Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An Jakob Kneip

Am Yserkanal, Ferme Van der Woude, 9. 7. 15

L. J. Wir sind vor 5 Tagen 500 m weiter nach links gerückt in einen »kriegerischen« Abschnitt der Yserstellung. Endlich ist's etwas anders geworden. Schmieriges Gelände vor dem Graben; die einzige Zugangsstelle in der Nähe für den Feind; und vor einer Woche ist eine deutsche Patrouille von den Belgiern gefaßt worden: der Offizier tot, und der dritte Mann kam verwundet zurück!

Mit vier anderen hatte ich mich freiwillig zur Patrouille gemeldet.

In der ersten Nacht wurde das näherliegende Vorgelände durchstreift und bei unseren Posten, von denen wir einen starken auf der vorgeschobenen Ferme haben und darüber noch hinaus innere und äußere Horchposten, verweilt.

In der zweiten Nacht erkundeten wir das linksseitige Außengelände.

Am anderen Tage krochen wir schon wieder bei Tagesgrauen durch Roggen und Gras möglichst weit nach vorn, blieben den Tag über im Felde liegen, müde und verschwitzt in der dörrenden Sonne, und krochen dann in der Dämmerung weiter; stellten Tiefe und Breite mehrerer hindernder Gräben fest und konstatierten, daß mehrere kleinere Sandsackstellungen vor uns vom Feind besetzt waren. Dann zurück.

Die folgende regenwindige Nacht war so finster, daß wir nicht mal den Horchposten der links von uns liegenden 9. Komp. finden konnten. Durchnäßt mußten wir umkehren.

Heute aber ging's nicht so gemütlich her. Unser abermaliger Versuch, bei Tage vorzudringen (um das rechtsseitige Außengelände zu klären), wurde vom Feind bemerkt: 5 Flintenkugeln und 8 Schrapnellschüsse suchten uns in den Halmen; die Flintenkugeln gingen vorbei, und die prasselnden Schrapnellstreuungen sausten kurz über uns weg. Einer nach dem anderen kamen wir auf der Ferme wieder an; abgehetzt, wassertriefend; und ich, da ich durch ein Drahtverhau kriechen mußte: mit zerrissenen Kleidern und verschlammtem Gewehr.

Nun wollen wir sehen, wie es beim nächsten Mal geht.

Viele Grüße

Gerrit

So wirkt denn auch Dein: Jetzt heißt es – leben – oder sterben – für ein ganzes Volk (verzeih!) auf den Schützengrabenmenschen wie eine Hurraphrase, eine »ideale Redensart« – ich sage, es wirkt so, an der Gesinnung und Echtheit brauche ich ja nicht zu zweifeln – aber es wirkt trotzdem so. (Du wirst ja später selbst darüber lächeln, wenn Du nun erst auch im Graben bist und 13 Wochen hinter Dir hast, die mir ein halbes Jahr dünken.) Es heißt hier für uns gar nicht zu »leben oder zu sterben«, wir haben uns nur immer wieder gegen die trostlose Öde dieses Daseins zwischen zwei Erdwällen anzustemmen, haben mit Regen, Schnupfen, nassen Kleidern zu »kämpfen«, gegen Miesmacher und Schwarzseher anzugehen, Schlafentbehrungen zu ertragen (dauernde!), in »Ruhequartieren« jeden 2. Tag 12stündigen Arbeitsdienst zu leisten und – für den schlimmsten Fall, auf die eine Granate, die treffen könnte, zu warten. Ernst: das zermürbt; Nerven und Herz leiden darunter. Dazu kommen all die vielen schweren Gedanken, mit denen man in dieser Zeit immer gefüllt ist. – Nochmals zu oben: Daß wir siegen werden, daß wir Grund haben, uns immer wieder über Erfolge zu freuen – ist das nicht selbstverständlich? Soll man darum viel Worte machen? Die Zeitungstrompeten und die Professoren besorgen das schon.

Du weißt aber nicht, wie man hier nach etwas hungert, das eine Ablenkung vom ewigen Kriege, eine Lösung für Augenblicke vom äußeren Druck und der inneren Hochspannung bewirkt. Es ist menschenunmöglich, dauernd in einem Zustand zu leben, der nicht der normale ist – wenn man nicht ab und zu Auswege sucht. Daß ich mich aus diesem Grunde nun grade mit »Kunst und Literatur« (o Greuel!) beschäftige, so wie es andere auf weniger anstrengende Weise mit ihrer Familie tun, ist begreiflich.

Der Schützengraben mit allen seinen Einflüssen (und welcher Mensch kann sich den Einflüssen der Außenwelt vollständig entziehen) erzeugt auf die Dauer nur zwei Gefühlsrichtungen – er begünstigt beim Menschen den Pessimismus, wenn er ihn nicht gar hervorruft – oder er macht ihn zu einem blöden Stück Holz. (»Man wird gefühllos wie ein Stück Holz«, sagte ein Kamerad.)

Wir hier fühlen uns als Teile der Maschine; als untergeordnete Teile, die durch ihren gewaltigen, heißen Gang angegriffen und abgenutzt werden. Es ist ungeheuer schwer oder vielmehr unmöglich, sich dauernd über diese angewiesene, einschränkende Bestimmung emporzuheben, über ihr zu stehen. Ich bin wieder in »Entschuldigungen« entgleist. Also:

Alle Kultur, und dazu gehört ja auch die jetzt so berüchtigte »Literatur«, entsprießt dem Frieden. Dem Frieden, den sie halten hilft und dem sie dient. Krieg ist immer Vernichtung, mag er noch so heilig sein. Krieg fördert die Kultur nicht, sondern hindert sie am Wachsen oder gar am Leben. Wir hier fühlen den Krieg mit all seinen Wirkungen am eignen Leibe als den Krieg an sich! So will auch meine Auffassung vom Kriege in diesem Sinne als eine allgemeine, nicht als deutschnationale verstanden sein. Das verstandest Du nicht. Ich fürchte auch, daß Du meine Dichtung nicht voll erfaßt hast. Meine bisherige Dichtung besonders dient dem Frieden, der Menschenbrüderlichkeit. Das berücksichtigst Du nicht. Daß ich jetzt nun nicht so ganz mitlodere, wie Du es wohl sehen möchtest, mag in Deinem Sinne eine Beschränkung sein, »Schwäche« – aber man muß mit ihr rechnen. Mir ist es keine Enttäuschung an mir selbst. Laß nur den Frieden kommen – dann erst werde ich mein Amt antreten, ein Versöhner und Bruder unter den Menschen sein. Ist es nicht schöner und gottvoller, Versöhnung zu schaffen, denn Zorn zu schüren? Vielleicht verstehst Du nun, wie es gemeint ist, wenn ich sage, daß ich im Grunde nichts mit dem Völkermorden zu tun habe. Nicht alle Dichtung schafft für den Augenblick. Lieben wir Goethe weniger, oder ist er deshalb kleiner, weil er 1813 im deutschen Zorn versagte und sogar dem Genie Napoleon Bewunderung zollte? Und ich meine, daß der Krieg mehr Seele hatte und letzte, höchste Not. Schriebst Du nicht selbst, daß es in unserem Kriege bis jetzt noch nicht um den deutschen Geist ginge, sondern um das Geld?

Heute abend geh ich wieder mit auf Patrouille – endlich mal wieder etwas »Außerordentliches«.

Es grüßt Dich
Gerrit


 << zurück weiter >>