Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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4.

Keine Festung noch ein größerer Ort hielt den Zug der Franken nach Athen auf. Da man annehmen darf, daß sie auf dem heiligen Wege von Eleusis, dem Kloster Daphni vorüber, daherzogen, so rückten sie durch das verfallene thriasische Tor, das Dipylon, in die unverteidigte Stadt ein, deren alte Denkmäler auch jetzt noch ein Schimmer ewiger Jugendschönheit verklärte wie zur Zeit des Plutarch. Einst hatte Thukydides gesagt: Wenn die Stadt Athen jemals verödet dastehen sollte, so würde man aus der Menge ihrer Bauwerke den Schluß ziehen, daß sie doppelt so mächtig gewesen sei, als sie es wirklich war.Thukyd. I, c. 10. Diese Zeit war gekommen und das Wort des großen Geschichtsschreibers wahr geworden. Es ist sehr zweifelhaft, ob schon damals nur die Nordseite Athens bewohnt und der West- und Südabhang der Akropolis, das Asty, verlassen waren.Daß dies der Fall gewesen sei, will Leake, Topography of Athens, Einl., p. LXXIII, aus dem Angriff des Sguros auf die Akropolis schließen, obwohl Niketas nichts davon sagt, wie Ellissen, Mich. Akom., p. 23, richtig bemerkt hat. Über die Altstadt: Curtius, Das Asty von Athen, Mitteil. d. D.Arch. Instit. in Athen, 1877. Im Januar 1885 entdeckte man im Süden der Akropolis eine Inschrift, welche beweist, daß dort ein Tempel des Kodros stand. Dies mochte noch nicht durchaus geschehen sein. Allein mit dem Verfalle der Häfen und des Handels mußte sich Athen von der Piräusseite zurückgezogen haben und die östliche oder die Hadriansstadt nach dem Ilissos hin am stärksten bevölkert sein. Da Sguros kurz zuvor die Unterstadt verwüstet hatte, so befand sich dieselbe bei dem Einzuge der Lateiner in einem kläglichen Zustande. Die Akropolis war stark genug gewesen, um den Drohungen jenes Archonten trotzen zu können, doch jetzt, wo ganz Hellas bereits die wehrlose Beute der Franken geworden war, mußte Michael Akominatos jeden Gedanken an Widerstand aufgeben. Auch sein Bruder, der Geschichtsschreiber Niketas, hat dies als klug und notwendig anerkannt, obwohl er der Meinung war, daß ein so heiliger Mann durch sein Gebet die Intervention der Blitze des Himmels wohl hätte herbeiziehen können.

Am Ende des Jahres 1204 hielten zum ersten Male seit Sulla wieder Lateiner als Eroberer ihren Einzug in die Burg des Kekrops. Sie war längst nichts mehr als ein altersgraues byzantinisches Felsenschloß, in dessen Mitte die Kathedrale der Athener lag, der alte Parthenon, zu dem noch immer, wie in der heidnischen Vergangenheit, das Volk in Prozession durch die Propyläen zog, sooft die Feste der himmlischen Nachfolgerin der Pallas Athene gefeiert wurden. Zahllose Marmortrümmer bedeckten die schräge Kalksteinfläche der Burg von 1100 Fuß Länge und 450 Fuß Breite. Fragmente von Säulen und Statuen, leere Postamente, umgestürzte Altäre, zahllose Stelen mit Bildwerk und Weihinschriften, welche einst an den Wegen und Treppen aufgestellt gewesen waren, und vom Pflanzenwuchs umwucherte Schutthaufen bildeten dort ein vielleicht vom Schatzgräber, aber noch niemals vom forschenden Antiquar berührtes Labyrinth, welches melancholischer und reizvoller sein mußte als der Palatin oder das Kapitol Roms in derselben Zeit.Die auf der Akropolis zerstreuten Stelen u. Votivtafeln in R. Schöne: ›Griechische Reliefs aus Athenischen Sammlungen‹, Leipzig 1872.

