̃ον ενθεαστικου̃ καὶ χαρμοσύνου σκιρτήματος. Am Anfang der Antrittsrede. Doch der Anblick dieses herabgekommenen Volkes verstimmte ihn. Als er in Prozession das klassische Athen betrat, sah er um sich her zerfallene Mauern und hüttengleiche Häuser in armseligen, kümmervollen Straßenvierteln. Er hat dann selbst Athen fast als einen von verarmten Menschen bewohnten Schutthaufen geschildert. Dem Ruin der Stadt entsprach die verödete attische Landschaft, deren antiker Name vielleicht aus dem Gebrauche des Volks verschwunden war.Τὸ όριον ’Αθηνω̃ν, Eparchie oder Landmark: häufiger Ausdruck in den Schriften des Akominatos, der freilich auch den Namen Attika gebraucht. Er spricht auch vom όριον Thebens und des Euripos. Hypomnestikon an den Kaiser Alexios. Op. ed. Lambros I, p. 308.

Er nahm seine Wohnung auf der Akropolis, wo schon seit langen Jahrhunderten das Episkopium eingerichtet war.Daß er dort residierte, ist zweifellos; er selbst schreibt an Michael Autorianos (II, 12) von der Akropolis: εφ' η̃ς εγὼ νυ̃ν καθήμενος αυτὴν δοκω̃ πατει̃ν τὴν άκραν του̃ ουρανου̃ – Wir besitzen sein Metropolitensiegel: ΜΗΡ ΘΥ ΑΘΗΝΙΟ. R) ΜΗΤΗΡ ΟΥ ΒΟΗΘΙ ΜΟΙ ΤΩ ΣΩ ΔΟΥΛΩ ΜΙΧΑΗΛ ΤΩ ΜΗΤΡΟΠΟΛΙΤΗ ΑΘΗΝΩΝ. Beim Anblick der Parthenonkirche mußte der neue Metropolit freilich gestehen, daß wenige Bischöfe in der Christenheit eine gleich herrliche Kathedrale besaßen, wenn es auch eines der damaligen Zeit unmöglichen Kunstgefühls bedurft hätte, sie selbst der heiligen Sophia Konstantinopels vorzuziehen, welche die Byzantiner den Himmel auf Erden nannten.ο περὶ γη̃ν ουρανὸς: Psellos, Leichenrede auf Mich. Kerullarios, Sathas, Bibl. gr. IV, p. 326. ’Έργον αμίμητον καὶ άντικρυς επὶ γη̃ς ουράνιον σφαίρωμα: Niketas im ›Alexius Manuelis‹ c. 8, p. 314. Sie war nach dem eigenen Ausdruck Michaels ein »wunderschöner, hellstrahlender Tempel und anmutsvoller Königspalast, die heilige Wohnung des aus der Gottesmutter leuchtenden wahren Lichts«.Op. I, p. 105.

Er fand den Dom mit Malereien geschmückt und von kostbaren Weihgeschenken namentlich aus der Zeit des Bulgarentöters Basileios angefüllt. Einst hatten die Athener der Athena Polias auf derselben Burg und in demselben Tempel eine goldene Lampe geweiht, welche nur einmal im Jahr mit Öl versehen zu werden brauchte, da ihr Docht von Asbest war. Dies kunstvolle Werk des Kallimachos hat Pausanias beschrieben. Jetzt war an ihre Stelle im Mariendom eine andere ewige Lampe von Gold getreten. Das unversiegbare Öl der christlichen Parthenos erinnert an die Ölquelle in der Marienkirche zu Trastevere in Rom, und leicht konnten die griechischen Priester eine ähnliche im Parthenon erfunden haben, um die antike Salzquelle des Poseidon im Erechtheion zu ersetzen. Die Parthenonlampe war auch im Abendlande berühmt. Der Isländer Säwulf, der zwischen 1102 und 1103 nach Jerusalem pilgerte, bemerkte in seinem Reisebericht: »Athen, woselbst der Apostel Paulus gepredigt hat, ist zwei Tagereisen von Korinth entfernt. Hier ist eine Kirche der Jungfrau Maria mit einer Lampe, in welcher immerfort unversiegbares Öl brennt.«»In qua est oleum in lampade semper ardens, sed nunquam deficiens«: Rel. de Peregrin. Saewulfi ad Hierosol., in: Receuil de Voyages et de Mémoires T. IV, Paris 1839, p. 834.

