Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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2.

Die Unterwerfung und noch mehr die Bekehrung der Slaven bildet einen Abschnitt in der Geschichte Griechenlands, insofern damit die Wiedererhebung der hellenischen Nationalität und endlich deren teilweise Mischung mit slavischem Blut verbunden war. Das Griechentum besaß freilich im Mittelalter nicht mehr jene überwältigende Kraft der Zeit Alexanders und seiner Nachfolger, wo es weite Länder und fremde Völker von Kleinasien bis nach Ägypten hin zu hellenisieren vermochte. Die Slaven des illyrischen Festlandes, die Serben und Bulgaren nahmen trotz der byzantinischen Kirche weder griechische Sprache noch Bildung an. Selbst wo sich in den altgriechischen Provinzen Slavenstämme massenhaft vorfanden, dauerten sie auch nach ihrer Bekehrung zum Christentum als solche fort, und es bedurfte einer geraumen Zeit, bis sie vom Hellenentum aufgesogen wurden. Es ist leicht begreiflich, daß in der Mitte des 10. Jahrhunderts dem Kaiser Konstantin Porphyrogennetos Hellas und der Peloponnes als wesentlich barbarisierte Länder erscheinen konnten, aber selbst noch im 13. Jahrhundert fanden die fränkischen Eroberer eine slavische Bevölkerung in Morea vor. Dort wurden sogar noch viel später Slavinen in der Tschakonia von den griechischen Peloponnesiern und den Byzantinern unterschieden.Mazaris, Totengespräch, n. 22 (Ellissen, Anal. IV, S. 239). Obwohl die Slaven in Griechenland die Sprache der Kirche annahmen, ging doch ihr nationales Idiom nicht so schnell und gänzlich unter wie das langobardische in Italien. Diese Tatsache beweist weniger, daß die griechischen Slaven in ihren Kantonen gedrängter zusammensaßen, als daß die Kulturmacht der Hellenen nicht so überwiegend war wie jene Italiens mit seinen volkreichen Städten und Bistümern und dem römischen Papsttum. Dieselbe Erscheinung bieten die später in Hellas eingewanderten Albanesen dar, deren Mundart in dem spärlich bevölkerten Lande noch heute nicht verschwunden ist. Wenn nun die Langobarden ihre germanische Sprache mit der italienischen vertauschten, so bewahrten sie dagegen bis zum 12. Jahrhundert ihr nationales Gesetzbuch. Auch hatten sie bis dahin die bürgerlichen und kirchlichen Akten Italiens mit ihren Namen erfüllt. Der langobardische Geschlechteradel, das große Seminar für die geschichtlichen Familien dieses Landes, bleibt noch heute dort als ein feudales oder doch aristokratisches Gerüst sichtbar. Ähnliches ist in Griechenland so wenig der Fall gewesen, daß sich heute kein slavischer Geschlechtsname daselbst entdecken läßt.Sathas hat das aus Wahllisten des Peloponnes nachgewiesen (Mon. Hist. Hell. IV, p. XLIII ff.) und daraus zugunsten seiner Theorie geschlossen, daß außer Wlachen und Albanesen nie ein fremdes Volk in Hellas sich niedergelassen habe. Allein auch die fränkischen Geschlechter sind im eigentlichen Griechenland spurlos verschwunden.

Es gibt kein Zeugnis dafür, daß große Slavenfamilien den Grundstock eines neuhellenischen Adels gebildet haben, und dies ist leicht erklärbar. Denn ein mächtiger, aus ererbtem Landbesitz, der fürstlichen Gefolgschaft und der amtlichen Hierarchie entstehender Adel konnte sich unter den Slaven Griechenlands nicht ausbilden. Während ihrer langen Kolonisation dort wird keine namhafte Stadt als Sitz eines ihrer Fürsten oder als Zupanenhof bemerkt. Einige vornehme gräzisierte Slavenfamilien mußte es trotzdem immer gegeben haben. Konstantin Porphyrogennetos erzählt von einem angesehenen Manne, Niketas Rentakios aus dem Peloponnes, welcher sich dem Hause des Kaisers Romanos Lakapenos verschwägerte und auf seine griechische Abkunft sehr stolz war, daß seine Slavenphysiognomie die Sarkasmen des byzantinischen Grammatikers Euphemios herausforderte, und Niketas war wohl nur eins von vielen Beispielen der Verschmelzung beider Nationen.De Thematib. II, p. 53: γαρασδοειδὴς όψις εσθλαβωμένη. Sathas, welcher die Slavenfrage für Griechenland leugnet, will γαρασδοειδὴς so erklären: »c'est-à-dire au visage d'un adorateur de Zoroastre (Ζαράσδας)«. Mon. Hist. Hell. VI, 1888, p. XVI.