Von den geringeren antiken Heiligtümern der Akropolis lagen wohl schon längst die Tempel der Artemis von Brauron, der Roma und des Augustus in Trümmern, aber die zierliche Kapelle der Nike Apteros dauerte noch unversehrt über der großen Marmortreppe auf dem südlichen Pyrgos der Propyläen. Die Parthenonkirche und das Erechtheion bildeten dort mit den Gebäuden zum Zweck der Priesterwohnung in ihrer Nähe den Mittelpunkt eines geistlichen Quartiers, während vielleicht die Propyläen mit den westlichen und südlichen Abhängen zu Lokalen für den Schloßvogt und die Wachmannschaft eingerichtet waren. Dies Wunderwerk der attischen Baukunst mußte damals mit den Fronten, den Säulenhallen und Toren noch wohl erhalten sein, aber doch manche bauliche Veränderung erfahren haben. Schwerlich sind so große Räume wie diese Portiken und die Pinakothek Jahrhunderte lang unbenutzt geblieben. Ob die Stadtburg damals und überhaupt während der byzantinischen Zeit auch eine bürgerliche Bevölkerung aufgenommen hatte, ist ungewiß. Die Lage Athens schützte die Einwohner vor unmittelbaren Überfällen der Meerpiraten; sie waren daher nicht gezwungen, sich auf der Akropolis anzusiedeln, und der Raum dort war beschränkt. Trotzdem darf man annehmen, daß die Bedürfnisse des kirchlichen Kultus eine kleine bürgerliche Kolonie auf die Burg gezogen hatten.Während der Türkenherrschaft war gerade die Akropolis von den Mohammedanern bewohnt und mit ihren Häusern besetzt.

Daß Michael Akominatos, ehe die Franken einrückten, durch einen Vertrag mit dem Könige Bonifatius das Leben und Eigentum, die Gesetze, Rechte und den Glauben der Athener zu sichern versuchte, ist ungewiß, aber wahrscheinlich. Da er als Erzbischof der legitimste Vertreter seines Volkes war, mußte er, an jeder Gegenwehr verzweifelnd, das Schicksal Athens durch Unterhandlungen mit dem Eroberer zu mildern suchen. Seine Metropole, die Marienkirche, scheint er nur in den Schutz des christlichen Gefühls der Lateiner gestellt zu haben, denn er sah mit Augen die gottlose Schändung dieses ehrwürdigen, zwei Weltaltern und Religionen gleich heiligen Tempels. Die rohen Kriegsknechte aus Frankreich und Italien, bei denen die Achtung vor den Heiligtümern der Religion durch die Plünderung aller Kirchen Konstantinopels ausgelöscht worden war, betrachteten auch die Reliquien und Weihgeschenke im Dom des Parthenon als ihre rechtmäßige Beute. Die metallenen Kirchengefäße wurden eingeschmolzen und zu Gelde gemacht.Akom. II, p. 178. Niketas erwähnt des athenischen Kirchenraubes nicht. An jener Stelle, wo er von der Plünderung Thebens spricht, setzt er nur hinzu: καὶ χειρούμενον ’Αθήνας... Selbst die bischöfliche Bibliothek wurde ausgeraubt.Akominatos, Monodie auf seinen Bruder, Op. I, p. 357.

Wenn man die Frevel, welche die christlichen Lateiner an den Kirchen des von ihnen eroberten Griechenlands begingen, mit der Schonung der Tempel vergleicht, die sich einst die alten Römer in demselben Lande zum Gesetz gemacht hatten, so muß man urteilen, daß die heidnische Religiosität auf einer höheren Stufe der Moral stand als die christliche des 13. und noch späterer Jahrhunderte. Der furchtbare Sulla hatte nach der Eroberung Athens aus demselben Parthenon kein einziges Weihgeschenk geraubt, sondern nur vierzig Pfund Gold und sechshundert Pfund Silber an sich genommen. Die Ausplünderung griechischer Tempel, welche Caligula und Nero aus künstlerischer Liebhaberei sich erlaubten, wurde von der öffentlichen Meinung der Römer verurteilt. Claudius gab den von Caligula entführten ehernen Eros des Lysippos den Thespiern zurück, und ein Prokonsul Asiens, Bareas Soranus, schützte die Tempel in Pergamon sogar gegen die Raublust des Nero.Tacitus, Annal. XVI, 23. Angeführt von Leake, Topographie Athens, deutsch von Sauppe, S. 30.

