Richard Dehmel
Zwei Menschen
Richard Dehmel

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18.

In das Geräusch eines Bierlokals,
in das Rauschen großstädtischen Straßenskandals
mischt sich wie Kettengerassel ein Ton.
Elektrisches Glühlicht kämpft in den Ecken
mit blassem Taglicht und Schattenflecken.
Ein Mann spricht horchend durchs Telephon:

Lea! – Hörst du? – Was ist geschehn?
Gestern Abend – hörst du? – es war eben zehn;
dein Brief aus deinen großen Schmerzen
lag mir wie Albdruck auf dem Herzen –
Auf Einmal: ich wagte kein Glied zu regen,
so hatt'ich die Angst des Unterliegens –
auf einmal kann ich mich frei bewegen;
mich hebt ein Gefühl vollkommenen Fliegens
wie über ein Ufer, über ein Meer –
Sag; hat meine Seele hellgesehen?
bist du erlöst von deinen Wehen?
Sprich doch! Was atmest du so schwer?!

Er horcht. Durch das Geräusch des Lokals,
durch das Rauschen des Straßenskandals,
durch eine Stille hohlsausend und leer
kommt eines Weibes Stimme her:

Deine Seele hat hellgesehen:
ich bin erlöst von meinen Wehen:
mir lebt ein Kind.
Es liegt wie Albdruck auf meinem Herzen.
Es sieht nicht meine großen Schmerzen.
Es – ist – blind –

In das Rauschen des Straßenskandals,
in die Geräusche des Bierlokals
mischt sich wie Kettengerassel ein Ton;
ein Mann verläßt das Telephon.
Er hört im Hintergrund einen Herrn
»Kellner, mehr Licht auf Erden!« schrein,
und ein Gelächter hinterdrein.
Zwei Menschen sind einander fern.


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