Wenn man den heutigen Griechen die entschiedene Ablehnung der Mischung ihrer Ahnen mit den Slaven aus dem Grunde verzeihen kann, weil ihr stolzer Anspruch oder eitler Wunsch, noch als legitime Abkommen vom höchsten Adel des Menschengeschlechts zu gelten, begreiflich ist, so werden sie sich am Ende doch mit dem Schicksal aller geschichtlichen Rassen trösten müssen, die sämtlich eine Kreuzung erlitten und gerade deshalb sich erhalten, weil erneuert haben. Die Mischung mit slavischem Blut, so stark oder schwach sie sein mochte, hat die Griechen so wenig zu Sarmaten gemacht, wie der germanische Zusatz die Italiener und Franzosen zu Deutschen, oder wie diese ihre wendischen Bestandteile zu Wenden gemacht haben. Wir kennen das numerische Verhältnis der Slaven zu den Griechen nicht in der Zeit ihrer stärksten Kolonisation. In Epochen des Verfalles von Staaten und Nationen reicht die bewaffnete Kraft weniger aus, um viele zu unterjochen. Das hat Griechenland noch im 13. Jahrhundert durch die fränkische Eroberung erfahren. Man hat versucht, aus der Zahl slavischer Ortsnamen einen Schluß auf die Stärke der Einwanderung zu ziehen, und gefunden, daß im Peloponnes auf zehn griechische nur ein slavischer kommt.Leake, Peloponnesiaca, p. 326.

Die ethnologische Wandlung war dort fühlbarer als in Hellas und stärker auf dem Lande als in den Städten, zumal in den größeren, worin sich die Griechen immer erhalten hatten. Jedoch würde es ebenso vergeblich sein, in Argos und Patras, Korinth, Lakedaimon und Athen, in Monembasia und Theben im 10. Jahrhundert eine ungemischte Bevölkerung von Hellenen zu suchen als um dieselbe Zeit durchaus reine Lateiner in Rom, Florenz, Ravenna und Ancona. Selbst wenn die festesten Griechenstädte von slavischen Zuflüssen sich hätten frei erhalten können, so mußten doch im Lauf der Zeit in jede von ihnen die Wellen jener Völkermischung eindringen, welche dem kosmopolitischen Byzantinertum eigen war. Wurde doch das athenische Volk sogar schon in der Römerzeit als ein Gemisch von Nationen angesehen, und deshalb hatte C. Piso den menschenfreundlichen Germanicus getadelt, weil er die Athener zu gütig behandelte .»Quod contra decus Romani nominis non Athenienses, tot cladibus extinctos, sed colluviem illam nationum comitate nimia coluisset« (Tacit., Annal. II, 55). Die Stelle bei Fallmerayer, Welchen Einfluß etc., p. 113. In der byzantin. Zeit mußte sich diese Umschmelzung rastlos fortsetzen. Selbst die attische Sprache erschien byzantinischen Gelehrten im 12. Jh. als ein barbarischer Dialekt.

Die Kraft, welche das Reich der Romäer an die riesige Aufgabe der Assimilierung ungriechischer Bestandteile setzte, ist wahrhaft bewundernswert; Konstantinopel blieb in dieser Hinsicht nicht hinter dem alten Rom zurück. In das Zentrum des großen kosmopolitischen Reichsorganismus strömten verengend und erneuernd die Säfte aus allen Provinzen ein. Slavische, persische, sarazenische Elemente wurden seit Justinian in das Heer, die Verwaltung, die Kirche, die Aristokratie und den Kaiserpalast aufgenommen, wo Armenier, Isaurier, Paphlagonen, Illyrier und Slaven auf den Thron gelangten. Wie aus einem ungeheuren Schmelztiegel kam das gemischte Völkermetall als byzantinisch hervor. Nur der beständigen Umprägung roher, fremder Stoffe verdankte das Reich Konstantins seine Fortdauer; aber dieses unablässige Aufnehmen solcher in den Reichskörper und die stete Berührung mit den Barbaren infizierte denselben zugleich mit Barbarei. Die wilde Grausamkeit der Kriminaljustiz, das Blenden und Verstümmeln, die Eunuchenwirtschaft, die Greuelszenen des Hofes selbst und ähnliches sind nur einzelne Züge der Verwilderung im Byzantinismus aufgrund seiner slavischen und asiatischen Beimischung.

