Richard Dehmel
Zwei Menschen
Richard Dehmel

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9.

Und es wird immer freier.
Von den Bergen weichen die Morgenschleier.
Noch wanken Wolken in den Spalten;
aber aus allen grauen Falten
quellen und strahlen wie Diamant
Schneeadern nieder ins grüne Land,
die sich unten in klaren Bächen
Bahn zum dunkeln Strom hin brechen,
steil von Halde zu Halde schäumend.
Das Weib steht säumend:

Wie strebt das alles weg von sich –
o Meiner, Meiner: wohin, wohin!
Jeder Sturzbach zeigt mir, wie Dein ich bin;
und doch lockt jede Wolke mich.
Mir ist so federleicht, zum Fliegen –
was will dies Bangen, es ist kein Grauen:
jeden freien Abgrund möcht ich hinunterschauen,
zwischen Tod und Leben mich wiegen.
Zeig mir das Dorf, wo unsre Räder stehn:
ich kann's ohne Wanken liegen sehn!

Sie will sich über die Tiefe neigen.
Sie steht auf einmal tief erschrocken:
hohl erdröhnt das Tal von Glocken.
Sie weicht zurück. Der Mann lächelt eigen:

Wohin – nun fühlst du's: nicht hinab!
da droht ein Gott: die Welt ist Mein.
Und nicht hinaus: da gähnt sein Grab.
Nur hin, nur hin – dann ist sie Dein!
Dann wird sie dir das Ziel enthüllen,
zu dem der Gießbach stürzend springt:
mit Willigkeit den Willen zu erfüllen,
der alles Leben zu Todeslüsten beschwingt:
du wirst dir selbst, in weltlichen Parabeln,
der unbekannte Gott der alten Fabeln!

Er winkt ihr, hält sie, läßt sie schweben;
zwei Menschen sehn ins Ewige Leben.


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