In derselben Zeit Säwulfs schrieb der Kompilator des ›Liber Guidonis‹, wahrscheinlich ein Ravennate, folgendes: »Athen war einst die Mutter der Philosophen und Redner, wo sich ein göttliches und unauslöschliches Licht im Tempel befindet, welcher Propilia heißt und vor Zeiten vom Könige Jason der immer jungfräulichen Muttergottes Maria erbaut worden ist, mit bewundernswerter Pracht, aus herrlichem Gestein, wie es dort zu sehen ist.«»Divinum lumen atque inextinguibile in templo quod Propilie olim a Jasone rege Dei genetrici semperque virgini Marie conditum...«, Bock, Lettres à M. Bethmann sur un Mscr. de la Bibl. de Bourgogne intitulé Liber Guidonis, Bruxelles 1850, p. 136. Hier zeigt sich schon ein Gefühl für die architektonische Schönheit des Parthenon; auch wird nach dem Ursprunge des Bauwerks gefragt, und dieses den Argonauten zugeschrieben und mit den Propyläen verwechselt.

»Alles ist groß in dieser Kirche«, so schrieb auch Akominatos an den kaiserlichen Admiral Stryphnos, »nichts ist klein in ihr, wie in den alten Mysterien. Du wirst das heilige Licht erblicken, welches keines Holzes und keiner Sonne bedarf, und die Klarheit des Geistes in leiblicher Gestalt der goldenen Taube sehen; dort über dem heiligen Altar umschwebt sie in einem goldenen Kranze das angebetete Kreuz, immer im Kreise leise sich fortbewegend.«

Die feierliche Antrittsrede des Erzbischofs vor den im Parthenon versammelten Athenern ist ein historisches Kleinod von unschätzbarem Wert und ein vollkommenes, wenn auch verspätetes Seitenstück zu der berühmten Predigt Gregors des Großen vor den Römern in St. Peter.Εισβατήριος I, p. 93ff. Alle Kunden Athens verspäten sich für uns, und so trennt beide Patrioten, den Bischof von Rom und den von Athen, ein Zeitraum von sechs Jahrhunderten, obwohl ihre Stellung und Wirksamkeit und die gleich trostlosen Zustände ihrer Städte sie als Zwillingsbrüder erscheinen lassen. Der klassisch gebildete Grieche aus Kleinasien behandelte taktvoll seine Zuhörer als echte eingeborene Erben des Blutes und Geistes ihrer Vorfahren.’Αδηναίοις ου̃σι καὶ εξ ’Αδηναίων αυθογενω̃ν. Dieses Zeugnis würde Fallmerayer in einige Verlegenheit gebracht haben. Er sprach keinen Zweifel an der genealogischen Fortdauer des athenischen Volkes aus; wenn auch jener prachtvolle, mit Blüten und Früchten bedeckte Baum des Altertums verdorrt war, so durfte er doch den Nachwuchs der Enkel als seiner Wurzel entsprossen ansehen.

Er verherrlichte die Stadt als die Mutter der Redekunst und Weisheit und erinnerte ihre Bürger an das schönste der antiken Feste, das des Fackellaufs. Dies daure in der Kirche fort, und sein Kampfrichter sei Christus; ein jeder Gläubige sei zum Wettlauf berufen; aus den Händen seiner Vorgänger habe er selbst die Fackel empfangen, aber er wolle sich nicht eher glücklich preisen, den Bischofssitz des »vielbesungenen goldenen Athen« einzunehmen, als bis auch er den Kranz des Athleten errungen habe. Ich bin, so sagte er, hier noch ein Neuling, und ich weiß noch nicht, ob von dieser Stadt noch mehr übriggeblieben ist als ihr glorreicher Name, wollte mir auch irgendein Perieget deutliche Merkmale von ihr zeigen und mir sagen: dies ist der Peripatos, dies die Stoa, hier die Akropolis, dort die Laterne des Demosthenes; und wollte er so mich überreden zu glauben, daß ich noch die alten Athener vor mir sehe. Allein nicht jenen Denkmälern, sondern nur der Tugend und Weisheit verdanke Athen seinen Ruhm.