Der Prozeß der Völkerumschmelzung im Romäerreich gelang übrigens nicht in gleicher Weise, wie ihn die Romanen des Abendlandes durchgemacht hatten. Ganze slavische Völkergruppen widerstanden der Byzantinisierung. Die Serben und Bulgaren entzogen sich ihr, indem sie eigene, von innerer Gärung aufgeregte und immer dem Reich feindliche Nationalstaaten bildeten, die nach ihrem natürlichen Schwerpunkt Byzanz gravitierten und den Fortbestand des Reiches gefährdeten. Nur im alten Griechenland vollzog sich die Hellenisierung der Slavenstämme.

Religion, Recht und Sitte, endlich die Kultursprache wurden den durch die physischen Einflüsse der griechischen Natur vereitelten und zugleich geschwächten Barbaren von den Hellenen übermittelt. Sie gingen bis auf geringe Bruchteile in das Griechentum auf und wurden zu Neuhellenen. Das slavische Idiom aber wirkte so wenig umbildend auf das Neugriechische ein, daß ein sprachlicher Niederschlag desselben in diesem kaum sichtbar ist, während das Romanische, Türkische und Albanesische darin Spuren zurückgelassen haben. Nur eine kleine Anzahl von slavischen Wörtern ist im Neugriechischen nachzuweisen.Miklosich (Die slav. Elemente im Neugriech.) hat deren 129 zusammengestellt. Er entdeckt keine slav. Einwirkung in der Konjugation und Deklination. Der neugriechische Infinitiv mit einer Konjunktion und dem Finitum ist dem Neugriechischen mit dem Bulgarischen und Albanesischen gemein. Miklosich vergleicht das Slavische in Griechenland mit dem Keltischen im Verhältnis zum Französischen und Englischen. Die Sprache der Inselgriechen ist fast ganz frei von Slavismen. In der berühmten Chronik Moreas, welche das authentische Denkmal der Volkssprache der Neugriechen am Ende des 14. Jahrhunderts ist, finden sich wohl mancherlei französische und italienische Ausdrücke, aber kein slavisches Wort.Sathas, Mon. Hist. Hell. I, Einl. p. X, bezieht sich auf ein zu Pontikos in Elis im Jahre 1111 geschriebenes Glossarium (Mskr. im Brit. Mus.), welches einen rein griech. Wörterschatz enthalte.

Die ganze grammatische Revolution, welche das Altgriechische durchmachen mußte, um sich ins Neugriechische zu verwandeln, ist ebensowenig vom Einfluß des Slavischen abhängig gewesen wie die Bildung der neulateinischen Sprache vom Einfluß der Germanen.Egger, L'hellénisme en France I, p. 417. Überhaupt erwies sich in dem neugriechischen Idiom die Kraft der antiken Kultursprache so glänzend, daß sie dem Volksdialekt, trotz der grammatischen Verluste, doch nicht erlaubte, sich viel weiter von Homer, Plato und Demosthenes zu entfernen, als sich das Italienische von Virgil und Cicero entfernt hat. Daß überhaupt der griechische Volksstamm aus so vielen und schweren Kämpfen mit den barbarischen Elementen während jener dunklen Jahrhunderte siegreich hervorging und seine nationale Sprache und Eigenart rettete, ist mit Recht als Beweis seiner unvergleichlichen Lebenskraft geltend gemacht worden.Demetrios Bikélas, Die Griechen des Mittelalters, deutsch von W. Wagner, 1878, S. 31.

Das rühmliche Werk der nationalen Wiedergeburt Griechenlands wurde der makedonischen Dynastie durch unausgesetzte Kämpfe mit den Arabern und Bulgaren erschwert. Jene konnten im Jahre 904 sogar die reiche, von den Slaven nie erstürmte Handelsstadt Thessalonike überfallen und ausplündern. Ihre Korsaren machten die Meere unsicher und führten Raubzüge nach den Inseln und Küsten bis nach Attika aus.

