Alexander Dumas d. Ä.
Die Fünfundvierzig
Alexander Dumas d. Ä.

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Die Tür öffnet sich.

Als aber der arme Henri an die Tür des geheimnisvollen Hauses kam, erfaßte ihn wieder sein gewöhnliches Zögern. Und er machte noch einen Schritt.

Dann klopfte er zögernd in langen Pausen dreimal hintereinander; als alles still war, murmelte er: »Gott befohlen, grausames Haus; Gott befohlen bis morgen!«

Und er bückte sich, bis seine Stirn die steinerne Treppe berührte, und drückte darauf aus der Tiefe seiner Seele einen Kuß, daß der harte Granit erbebte, der aber noch minder hart war, als das Herz der Bewohner dieses Hauses.

Dann zog er sich zurück. Doch kaum hatte er zwei Schritte gemacht, als zu seinem tiefen Erstaunen der Riegel klirrte. Die Tür öffnete sich, und der Diener verbeugte sich tief.

Es war derselbe, dessen Porträt wir bei seinem Zusammentreffen mit Robert Briquet entworfen haben.

»Guten Abend, mein Herr,« sagte er mit heiserer Stimme, deren Ton jedoch du Bouchage süßer vorkam, als die süßesten Konzerte der Cherubim.

Henri näherte sich zitternd, verwirrt, faltete die Hände und wankte so sichtbar, daß ihn der Diener hielt, damit er nicht auf die Schwelle fiel, was übrigens mit dem offenbaren Ausdruck eines ehrfurchtsvollen Mitleids geschah.

»Hier bin ich, ich bitte Euch, erklärt mir, was Ihr wünscht.«

»Ich habe so sehr geliebt,« erwiderte der junge Mann, »daß ich nicht weiß, ob ich noch liebe. Mein Herz hat so gewaltig geschlagen, daß ich nicht sagen kann, ob es noch schlägt.«

»Wäre es Euch nicht gefällig, mein Herr, hier sich neben mich zu setzen und mit mir zu plaudern?« fragte der Diener achtungsvoll.

»Oh! ja.«

»Sprecht,« fügte der Diener, als sie nebeneinandersaßen, »nennt mir Euer Verlangen!«

»Mein Freund,« erwiderte du Bouchage, »es ist heute nicht das erstemal, daß wir einander sprechen. Oft habe ich Euch, wie Ihr wißt, an einer Straßenecke erwartet und Euch Gold angeboten; zuweilen versuchte ich auch, Euch einzuschüchtern, doch nie hörtet Ihr mich, stets saht Ihr mich leiden, ohne ein sichtbares Mitgefühl mit meinen Schmerzen. Heute heißt Ihr mich sprechen, Ihr fordert mich auf, Euch meinen Wunsch auszudrücken; mein Gott, was ist denn vorgefallen, welches neue Unglück verbirgt mir diese Fügsamkeit von Eurer Seite?«

Nachdem du Bouchage seinem Schmerze Ausdruck verliehen und auch erwähnt hatte, daß der König ihm seine Beihilfe zugesagt, er sie aber abgewiesen habe, erwiderte der Diener, nachdem er mit ängstlicher Aufmerksamkeit alles, was der junge Mann sprach, angehört hatte: »Herr Graf, glaubt mir, die Dame, die Ihr anklagt, hat kein so unempfindliches und besonders kein so grausames Herz, wie Ihr meint, denn sie hat Euch zuweilen gesehen, sie hat begriffen, was Ihr leidet, und fühlt eine lebhafte Sympathie für Euch.«

»Oh! Mitleid, Mitleid,« rief der junge Mann, indem er sich den kalten Schweiß abwischte, der von seinen Schläfen lief; »oh! es komme der Tag, wo ihr Herz, das Ihr rühmt, die Liebe fühlt, so wie ich sie fühle!«

»Herr Graf, diese Frau hat vielleicht eine stärkere Leidenschaft gekannt, als Ihr sie je kennen werdet; diese Frau hat vielleicht geliebt, wie Ihr nie lieben werdet.«

Henri hob die Hände zum Himmel empor und rief: »Wenn man so liebt, liebt man immer.«

»Habe ich Euch etwa gesagt, sie liebe nicht mehr?«

Henri stieß einen Seufzer aus und sank zusammen, als ob er vom Tode getroffen worden wäre. »Sie liebt!« rief er, »sie liebt! oh! mein Gott! mein Gott!«

»Ja, sie liebt; doch seid nicht eifersüchtig auf den Mann, den sie liebt, Herr Graf; dieser Mann gehört nicht mehr der Erde an; meine Gebieterin ist Witwe,« fügte der mitleidige Wiener in der Hoffnung hinzu, durch diese Worte den Schmerz des jungen Mannes zu beschwichtigen.

Und in der Tat, wie durch einen Zauber gaben ihm diese Worte wieder Atem, Leben, Hoffnung.