Der unglückliche Erzbischof Athens durchlebte damals, wenn auch nicht so schreckliche Tage wie sein Bruder Niketas nach der Erstürmung Konstantinopels, so doch ein gleich schweres Los. Wenn er dem Beispiele seines Freundes Manuel, des Erzbischofs von Theben, folgte und freiwillig in die Verbannung ging, so tat er das, weil ihm die neuen Gebieter der Stadt seinen erzbischöflichen Sitz entzogen, die Akropolis zur ausschließlichen Frankenburg machten, den griechischen Gottesdienst in der Kathedrale untersagten und diese lateinischen Priestern übergaben. Unfähig, das zu hindern oder sich fortan, wie manche griechische Bischöfe in den eroberten Provinzen, dem römischen Kirchengesetz zu fügen, verließ er die Stadt, um irgendwo ein Asyl aufzusuchen. So schied von ihr der treffliche Mann, in welchem sie für lange Jahre ihren Volkstribun und Beschützer gegen die byzantinischen Satrapen und den beredten Vertreter ihres unverlöschlichen Rechts auf die Ehrfurcht der Menschen gehabt hatte. Seine Schriften, Reden, Gedichte, Briefe, welche er an so viele hervorragende Personen jenes Zeitalters gerichtet hat und von denen ein großer Teil glücklicherweise erhalten worden ist, sind unschätzbare Urkunden der Geschichte des untergehenden Reichs der Komnenen und Angeloi wie die einzigen authentischen Zeugnisse, die wir über die Zustände Athens im Mittelalter besitzen. Auch ihr literarhistorischer Wert kann nicht hoch genug angeschlagen werden, da sie neben den Schriften des Psellos und Eustathios den Charakter der byzantinisch-humanistischen Bildung des 11. und 12. Jahrhunderts auf das klarste abspiegeln. Sie beweisen unter anderm das Fortleben des Hellenismus in der griechischen Kirche. Man kann auf dem Boden Italiens, nicht aber auf jenem Griechenlands von einer Wiedergeburt der Antike reden, denn diese war hier niemals ganz erstorben. Die Lichtstrahlen aus den Werken der Alten erhellten noch die trüben Geister jener Bischöfe von Athen, Thessalonike, Korinth, Neopaträ und Theben, so daß sie bisweilen als Diadochen der heidnischen Weisen im christlichen Gewande erscheinen. Nur der Einbruch der Franken hat die Fortsetzung der hellenischen Kultur plötzlich abgebrochen. Er machte auch der Wirksamkeit des Michael Akominatos in Athen ein jähes Ende und verlöschte hier die Funken des geistigen Lebens, welche ein solcher Mann doch aus der Asche des Altertums mußte erweckt haben.

Die Eparchie Athens nebst der Landschaft Megara war in der byzantinischen Teilungsurkunde der Kreuzfahrer dem Anteil des Pilgerheers zugewiesen worden, deshalb verfügte der Markgraf von Montferrat darüber nach dem Recht der Eroberung.»Orium Athenarum cum pertinentia Megaron«: Partitio Regni Greci, Tafel u. Thomas I, p. 488, 493. Theben wird gar nicht erwähnt. Er verlieh beide Länder demselben Otto de la Roche, welchen er bereits mit Theben ausgestattet hatte. Da Athen zu denjenigen griechischen Hafenplätzen gehörte, in welchen durch Privilegien byzantinischer Kaiser den Venezianern freier Handelsverkehr zugestanden worden war, so hätte die Republik S. Marco daraus mindestens solche Rechte darauf abzuleiten vermocht. Dies scheint auch spätere venezianische Chronisten zu der Erzählung veranlaßt zu haben, daß sich die Athener durch eigene Abgesandte der Signorie Venedigs darboten, aber daß ihre Absicht von Otto de la Roche »nicht ohne Blutvergießen« verhindert wurde.Chron. Andreae Danduli (Muratori XII, p. 335). Laurentius de Monacis, Chron. de rebus Venetis (ed. Ven. 1758), lib. VIII, p. 143. Dieselbe Ansicht in handschriftl. Chroniken Venedigs, z. B. in den ›Annali Veneti‹ des Stefano Magno, t. II, v. 98 (Bibl. Marciana). Keine geschichtliche Urkunde bestätigt diese Behauptung, noch wird irgend von einem Einspruch der Republik gegen die Belehnung des La Roche gemeldet. Gleichwohl bleibt es nicht ausgeschlossen, daß die Athener lieber venezianische als burgundische Untertanen werden wollten und daß sie früher oder später den mißglückten Versuch machten, sich unter die Oberhoheit der mächtigen Lagunenstadt zu stellen.