Noch furchtbarer wurden die Bulgaren. Unter ihrem Khan Simeon, dem Sohne des Boris und ersten Kaiser oder Zaren seines von Natur zur friedlichen Beschäftigung des Hirten und Ackermanns angelegten, aber durch die politischen Verhältnisse kriegerisch gewordenen Volks, waren sie seit 893 zu so gewaltiger Tatkraft gelangt, daß die byzantinischen Kaiser ein ganzes Jahrhundert brauchten, um diesen schrecklichen Feind niederzuwerfen. Bulgarische Massen brachen wiederholt in die Länder südlich von den Thermopylen ein. Simeon verheerte die Provinzen von Hellas und ohne Zweifel auch Attika; nur die festen Städte widerstanden.Das geht aus der Vita des hl. Lukas hervor. Im Bd. XCI der Patrol. gr., ed. Migne, befindet sich eine Reihe von merkwürdigen Briefen des Patriarchen Nikolaus von Konstant. an Simeon. N. wurde Patriarch im Jahre 895, vier Jahre nach dem Tode des Photios, und starb 924.

Wenn damals die Leiden feindlicher Eroberung über das schwache Athen ergangen wären, so würde sich trotz des barbarischen Zustandes der Geschichtsschreibung in jenem Zeitalter doch wohl eine Kunde davon in irgendeinem Chronisten erhalten haben. Weder Geschichte noch Legende unterbrechen für uns das lange Schweigen, welches die erlauchte Stadt bedeckt. Es ist so tief, daß der Forscher nach Spuren ihres Lebens in jenen Jahrhunderten die Freude des Entdeckers empfindet, wenn er auch nur die geringste solcher wahrnehmen kann, wie im Leben das heiligen Lukas, welcher Athen besuchte, in der Parthenonkirche betete und in einem Kloster Aufnahme fand.

Hie und da erscheinen Namen athenischer Bischöfe zumal in jenem verhängnisvollen Patriarchenstreit zwischen Photios und Ignatius, welcher die Trennung der orientalischen Kirche von Rom herbeiführte. Auf dem achten ökumenischen Konzil verteidigte Niketas von Athen die Sache des Ignatius. Deren Anhänger waren auch die Bischöfe Sabas und Anastasios.Le Quien II. Die Pittakis-Inschriften vom Parthenon verzeichnen den Tod des Niketas 881 (Böckh, n. 9357); des Sabas 914 (n. 9358). Allein der Patriarch Nikolaus nennt in einem Briefe an Niketas (Νικήτα ’Αθηνω̃ν) Sabas ausdrücklich dessen Vorgänger. Patrol. gr. CXI, p. 329. Schlumberger, p. 172, schreibt diesem Sabas das schöne Kirchensiegel zu: ΘΕΟΤΟΚΕ ΒΟΗΘΕΙ ΤΩ ΣΩ ΔΟΥΛΩ ΣΑΒΑ ΜΗΤΡΟΠΟΛΙΤΗ ΑΘΗΝΩΝ; Avers, Bildnis der Panagia mit dem Kinde, Bull. d. Corr. Hell. II, 1876, p. 558, pl. XXII, n. 5. Es geschah während dieses Kirchenstreits im Jahre 887, daß der Kaiser Leon VI. zwei seiner Widersacher, den manichäischen Bischof Theodor Santabarenos und Basileios Epeiktos, einen Verwandten der Kaiserin Zoe, nach Athen verbannte.Theophanes, Cont. VI, p. 356, p. 363. Georg Monachos, p. 851. Zonaras, Epist. XVI, c. 12. Muralt, p. 468.

