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An Jakob Kneip

Schützengraben bei Schoore, Uhlhorn-Ferme, 1. Jan. 16
10 Uhr abends

Lieber Jakob,

nimm's nicht für ungut, wenn ich mal wieder mit Dir plaudere.

In diesen Tagen las ich den »Werther«. Wie ist dies Buch, das ich mir ganz unleidlich oder doch anders vorstellte, trotz seiner empfindsamen Weinerlichkeit und seiner vielen Räsonnements, welches uns Heutigen nicht behagt – doch reich an allem; an Gedanken, originalen Bildern, und vor allem an Fülle der Sprache!

Je mehr ich ihn las und an meine jüngstvergangene Episode denke, desto mehr drängte es sich mir auf: du bist so jung wie Werther!

Lies Werther, und Du liest vieles von mir!

Heute abend braust ein mordsmäßiger Westwind in der Finsternis. Es ist ein Wetter, das zu mir paßt. Die Knarre umgehängt, stapfen wir zu dreien unsere tausendmeterlangen Stege, die von Ferme zu Ferme (unserer äußersten Sicherungslinie) führen, entlang, ab und zu müssen wir hinknien und uns mit Händen und Füßen verankern, damit wir nicht ins Wasser gekämmt werden. Man hört und sieht vor Brausen nichts. Wenn nicht hier und da morsche Zäune die ehemaligen Koppeln bezeichneten, und Weidenreihen mit ihren dicken Köpfen gerade ins Ungewisse wankten, so sollte man meinen, es wäre die hohe See, die da links und rechts von uns hinstürzt und den Schaum uns ins Gesicht sprüht. Es ist herrlich! Ein Wetter zum Singen; ich pfeife und brumme, so mühsam es ist, die orchestralsten Melodien für mich hin.

War ich erst wieder an meinem geliebten Meer im Norden!

Das neue Jahr hat sich hier also recht ungebärdig angelassen.

G.

Ich denke in der nächsten Zeit am Don Juan weiterzuarbeiten. Ich hätte zwei kleine Wünsche: ich möchte gern Don Carlos und Wilh. Meisters Lehrjahre lesen. Könntest Du mir das schicken?


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