Die Kunde der Besitzergreifung Athens durch die Franken rief im Abendlande Erstaunen hervor, denn der große Name dieser Stadt war dort nicht ganz vergessen; Gelehrte in Schulen und Klöstern wußten noch, was er bedeutete. Alberich von Trois Fontaines verzeichnete in seiner Chronik zum Jahre 1205: Otto de la Roche, der Sohn eines Edelmannes Pons de la Roche in Burgund, wurde durch ein Wunder Herzog von Athen und Theben.Mon. Germ. XXIII, p. 885: »dux Athenarum atque Thebarum«. Der Herzogtitel ist freilich unrichtig. Dies Ereignis war freilich staunenswert; denn die Stadt, welche seit Kodros und dem Tyrannen Peisistratos niemals mehr einen eigenen Fürsten gehabt hatte, empfing einen solchen nach einem langen Zeitraum plötzlich in der Person eines burgundischen Edelmannes.

Der neue Gebieter Athens legte Kriegsvolk als Besatzung in die Akropolis, aber er selbst hatte noch keine Zeit, in seinem kleinen Reiche, dem merkwürdigsten, welches je einem abenteuernden Ritter zugefallen war, sich einzurichten, da er seinen Lehnsherrn auf weiteren Eroberungszügen in Griechenland begleiten mußte. Zunächst sollte der Tyrann Leon Sguros vernichtet werden. Aber vergebens belagerte Bonifatius die Felsenburgen Nauplias und Otto de la Roche in Gemeinschaft mit Jacques d'Avesnes, welcher zuvor Chalkis oder Negroponte auf Euböa besetzt hatte, die Festung Korinth. Diese Stadt war noch immer durch Seehandel blühend. Ihre alten Häfen Lechäon und Kenchreä dauerten noch als solche fort: Der eine nahm die Schiffe von Asien, der andere die vom Abendlande auf. Feste Mauern umzogen die Unterstadt, und auf dem unersteigbaren Felsen thronte die Burg Hohenkorinth, wohl versorgt mit Wasser aus geräumigen Zisternen und der klassischen Pirene.Beschreibung Korinths bei Niketas, lib. II, p. 100. Jacques d'Avesnes erzwang die Unterstadt, wo sodann der Markgraf eine Zwingburg Montesquieu errichten ließ, während Otto de la Roche eine andere Schanze aufführte.Der ›Livre de la conqueste‹ nennt diese nicht mit Namen; die Aragonische Bearbeitung der Chronik von Morea (ediert von Alfred Morel Fatio, Publicat. de la Société de l'Orient latin, Genève 1885) nennt sie Malvezmo. Tapfer verteidigte Sguros Akrokorinth, so daß die Fortschritte der Franken hier einen Halt fanden. Der mannhafte Archont hielt noch dort, wie in Argos und Nauplia, die Fahne der nationalen Unabhängigkeit Griechenlands aufrecht und hinderte dadurch Bonifatius, über den Isthmos auch in den Peloponnes einzudringen. Allein ein außer aller Berechnung liegender Zufall fügte es, daß die Kreuzfahrer in diese Halbinsel von einer Seite her einbrachen, wo sie niemand erwartet hatte.


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