Richard Dehmel
Zwei Menschen
Richard Dehmel

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22.

Und eine Mondverfinsterung beginnt;
den blanken Ball beschleicht ein scharfer Schatten.
Der Schatten schwillt und macht mit seinem matten
Erdschwarz den Himmelskörper blind.
Der kahle Burghain steht um Turm und Erker
wie ein Gespensterschwarm um einen Kerker.
Das Weib sinnt:

Es hat eine Seele sich befreit:
sie band sich selber die Hände.
Da kam die Ruhe: Nun bist du gefeit.
Ich halt dich umfangen wie Raum und Zeit:
unser Band hat nicht Anfang noch Ende.
Nun seh ich ohne Sehnen und Bangen
um unsre Sterne das ewige Dunkel hangen;
wir wissen ungeblendet heimzufinden.
Und selbst der Mond, der alte Bösewicht
mit seinem unheimlich geborgten Licht,
kann uns das Sonnenband nicht mehr entwinden.

Im Mond der Schatten schwillt und schwillt;
im dunkeln Weltraum blinkt immer befreiter
das Licht, das von den Sternen quillt.
Der Mann sinnt weiter:

Und man erkennt: Verbindlichkeit ist Leben,
und Jeder lebt so völlig, wie er liebt:
die Seele will, was sie erfüllt, hingeben,
damit die Welt ihr neue Fülle giebt.
Dann wirst du Gott im menschlichen Gewühle
und sagst zu mir, der dich umfangen hält:
du bist mir nur ein Stück der Welt,
der ich mich ganz verbunden fühle.
Bei Tag, bei Nacht umschlingt uns wie ein Schatten
im kleinsten Kreis die große Pflicht:
wir Alle leben von geborgtem Licht
und müssen diese Schuld zurückerstatten.

Im Mond der Schatten schickt sich an zu weichen;
zwei Menschen sehn den Himmel voller Zeichen.


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