Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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Achtes Kapitel

Die Mächte Europas und das osmanische Reich. Athen unter der türkischen Herrschaft. Kämpfe Venedigs mit den Türken. Untergang seiner griechischen Kolonien. Größte Machtentfaltung der Sultane. Das Abendland gibt Griechenland auf. Athen sinkt in Geschichtslosigkeit und Vergessenheit zurück. Die humanistische Wissenschaft und Athen. Die französischen Jesuiten und Kapuziner als Begründer der topographischen Erforschung der Stadt. Babin, Guillet, Spon und Wheler. Die Venezianer unter Morosini erobern Athen. Zerstörung des Parthenon. Erforschung der athenischen Altertümer durch die Engländer. Der Philhellenismus des Abendlandes. Die Befreiung Griechenlands. Athen, Hauptstadt des Königreichs der Hellenen.

1.

Der Leser dieser Bücher würde von der Geschichte Athens wahrscheinlich in sehr pessimistischer Stimmung Abschied nehmen, wenn er mit seinen melancholischen Betrachtungen an dem Punkte haltmachte, wo die erlauchte Stadt in die Knechtschaft der Osmanen fiel und die sie nicht entehrende Fremdherrschaft der Franken mit dem denkbar niedrigsten Zustande ihres historischen Daseins vertauschte. Glücklicherweise hat sie, obwohl mehrmals mit Vernichtung bedroht, auch diese Katastrophe überdauert, und die edelste aller Städte der Menschheit ist nicht von der Erde verschwunden. Statt eine von Ginster und Asphodelen bedeckte Wildnis, gleich jenen Stätten, aufzusuchen, wo ehemals Ephesos und Milet in Herrlichkeit geprangt hatten, statt sich ein paar Säulenstümpfe auf der Akropolis und einige Trümmer am Ilissos als Überreste Athens zeigen zu lassen, kann der Leser heute die Stadt des Perikles als aufblühende Metropole des Königreichs der freien Hellenen bewundern. Daher wird ihm zum Schluß eine kurze Übersicht ihrer Schicksale von der türkischen Besitznahme bis zu ihrer Erlösung willkommen sein.

Nach der Eroberung Konstantinopels und Griechenlands durch Mehmed II., wodurch der Untergang der antiken Welt in Europa vollzogen wurde, nahm der feindliche Gegensatz des Orients zum Okzident die furchtbarste Gestalt an, die er überhaupt in der Geschichte gehabt hat. Die moderne orientalische Frage trat zuerst in der Form einer erdrückenden Tatsache auf, nämlich der Überwältigung Osteuropas durch die Waffenkraft eines mohammedanischen Volks, welches nicht wie die Mongolen nur vorüberstürmte, sondern fähig war, einen großen politischen Reichskörper für die Dauer aufzurichten. Der türkische Sultan gründete auf den Trümmern des byzantinischen Staats und über den Gräbern einst blühender Kulturvölker ein neues islamitisches Weltreich. Da dieses durch kriegerische Eroberung entstanden war und nur durch fortwährenden Krieg lebensfähig blieb, so mußte es dem Triebe weiterer Ausdehnung nach dem Westen folgen. Nicht nur der politische Bestand Europas, sondern das Christentum selbst und die abendländische Bildung kamen in die äußerste Gefahr. Im Besitze einer militärischen Macht ersten Ranges konnte Konstantinopel wieder zum Schlüssel der Herrschaft über drei Weltteile werden, und dies zu verhindern war fortan die wichtigste Aufgabe des christlichen Abendlandes. Das praktischer gewordene Zeitalter zeigte sich für den religiösen Enthusiasmus der Kreuzzüge unempfindlich; diese konnten sich nur in Türkenkriege verwandeln, aber die Zustände der moralisch erschöpften römischen Kirche wie der Staaten des für hohe Entschlüsse unfähig gewordenen, von dynastischen Interessen zersplitterten Abendlandes erschwerten die dazu nötigen Mächtebündnisse.