Die siegreiche Partei der Ignatianer scheint die Ergebenheit des athenischen Bistums erst durch seine Erhebung zum Erzbistum, dann vor 869 zur Metropole belohnt zu haben. Unter den Bistümern des Reichs nahm Athen die 28. Stelle ein. Der dortige Metropolit führte den Titel Exarch von ganz Hellas, wie der von Korinth Exarch des ganzen Peloponnes war. Er hatte zehn Suffraganbistümer unter sich: Euripos, Oreos, Karystos und Porthmos auf Euböa, ferner Diaulia und Koronea, Aulona und die Inseln Skyros, Andros und Syra. In Attika wird kein einziges Bistum außer Athen mehr genannt; das von Marathon, welches im 6. Jahrhundert bestanden hatte, war erloschen und wohl infolge der Verwüstungen des Küstenlandes durch Barbaren und Meerpiraten.Le Quien II, p. 167. – Notitia Episc. 3 bei Parthey, Hieroclis Synekd., p. 118. In der ›Notitia Patriarch.‹ des Neilos Doxopatres aus dem 12. Jh. (ibid., p. 300) hat Athen elf Suffragane, denn zu Syra (und Seriphos) kommt Keos und Thermon. Die Parthenoninschrift C. I. Gr., n. 9378) verzeichnet 919 den Tod des Germanos, gewesenen Bischofs Diaulias. In der Reihe der athen. Erzbischöfe wird 997 Theodegios, 1023 Michael aufgeführt. Nach C. I. Gr., n. 9363, starb Theodegios im Sept. 1007; Michael im Aug. 1030 (n. 9364). Ein Siegel des Theodegios bei Schlumberger, Sigill. Byz., p. 173.

Wie für das Volk der Römer in jenen Jahrhunderten so konnten auch für die Athener nur die kirchlichen Angelegenheiten Gegenstände der lebhaftesten Teilnahme sein. Die wichtigsten Ereignisse, von denen die Wohlfahrt der Stadt abhing, waren für sie die in Konstantinopel vollzogene Ernennung ihres Erzbischofs und jene des Strategen des Thema Hellas. Der Metropolit war die einflußreichste Person Athens nicht nur als der geistliche Regierer des Volks, sondern auch als der reichste Besitzer des Landes, von dessen Gütern die Kirche sicherlich mehr besaß als die wenigen dort eingesessenen Familien von Eupatriden. Seine Autorität konnte ihn dazu befähigen, die Gemeinde gegen die Willkür des Strategen oder kaiserlichen Prätors zu schirmen, welcher von Theben aus Hellas verwaltete, die Stadtmagistrate ernannte und beaufsichtigte, die Steuern ausschrieb, die Truppen für den Kriegsdienst aushob und auch die oberste Instanz für die Zivilgerichtsbarkeit war. Der Druck, den der Stratege und die Offizialen des Staats, Militäroberste, Richter, Schreiber, Zollpächter und Steuereintreiber auf die Bevölkerung des Landes ausübten, war bisweilen so stark, daß er diese zur Verzweiflung trieb.

Das Schreckliche und Frevelhafte wird, weil es aufregt, aufmerksamer beobachtet und dem Gedächtnis stärker eingeprägt als geräuschlose Handlungen von Tugenden, mögen diese auch noch so erhaben und glänzend sein. Dies ist so wahr, daß es der mörderischen Steinwürfe der zur Wut entflammten Athener bedurfte, um den Griffel mehr als eines byzantinischen Geschichtsschreibers in Bewegung zu setzen und dadurch plötzlich darzutun, daß es im Jahre 915 noch ein athenisches Volk gab, welches ihm zugefügte Unbilden empfand und rächte. Die Szene dieses Ereignisses – es erinnert an den kylonischen Frevel der Alkmaioniden – war wie damals die heiligste Stätte der Athener auf der Akropolis und der tragische Held desselben ein hoher byzantinischer Würdenträger mit Namen Chase, Sohn des Juba.Die Namen Juba und Chase sind semitisch. Konst. Porphyr., De adm. imp., c. 50, p. 230, erzählt von einem Protospatar Chases, welcher von Sarazenen abstammte und nach dem Tode Leos VI. (912) bei dem neuen Kaiser Alexander in Gunst stand. Dieser Große hatte durch seine ausschweifenden Laster und seine tyrannische Gewalttätigkeit nicht nur die Stadt, sondern Hellas empört, denn als Vollstrecker der an ihm ausgeübten Volksjustiz werden ausdrücklich die Bewohner von Hellas und Athen bezeichnet.Οικήτορες τη̃ς ‛Ελλάδος καὶ τω̃ν ’Αθηνω̃ν. Er muß daher entweder selbst Stratege des Thema oder doch einer der vornehmsten kaiserlichen Beamten desselben gewesen sein. Vielleicht war er, etwa mit dem Titel eines Archon Athens, der vom Strategen bestellte Präfekt dieser Stadt und der Eparchie Attika, und dann hatte er seinen Sitz auf der athenischen Stadtburg. Denn es geschah dort und in der Parthenonkirche, wo er sich an den Altar geflüchtet haben mochte, daß Chase vom Volk gesteinigt wurde.ένδοθεν του̃ θυσιαστηρίου του̃ εν ’Αθήναις ναου̃. Theophan., Cont. VI, p. 388. Georg Hamartolos, Chron., ed. Muralt, p. 806. Symeon Magister, p. 723. Das ohne Zweifel schreckliche Nachspiel, welches die byzantinische Regierung auf dies tumultuarische Verfahren über die Athener ergehen ließ, kennen wir nicht.

