Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An August Deppe

Gent, 8. 3. 15

L. A. Nun willst Du von hier hören – ich schrieb schon so manches an andere, daß ich eigentlich etwas müde bin, es zu wiederholen.

Der erste Eindruck, als wir vom Gare du Nord kamen und zur Kaserne marschierten, war natürlich, wie immer wohl, wenn man in eine ausländische Stadt kommt–Unklarheit; und dann später der Versuch, sich zurechtzutasten mit dem bisher zu eigenen Begriffsvermögen, das vor Fremdem nicht ausreicht und erweitert bzw. erneuert werden muß. Da ich weder Lust noch Zeit habe, alles in grammatikalischer Reihenfolge zu bringen, zeichne ich etliches in impressionistischer Art auf. – Am Bahnhof ein Polizeibeamter mit weißer Binde um den Arm, der einem Soldaten in deutscher Sprache den Weg weist. Die belgischen Polizeibeamten sind (ohne Waffe) wieder im Stadtdienst.

Der Bahnhof selbst, ein sehr interessanter neugotischer Bau mit stolzem, weit sichtbarem, nadelschlankem Uhrturm. Innen in den Hallen modern-gotischer Mosaik-Wandschmuck von Qualität.

Die Menschen in den von uns durchzogenen Straßen von einem Aussehen, das zuerst tatsächlich Erschrecken und Ekel in mir aufsteigen läßt; für mein (unser) Empfinden sehen alle diese Männer mit dem mißtrauischen, oder gemacht gleichmütigen Blick, in ihren Ulstern, Mänteln und holländischen Holzschuhen, englischen Mützen und armdick geschlungenen Halsschals wie Zuhälter aus. (Die Hälfte davon mag es in Wirklichkeit, durch die jetzigen Verhältnisse bedingt, auch sein.) Und die Weiber und Mädchen von den Halbwüchsigen bis zur »Matrone« geschminkt und gepudert und mit pariserisch traditionellen Pony-Stirnlöckchen, von Leibe fett und schwammig (recht quammig, quappig; das bezahlen mit hohem Preis Orientalen ...) sehen dumm und gemein aus: Dirnen. Ich sah Mädchen, viele, von etwa 8-13 Jahren, auch solche besserer Herkunft (die begleitende Erzieherin oder Mutter bezeugte das) – bemalt, die unvermeidlichen Pony-Locken, mit einem Ausdruck von Frühreife und sittlicher Verkommenheit, die einem Bedauern oder Abscheu und Jammer erregt. Merkwürdigerweise scheinen die erziehenden Mütter kein Auge für die beginnende Fäulnis an den Wurzeln ihrer Zukunftsbäumchen zu haben.

Daß sich natürlich nicht die beste belgische Menschheit (es gibt überall gute und beste Menschen) hier noch befindet, ist klar.

Ein wunderbares Gebäude ist die steinalte Kathedrale St. Bavo. Verwittertes altgotisches Granitmauerwerk, zwei hohe Türme nebeneinander an der Stirnseite, oben stumpf abgezackt, ähnlich der Notre Dame in Paris. An einem Sonntagnachmittag waren wir drinnen; ein großes Hallenschiff, der Steinboden mit unzähligen hochlehnigen Betstühlen bedeckt, einige Menschen, alte Mütterchen betend darin – und tiefinnen, altarhin, mystisch dunkle Pracht. Mosaikfenster, dadurch erzeugter schwelender Farbenrauch, eine Menge flackernder Kerzen am Altar; in der ganzen Umgebung Bilder und Statuen, Nebenaltäre; das Ganze von dem allgemeinen magisch beleuchteten Hauptschiff durch Schnüre abgetrennt. Vor dem Altar kniend in ihren Betstühlen, Nonnen, unbeweglich, riesige weißgeflügelte Hauben auf den Köpfen – weiter vorn rechts eine Marienfigur mit aufgehängten Dutzenden von goldenen Herzen und Händen: Dankgeschenke – davor wieder eine still betende Frau aus dem Alltag.

Das alles: ein merkwürdig feierliches Bild, vor dem man erschauert und sich kindlich fühlt.