Der Papst zunächst mußte, als Oberhaupt der christlichen Republik, die unermeßlichen Folgen erwägen, mit denen die Katastrophe Konstantinopels die Kirche bedrohte. Die jahrhundertelangen Bemühungen der römischen Kurie, den hellenischen Orient ihren Geboten zu unterwerfen, hatten jetzt dies Ende mit Schrecken genommen; der Halbmond konnte aber noch weiter in das Herz Europas, selbst nach Italien, getragen werden. Die verzweifelte Lage des Papsttums dem orientalischen oder türkischen Problem gegenüber wird durch drei Akte im Leben Pius' II. gekennzeichnet: durch seine gefühlsselige Mahnung an den Sultan Mehmed, zum Christentum überzutreten und dann als legitimierter Nachfolger Konstantins das Ostreich zu beherrschen; durch seinen fruchtlosen Kongreß in Mantua und endlich durch seinen Tod in Ancona, mitten unter kläglichen Enttäuschungen in bezug auf sein höchstes Streben, den Kreuzzug zur Wiedereroberung Griechenlands.

Seit dem Untergange von Hellas gab es eine zwiefache Geschichte der Griechen: im Exil und in ihrer geknechteten Heimat. Wie die Juden nach dem Falle Jerusalems, wanderten sie massenhaft in die Fremde. Sie fanden gastliche Aufnahme im Abendlande; ihre waffenfähigen Männer dienten fortan in den Heeren Europas als Stradioten.Das merkwürdige Institut der Stradioten hat Sathas im Bd. VII und VIII seiner ›Monum. Hist. Hell.‹ dargestellt. In ihren Liedern lebten die Traditionen des Altertums, die Vaterlandsliebe und die Freiheitsglut der Griechen fort. Ihre geistige Aristokratie flüchtete in die Hauptstädte und an die Gymnasien zunächst Italiens. Sie brachte die Literatur Griechenlands zum zweiten Mal dorthin. Durchaus wie ihre Vorfahren in altrömischer Zeit erzeugten diese wandernden Griechen in der gebildeten Gesellschaft des Westens eine neue Epoche des Philhellenismus, und dieser wurde zu einer wichtigen moralischen Voraussetzung für die spätere Befreiung von Hellas. Die Bessarion, Chalkokondylas, Laskaris, Argyropulos, Gaza und hundert andere Missionare des Griechentums wirkten ihren Teil dazu, die großen Werkstätten in Italien aufzurichten, aus denen die moderne Bildung Europas hervorging. Die Einwirkung der hellenischen Literatur auf den Geist des Abendlandes hat unleugbar stattgefunden, aber sie war eine späte und keineswegs so eindringende, als die heutigen Griechen behaupten. Der italienische Humanismus und die gesamte geistige Revolution des Westens entsprangen aus heimischen eigenen Quellen, aus der lateinischen Literatur und der Arbeit des Gedankens innerhalb der abendländischen Kirche und Schule. Dante, Petrarca und Boccaccio verdankten ihre Größe nicht erst ihrer flüchtigen Berührung mit dem Griechentum, und Pomponius Laetus verstand kein griechisches Wort. Die beiden großen Kulturwelten, die hellenische und die lateinische, hatten sich im Lauf der Jahrhunderte viel zu weit voneinander getrennt, als daß ihre Vermittlung über Nacht geschehen konnte.

Während sich der schwierige Prozeß der Aufnahme der antiken Wissenschaft in Europa entwickelte, legte sich das Joch der türkischen Barbarei als vollzogenes Schicksal auf das verödete Griechenland. Wenn die Austilgung des raubsüchtigen Archontenadels durch die Osmanen augenblicklich eher eine Wohltat als ein Verlust für die hellenische Nation war, so wurde diese doch durch die Zerstörung der höheren Gesellschaftsklassen überhaupt, durch die Auswanderung ihrer Männerkraft und ihrer Intelligenz um alle die Elemente gebracht, aus denen das edlere Nationalbewußtsein entspringt. In dem nivellierten Griechenland blieb nur eine gleichförmige Masse von Sklaven zurück.