Theben, und nicht Athen, war der Sitz des Strategen von Hellas. Dies geht aus der Lebensgeschichte des heiligen Lukas hervor, in welcher erzählt wird, daß der berühmte Wundertäter den hellenischen Strategen Krinites in Theben besucht habe. Auch wird in derselben Biographie einmal Pothos dort als solcher genannt.Πόθος... ὸς καὶ τὴν τη̃ς ‛Ελλάδος αρχὴν οι̃α στρατηγὸς έτυχε πιστευθείς· ου̃τος εν Θήβαις τὰς διατριβὰς έχων. Vita bei Migne, a. a. O., p. 463. Irrig lateinisch übersetzt mit »Atticae praefectura«; p. 465 von Krinites: αυτὸς γὰρ ομοίως τὴν τη̃ς ‛Ελλάδος αρχὴν πιστευθείς. Krinites war um 941 Stratege vom Peloponnes und erhielt dann die Verwaltung von Hellas. Der Stratege des Thema Peloponnes residierte in Korinth. Diese Stadt erscheint zur Zeit desselben Lukas als ein bedeutender Ort, wo es nicht nur eine theologische Schule gab, sondern auch profane Wissenschaften gelehrt wurden. Denn der Biograph jenes Heiligen preist daselbst einen Theophylaktos sowohl wegen seiner persönlichen Tugenden als wegen seiner weltlichen Gelehrsamkeit.ο σοφός, ὸς τη̃ς θύραθεν σοφίας διδάσκαλος ών – Vita, p. 459.

Die Lebensgeschichte des Thaumaturgen gibt übrigens von den furchtbaren Plagen Zeugnis, welche Hellas und der Peloponnes am Ende des 9. und im 10. Jahrhundert durch die Raubzüge der Sarazenen Kretas und die Bulgaren erlitten, von denen auch Attika arg heimgesucht wurde. Mit den Bulgaren verbanden sich sogar die trotzigen Slavenstämme der Milinger und Ezeriten, so daß sie der Stratege Krinites Arotras um 941 von neuem unterwerfen mußte.Konst. Porphyr., De admin. imp., p. 222.

Die heldenhafte Eroberung Kretas durch Nikephoros Phokas im Jahre 961 minderte seither die Bedrängnis vonseiten der Mohammedaner, allein die andere von Bulgarien her stieg aufs höchste unter dem gewaltigsten aller Fürsten dieses Volks, dem Zaren Samuel aus dem Bojarenhause Sisman in Trnovo, der sich in demselben Jahre 976 zum Herrscher aufwarf, in welchem zum Glücke des bedrohten Reichs sein großer Gegner Basileios II. den byzantinischen Thron bestieg. Samuel erweiterte seine Herrschaft, deren Hauptstadt Achrida in Makedonien wurde, bis zur Küste Albaniens und nach Thessalien hin. Nie war die Gefahr Griechenlands größer als jetzt, wo der gewaltige Zar im Sinne hatte, auch diese Provinzen seinem Reiche einzuverleiben. Schon im Jahre 978 fiel er in Hellas ein. Er wiederholte seine Verheerungen mehrmals. Im Jahre 995 plünderte er Böotien und Attika, ohne die festen Städte zu stürmen, und er drang selbst über den Isthmos in den Peloponnes.Kedrenos II, p. 449. Von dem Angriff gegen Korinth schreckte ihn jedoch die Kunde ab, daß der griechische Kaiser mit vielem Kriegsvolk gegen Bulgarien im Anzuge sei. Mit Beute beladen, Tausende von Gefangenen mit sich schleppend, trat Samuel deshalb seinen Rückzug nach Thessalien an, und dort wurde er von dem byzantinischen General Nikephoros Uranos am Sperchios aufs Haupt geschlagen. Mit Not entronnen, kämpfte der Zar mit immer schwächeren Kräften gegen die überlegenen byzantinischen Heere.


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