Überhaupt Architektur – darin kann man hier geradezu schwelgen: Patrizier-Handelshäuser am Kanal und Markt, Verwaltungsgebäude: Rathaus und andere Sitze, Burg- und Torveste und Kirchen – alles reich und sehr schön, fast alles in allem gotisch. An moderner Architektur viel französischer Kitsch, Stuckgeschichten, Ornamente unnotwendig oder am verkehrten Platz, oder überhaupt proportionell verfehlt.

Einige schöne moderne Denkmäler sind da: Brunnenfiguren und dergleichen, das beste davon wohl das vor St. Bavo stehende bronzene Hubert- und Jan-van-Eyck-Denkmal. Ein reich bewegtes Körper- und Putten-Relief, rundum die beiden archaistisch geformten, steif dasitzenden magisterlichen Großen. (Ich werde Dir noch Karten mit dieser und anderen Abbildungen schicken.) Der berühmte Genter Altar befand oder (was ich nicht genau weiß, weil ich ihn nicht sehen konnte) befindet sich in der Kathedrale.

Ich will eben noch kurz von der Genter Gemäldesammlung erzählen. In Erinnerung geblieben ist mir: das hohe Durchschnittsniveau belgischer Malerei. Da ist Lagae: zwei gefesselte, gebückt und traurig dastehende Greise, die an Rodins »Bürger von Calais« und an Hodlers Gestalten denken machen; jedoch nicht aus Epigonentum, sondern durch ihre kongeniale, herbe Großzügigkeit der Gestaltung. Lambeaux mit verschiedenen Sachen. Ein sehr schöner, kostbarer Orpheus mit der Harfe; meisterhaft fein in Holz geschnitten von George Verbauk. Bilder: George Buysse; wunderbare, eindrucksvolle Farbstimmungen in ausgereiften flämischen Landschaften. Léon Frédéric, ein starker Künstler, man kennt von Darmstadt her seine originelle bildnerische Umdichtung des Waldbachrauschens aus Beethovens Pastorale; den durch den sonndurchlichteten Wald hüpfenden Bach, und darin und darum tummeln, hüpfen, springen, tanzen, plätschern, lachen überall fröhliche Scharen nackter Kinder; das Bild musiziert, man vergißt es nicht. Hier fand ich außer einem Bilde, auf dem flämische blaubekittelte Bauern in sonniger Sonntagsschenke dargestellt waren, ein anderes – ein tief schwermütiges Mahl der barhäuptigen Bauernfamilie unter freiem, grau dahinjagendem Herbsthimmel, der schon trüb dunkelt, nach der Heimkehr vom Begräbnis eines Angehörigen; alle sitzen in den tristen, unförmigen graublauen Kitteln da und berühren kaum die irdene Schale oder das karge gebrochene Brot. Niemand sieht auf, niemand spricht, niemand weint, alles schweigend und unsagbar gedrückt. (Das ist Größe.)

Nun zuletzt noch: Rysselberghe, ein Gruppenporträt verschiedener Namhaften; ich erkannte darunter den im Korbsessel sitzenden, mit rotem Rock bekleideten bewegt und erregt rezitierenden Verhaeren, im Halbprofil – und darum im Halbkreis sitzend und stehend: Rostand, Maeterlinck und einige andere, die ich nicht erkannte. Am meisten interessierte mich auf diesem in Punktmanier (Pointilismus) gemalten Bilde eine gewisse Verwandtschaft im Gesichtsausdruck zwischen diesem ekstatisch-rezitierenden Verhaeren – und dem jetzigen zweiundfünfzigjährigen Dehmel, wie ich ihn in lebhaftem Gespräch in ähnlicher Stellung sitzen sah – keine Porträtähnlichkeit derselben Gesichtsform, sondern diese selben markanten, beweglichen Falten in Stirn und Wangen, die angezogenen Augenbrauen und der merkwürdig glänzende, heftige Blick, der aus der sonst schattendunklen Augenhöhle vorquillt, diese selben Zeichen des ekstatisch gehobenen Innern, ich möchte sagen: die Pathosfalten, der Pathosblick – in Wirklichkeit haben ja beide auch in ihren Dichtungen viel Wesensverwandtes im Pathos.

Schluß!

Schick mir bitte auch mal etwas zu lesen; Zeitungen, literarische Beilagen, »Weiße Blätter«, »Kunstwart«. –

Nun warte ich sehnlichst auf mein Paket.

Viele Grüße
Gerrit


 << zurück weiter >>