»Im Namen des Himmels,« sagte er, »verlaßt mich nicht; sie ist Witwe, sagt Ihr; dann ist sie es seit kurzem, sie wird die Quelle ihrer Tränen vertrocknen sehen, sie ist Witwe, ah! mein Freund, dann liebt sie niemand, da sie einen Leichnam, einen Schatten, einen Namen liebt; der Tod ist weniger als die Abwesenheit; mir sagen, sie liebe einen Toten, heißt mir sagen, sie werde mich lieben.«

Der Diener schüttelte den Kopf und erwiderte: »Diese Dame, Herr Graf, hat dem Toten ewige Treue geschworen; und ich kenne sie, sie wird ihr Wort halten.«

»Ich werde warten, ich werde zehn Jahre warten, wenn es sein muß,« rief Henri; »Gott gestattete nicht, daß sie vor Kummer starb oder mit Gewalt ihre Tage abkürzte, wie Ihr seht; da sie nicht tot ist, kann sie leben, und da sie lebt, darf ich hoffen.«

»Oh! junger Mann!« sagte der Diener mit düsterem Tone, »rechnet nicht so mit den Forderungen der Toten; sie hat gelebt! sagt Ihr; ja, sie hat gelebt! nicht einen Tag, nicht einen Monat, nicht ein Jahr; sie hat sieben Jahre gelebt! (Joyeuse bebte.) Doch wißt Ihr warum, in welcher Absicht, mit welchem Entschluß sie gelebt hat? Sie werde sich trösten, hofft Ihr? Nie, nie, Herr Graf! das sage ich Euch, das schwöre ich Euch, ich, der ich nur der untertänige Diener des Toten war, ich, der ich, solange er lebte, ein frommes, glühendes, hoffnungsvolles Gemüt war und, seitdem er tot ist, ein verhärtetes Herz geworden bin; ich, der ich nur ihr Diener bin, wiederhole Euch, sie wird sich nie trösten.«

»Dieser so sehr beklagte Mann,« unterbrach ihn Henri, »dieser glückliche Tote, dieser Gatte . . .«

»Es war nicht der Gatte; es war der Geliebte, Herr Graf, und eine Frau wie die, die Ihr unglücklicherweise liebt, hat nur einen Geliebten in ihrem ganzen Leben.«

»Mein Freund!« rief der junge Mann, erschrocken über die majestätische Art dieses einfachen Menschen, »ich beschwöre Euch, vermittelt für mich!«

»Ich!« rief er, »ich! Hört, Herr Graf, wenn ich Euch für fähig gehalten hätte, gegen meine Gebieterin Gewalt zu gebrauchen, so hätte ich Euch mit dieser Hand getötet.«

Und er zog unter seinem Mantel einen nervigen Arm hervor, der einem Mann von kaum fünfundzwanzig Jahren zu gehören schien, während ihm seine weißen Haare und seine gebückte Gestalt das Ansehen eines Sechzigers gaben.

»Und hätte ich glauben können, meine Gebieterin liebe Euch,« fuhr er fort, »so wäre sie gestorben . . . Nun, Herr Graf, habe ich Euch gesagt, was ich Euch zu sagen hatte, versucht es nicht, mich zu einem weiteren Geständnis zu bewegen; denn bei meiner Ehre, und, obgleich ich kein Edelmann bin, glaubt mir, meine Ehre ist etwas wert . . ., denn bei meiner Ehre, ich habe alles gesagt, was ich sagen konnte.«

Henri stand, den Tod im Herzen, auf und sagte: »Ich danke Euch, daß Ihr dieses Mitleid mit meinem Unglück gehabt habt; nun bin ich entschieden.«

»Ihr werdet also in Zukunft ruhiger sein, Herr Graf, Ihr werdet Euch von uns entfernen, Ihr werdet uns einem Geschick überlassen, das, glaubt mir, schlimmer ist, als das Eurige.«

»Ja, ich werde mich in der Tat entfernen, seid unbesorgt, und zwar für immer,« sagte der junge Mann.

»Ich verstehe Euch, Ihr wollt sterben.«

»Warum sollte ich es verbergen? Ich kann ohne sie nicht leben und so muß ich wohl sterben, wenn ich sie nicht besitze.«

»Herr Graf, ich habe sehr oft mit meiner Gebieterin über den Tod gesprochen; glaubt mir, es ist ein schlimmer Tod, der Tod, den man sich mit eigener Hand gibt.«

»Ich werde auch diesen nicht, wählen; es gibt für einen jungen Mann von meinem Namen, meinem Alter und meinem Vermögen einen Tod, der jederzeit ein schöner Tod gewesen ist, es ist dies der, den man in Verteidigung seines Königs und seines Vaterlandes empfangt.«

»Wenn Ihr über Eure Kräfte leidet, wenn Ihr denen, die Euch überleben, nichts schuldig seid, wenn Euch der Tod auf dem Schlachtfelde geboten ist, sterbt, Herr Graf, sterbt; ich wäre längst tot, wenn ich nicht zum Leben verurteilt wäre.«

»Gott befohlen und Dank,« sagte Joyeuse, indem er dem unbekannten Diener die Hand reichte. »Auf Wiedersehen in einer andern Welt!«

Und er warf zu den Füßen des durch diesen tiefen Schmerz gerührten Dieners eine schwere Goldbörse und entfernte sich rasch.

Es schlug Mitternacht im Glockenturm von Saint-Germain des Prés.



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