Wenigstens der Anarchie dort hatte das Schwert der Janitscharen ein Ziel gesetzt. Das unglückliche Land empfand die Befreiung von seinen großen und kleinen Tyrannen zunächst als eine Erlösung. Es war Jahrhunderte hindurch der Schauplatz mörderischer Raubzüge, dynastischer Ränke und Kriege gewesen und dadurch so tief erschöpft, daß es die Grabesstille jenen Leiden vorzog. Im ganzen zeigte sich auch das Regiment der Türken für die Hellenen minder hart, als diese es erwartet hatten. Mit der mohammedanischen Eroberung verband sich keine Einwanderung asiatischer Horden. Das neue Weltreich der Nachkommen Osmans, für dessen Entstehung ein Nomadenzelt am Oxus die Zelle gewesen war, ist schon deshalb so merkwürdig, weil es nicht auf der elementaren Kraft einer großen Nation, sondern auf einer Dynastie gewaltiger Herrscher, auf einer Kriegerkaste, auf dem von den Seldschuken entliehenen militärisch-feudalen System, auf der Sklaverei und endlich auf dem religiösen Gesetzbuch beruhte. Die Grundlage der furchtbaren Türkenmacht war, ähnlich wie jene Roms unter den alleinherrschenden Cäsaren, die Verschmelzung des Staats mit dem Palast des Großherrn, dessen Untertanen alle seine Sklaven waren, und die Organisation der Militärkraft in dem stehenden Janitscharenheer.

Der Sultan beherrschte das Erbe des ersten und letzten Konstantin, indem er die ungleichartigen Provinzen gleichförmig durch Paschas oder Statthalter verwalten ließ, die ihre Tribute einzogen und die verachteten Rajahs durch Strenge und Grausamkeit an den Gehorsam gewöhnten. Aber selbst der wildeste Tyrann wird genötigt, geknechteten Völkern, wenn er sie nicht ausrotten kann, noch einige Rechte zu lassen, an denen sich, wie an dem Eigentum, der Familie, der Gemeinde und Religion, das persönliche und volkstümliche Dasein festgeklammert hält. Die Türken mußten die Hellenen um so mehr schonen, als diese ein ihnen überlegenes Volk alter Kultur waren, sie selbst aber sich ihnen gegenüber in der Minderzahl befanden. Zwar hörten alle politischen Rechte der Griechen auf; ihr Staatswesen verschwand, doch die Gemeinden blieben. Wenn sich der Großherr auch als Eigentümer alles Grundes und Bodens betrachtete und die besten Landgüter überall an den türkischen erblosen Militäradel, die Timarioten, vergab, so blieben doch den vom Kriegsdienst ausgeschlossenen Griechen, neben manchem Besitztum an Ländereien, das Meer und sein Geschäft, der Handel. Den Städten in Hellas blieb ein Rest der Selbstverwaltung, dem Volk die Freiheit des Kultus, der Kirche ihre hergebrachte Verfassung.

Nicht wie die lateinischen Eroberer und der Papst haben Mehmed II. und seine Nachfolger die griechische Nationalkirche gewaltsam unterdrückt. Die Sultane waren duldsam in Hinsicht der Religion; sie begünstigten aus Klugheit den Patriarchen und den Klerus, um sie von der kirchlichen Vereinigung mit Rom abzuhalten und zugleich als Werkzeuge des knechtischen Gehorsams der Griechen zu gebrauchen. Die Religion Mohammeds machte freilich durch die Triebfedern des Schreckens und Eigennutzes massenhafte Proselyten in Kleinasien, den slavischen Balkanländern und Albanien. Der türkische Staat setzte in Konstantinopel mit geringeren Mitteln und weniger Erfolg denselben Prozeß der Völkerumwandlung fort, welchen Byzanz durchgeführt hatte; er suchte die Christen zu Mohammedanern zu machen. Ganze Clans in Epiros fielen von der Kirche ab. In Kreta und Euböa nahmen später nicht wenige Griechen den Koran an; selbst unter den letzten Palaiologen hatte man Manuel als Renegaten in Byzanz gesehen. Diesem schimpflichen Beispiele ist unter den Griechen im alten Hellas doch nur ein sehr geringer Bruchteil und vereinzelt gefolgt. Das Bestreben der türkischen Regierung, die Hellenen zum Islam zu bekehren, mißlang; die Kirche schützte mit dem Christentum auch die Nation. Die niemals zu vermittelnde Kluft der Rasse, des Glaubens und der Gesittung rettete das Dasein des griechischen Volks. Seine Sprache erhielt sich. Man darf sogar behaupten, daß gerade die türkische Eroberung dazu beitrug, denn erst sie machte dem Prozeß der Romanisierung des Neugriechischen ein Ende.