Wenn er die Enkel des Perikles mit der Ansicht tröstete, daß die Zeit nicht vermocht habe, das ihrer Natur aufgedrückte Gepräge der Vorfahren auszulöschen, so sprach er freilich nur eine physiologische Lehre von der Unzerstörbarkeit der Arten aus, wie auch Skythen, Ägypter, Kelten, die noch immer verlogenen Kreter, wie selbst Tiere und Pflanzen ihre Artbeschaffenheit forterbten.Diese darwinistische Stelle I, p. 99ff. Darum ermahnte er die Athener, die edlen Sitten ihrer Väter zu bewahren, welche die freigebigsten und menschenfreundlichsten aller Griechen gewesen seien und nichts lieber gehabt hätten als schöne Reden und Musik. So habe Perikles zur Zeit der Pest das murrende Volk durch eine Rede besänftigt, und der Zorn Alexanders sei durch das Flötenspiel des Timotheos beschwichtigt worden. Ob nun sie, die heutigen Bürger Athens, noch von jener goldenen Saat der Alten abstammten, das werde er bald aus ihren Gesinnungen erkennen. Als Christen müßten sie die Tugenden des Aristides, des Ajax, Diogenes, des Perikles und Themistokles und der Marathonkämpfer weit übertreffen. Sie seien veredelte Ölstämme, auf wilde gepfropft, und im Hause des Herrn vom apostolischen Tau getränkt. Einst brannte auf der Akropolis die ewige Lampe der Gottlosigkeit, aber gleich dem Schimmer des Glühwurms sei dies Irrlicht verblaßt, als die Sonne der Wahrheit mit der immer jungfräulichen Kora emporgestiegen sei und die Burg von der Tyrannei der falschen Parthenos erlöst habe.εκ τη̃ς αειπαρθένου κόρης – Wie vom Himmel herab strahle von der Akropolis die ewige Lampe, um nicht nur Athen und Attika, sondern die ganze Welt zu erleuchten. Von Begeisterung fortgerissen, verglich der Redner sich selbst mit Moses, und er glaubte nicht mehr auf der Burg Athens, sondern auf dem Berge Horeb, ja auf der Burg des Himmels zu stehen.

In den erhabenen Säulenhallen des Parthenon konnten die Mahnungen an die große Vergangenheit die Gemeinde der Enkel eher niederbeugen, als zu stolzem Bewußtsein erheben. Die Zeiten waren vorbei, wo Perikles und Demosthenes auf der Rednerbühne ihrem hohen Ideenfluge den feinsten attischen Ausdruck geben durften, ohne zu fürchten, dem Volke unverständlich zu sein. Jetzt aber stand ein in der letzten Rhetorschule Konstantinopels verkünstelter Redner vor den Athenern, ihr klassisch gebildeter Bischof, und was er ihnen bot, eine sorgsam ausgearbeitete akademische Rede in prunkvollem Stil, angefüllt mit antiken und biblischen Zitaten und schimmernd von Metaphern und Tropen, überstieg die Fassungskraft seiner Zuhörer. Auch waren diese nur an die griechische Vulgärsprache gewöhnt. Wie die Antiochener einst das Hochgriechische des Chrysostomos nicht verstanden hatten, so verstanden jetzt die Athener nicht die Sprache des Akominatos. Der edle Metropolit bildete sich zwar ein, daß seine Antrittsrede ein Muster von Einfachheit gewesen sei, doch erkannte er, daß er viel zu hoch gegriffen hatte. In einer folgenden Predigt rief er mit Schmerz aus: »O Stadt Athen, du Mutter der Weisheit, bis zu welchem Grade der Unwissenheit bist du herabgesunken! Als ich neulich meine Antrittsrede hielt, die so einfach, kunstlos und anspruchslos war, kam ich mir dennoch vor wie einer, der Unverständliches und in fremder Sprache wie persisch oder skythisch redete.«I, p. 124. In der Vorrede zu seinen Schriften (I, p. 4) nennt Michael die Athener schläfrige und ungelehrige Zuhörer und erinnert sogar an das Sprichwort vom Esel und der Lyra. Verständlicher war seine Festrede in der vorstädtischen Kirche des heiligen Leonides, der im 3. Jh. als Bischof Athens den Martertod in Korinth erlitten hatte. I, p. 150ff.


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