Richard Dehmel
Zwei Menschen
Richard Dehmel

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12.

Und sie schweben in steiler Gletscherspalte;
die Seile knirschen, der Atem raucht.
Aus dämmernden Grabesgründen taucht
die blaue Klarheit, die schneidend kalte.
Und sie finden Halt. Der Mann horcht und haucht:

Hier kommen die großen Ströme her,
wo die Tiefen weinen vor eisigem Grausen.
Hörst du die tausend Tropfen brausen?
die fernen Wasserstürze? das Meer?
Hörst du im Brausen das Todesschweigen
aus den leuchtenden Grüften steigen?
sieh: es scheint, ein Wanken weitet Allvaters Hallen!
Lea – wenn jetzt die Wand zerrisse
und wir würden einsam ins ungewisse
Reich des ewigen Daseins fallen:
wärst du im Sturz noch meine Göttin der Freude?
oder wieder die Fürstin Herzeleide?

Er sucht ihren Blick; er sieht blaue Kreise,
er faßt fester Fuß – der Gletscher schreit.
Dumpf dröhnt's im fern zerreißenden Eise;
meergrün furcht sich die Dunkelheit.
Die starre Wand bebt. Das Weib fragt leise:

Bist du des Todes so kalt gewahr?
Allmutter sieht in Allvaters Hallen
einen heimlichen Brunnen überwallen,
drin dämmert's warm und wunderbar.
Es scheint, Opale schmelzen aus seinem Grunde.
Da entsprießt dem märchenfarbenen Schlunde
eine rosige Knospe, morgenklar.
Oh, die möchte Allmutter Herzeleide
blühn sehn voll göttlicher Augenweide;
und ihr Schooß erbebt, des Lebens gewahr!

Sie starrt beklommen. Es starrt der Mann,
als ob er selbst Tod und Leben erschuf.
Da schallt von oben der Führerruf;
zwei Menschen schweben himmelan.


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