Was Athen betrifft, so waltete über dieser Stadt auch damals ein schirmender Genius. Mehmed II. kam nicht auf den Gedanken, auch dorthin, wie nach dem verödeten Byzanz, neue Ansiedler hinüberzuführen. Die Akropolis nahm eine osmanische Besatzung auf, während in der Unterstadt auch in der Folgezeit die Türken so gering an Zahl blieben, daß sich aus ihnen niemals ein wohlhabender Bürgerstand neben den Athenern gebildet hat. Ein türkischer Oberst (Disdar) befehligte auf der Burg, ein Woiwod verwaltete die städtischen Angelegenheiten, ein Kadi sprach das Recht. Doch behielt die griechische Bürgerschaft einen Munizipalrat von Geronten, die zugleich, mit dem Bischofe Athens, in Streitigkeiten der Eingeborenen ein Friedensgericht bildeten. Die Kopfsteuer, der Karadsch, war von mäßigem Betrage.

Solche bescheidenen Vorteile, verbunden mit der unschätzbaren Freiheit des Glaubens, haben neugriechische Geschichtsschreiber zu dem Urteil bewogen, daß die Lage der Athener in der türkischen Knechtschaft jener unter der Regierung der christlichen Franken vorzuziehen war. Allein die kühne Behauptung wird schon durch diese eine Tatsache widerlegt, daß dem türkischen Regiment jeder sittliche Begriff des Rechts gefehlt hat; statt seiner gab es nur die schrankenlose Laune des Despoten. Der grausame Knabentribut, welcher den Athenern wie allen andern geknechteten Christen im Reich der Sultane auferlegt wurde, genügt, um die unmenschliche Tyrannei zu kennzeichnen, die ihr Los geworden war. In jedem fünften Jahre hielten türkische Agas Musterung über die griechische Jugend, von der sie den fünften Teil, die schönsten und tüchtigsten Knaben, ihren Familien entrissen, um sie nach Stambul abzuführen. Dort wurden dieselben in den Sklaveninstituten des Serail zu fanatischen Osmanen erzogen. Aus dieser christlichen Jugend der eroberten Provinzen gingen nicht nur die Janitscharen, sondern oftmals die besten Diener und höchsten Minister des Sultans hervor. Ein berühmter englischer Philhellene hat voll edlen Unwillens bemerkt, daß in der langen Erniedrigung der griechischen Nation nichts so schrecklich sei als die Apathie, mit der sich dieselbe jenem Tribut unterworfen hat.Finlay, Greece under Othoman and Venetian dominat., p. 38, 55. In dem unglücklichen Athen fand sich freilich kein Theseus mehr, der den Minotauros zu erlegen imstande war. Erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts hat der Kindertribut für immer aufgehört.

So schwer wiegt in den Schalen, in denen das Wohl der einzelnen und Völker gewogen wird, der materielle Vorteil, daß selbst die tiefste Entwürdigung Athens nach diesem beurteilt worden ist. Es kam die Zeit, wo die Vaterstadt der Marathonkämpfer es für eine besondere Auszeichnung und ein hohes Glück ansehen mußte, die Domäne des Oberhaupts der schwarzen Eunuchen im Serail zu Stambul geworden zu sein. Dieser mächtige Kislar-Aga nahm jetzt die Stelle der großen Philhellenen Athens im Altertum ein; er empfing huldvoll die Beschwerden der Stadt, erleichterte ihre Lasten und schützte sie vor den Mißhandlungen der türkischen Befehlshaber.Es scheint, daß sich die Athener dieses Verhältnis zum Serail als Gunst vom Sultan ausgebeten haben. Spon II, p. 242. Heutige Griechen fassen das ohne weiteres von der praktischen Seite auf. Nikolaus Moschobaki, Τὸ εν ‛Ελλάδι δημόσιον δίκαιον επὶ Τουρκοκρατίας, Athen 1882, p. 115. In dieses widerliche Zerrbild hatte sich der Kultus Athens unter den Osmanen verwandelt.


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