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Letztes Kapitel.

– »In den erwünschten Hafen
Endlich eingelaufen.«

      Shakespeare.

 

Im August jenes ereignißvollen Jahres war eine Hochzeitsgesellschaft im Landhause der Lady Vargrave versammelt. Die Ceremonie war soeben vollendet: Ernst Maltravers hatte Eveline Templeton Georg Legard als Braut zugeführt. Konnte ein beobachtendes Auge auf dem Gesichte dessen, der die Stelle eines Vaters bei derjenigen vertrat, um die er sich einst als Braut beworben hatte, die Spuren geistiger Kämpfe bemerken, so waren es nur die Spuren vergangener Kämpfe; die Ruhe hatte sich wieder auf die schweigende Flut gesenkt, als Eveline, ehe sie zur Trauung ging, ihre Thränen und ihr Erröthen am Busen der Lady Vargrave verbarg.

Als Legard mit dem Entzücken der Hoffnung und Liebe in seinem Antlitz danebenstand, wandte sich Maltravers auf einen Augenblick zum Fenster und man konnte einen Seufzer von ihm vernehmen – den letzten Seufzer, welchen er der tiefsten und spätesten Leidenschaft seines Lebens weihte – einen Seufzer, der nicht seinen vergangenen Täuschungen, sondern ihrem zukünftigen Loose galt. Er sah aus dem Fenster den Wagen, welcher die Braut zur Heimath eines Andern hinwegführen sollte, und die heiteren Gesichter der Bauern, deren Herzudrängen nicht verboten war und denen diese feierliche Ceremonie nur als ein heiterer Aufzug galt; als er sich noch einmal zu denen, die im Zimmer blieben, wandte, trat Legard auf ihn zu und drückte ihm die Hand.

»Sie waren der Retter meines Lebens; Sie haben mir mein irdisches Glück ertheilt; der einzige Wunsch, der mir noch übrig bleibt, besteht darin, daß auch Sie vom Himmel das Glück erhalten, welches Sie Andern verschafften!«

»Legard, lassen Sie Eveline niemals einen Kummer empfinden, vor welchem Sie dieselbe bewahren können, und glauben Sie mir, der Gatte Evelinens wird mir ebenso theuer wie ein Bruder sein.«

Wie ein Bruder eine jüngere und verwaiste Schwester segnet, welche seiner Sorgfalt, damit sie die eines Vaters ersetze, hinterlassen und vertraut wurde, so legte Maltravers seine Hand leicht auf Evelinens goldene Flechten, und seine Lippen bewegten sich zum Gebete. Er verstummte; er drückte seinen letzten Kuß auf ihre Stirn und legte ihre Hand in die ihres jungen Gatten. Dann herrschte Schweigen – es wurde für die Ohren des Maltravers durch den Schall der Räder von dem Wagen unterbrochen, welcher die Gattin Georg Legards hinwegführte.

Der Zauber war für immer gebrochen. Vor dem einsamen Manne stand das Idol seiner frühesten Jugend. Alice, vielleicht so schön und einst so jung und leidenschaftlich wie Eveline, blaß und verändert, aber lieblicher wie einst, wenn himmlische Geduld, heilige Gedanken und die Prüfungen, welche reinigen und erheben, über menschliche Züge etwas Schöneres als Jugendblüthe ergießen können.

Der gute Pfarrer war allein außer den Beiden gegenwärtig, welche den Irrthum und die Liebe überlebt hatten, wodurch das Entzücken und das Elend von so Manchem unseres Geschlechtes geschaffen wird. Der alte Mann betrachtete sie eine Weile und schlich sich unbemerkt hinweg.

»Alice,« sagte Maltravers, und seine Stimme zitterte; »bis jetzt haben Sie die Hand des Geliebten Ihrer Jugend aus Beweggründen zurückgewiesen, welche zu rein und edel für die praktischen Neigungen und Bande des Lebens sind. Hier flehe ich wiederum zu Ihnen, die Meinige zu werden. Ertheilen Sie meinem Gewissen einen mildernden Balsam durch den Glauben, daß ich Ihnen die Uebel und den Kummer vergelten kann, die ich einst Ihnen zuzog. Nein, weinen Sie nicht, wenden Sie sich nicht hinweg; Jeder von uns steht allein. Jeder von uns bedarf des Andern. In Ihrem Herzen sind alle meine zärtlichsten Ideenverbindungen, alle meine glänzendsten Erinnerungen verschlossen; in Ihnen erblicke ich den Spiegel von dem, was ich gewesen bin, als die Welt mir noch neu war, ehe ich erkannte, wie schaal das Vergnügen, wie trügerisch der Ehrgeiz ist. Alice, Sie lieben mich noch stets! Zeit und Abwesenheit haben nur die Kette gestärkt, welche uns verbindet. Bei der Erinnerung unserer Jugendliebe, bei dem Grabe unseres verlorenen Kindes, welches, wenn es noch lebte, die Eltern vereint haben würde, flehe ich Sie an, die Meinige zu werden.«

»Sie sind zu großmüthig,« sagte Alice, indem sie unter den Regungen beinahe niedersank, welche den sanften Geist und die gebrechliche Form »Gestalt«. Anm.d.Hrsg. erschütterten. »Wie kann ich Ihr Mitleid erdulden? Es ist nur Mitleid. Sie täuschen sich selbst. Sie sind von anderem Stande, als ich glaubte. Wie können Sie das Kind des Mangels und der Schuld zu Ihrem Rang erheben? Und soll ich, die ich, Gott weiß es, Sie von allem Kummer erretten möchte, Ihnen jetzt, da die Jahre den wenigen Reiz, den ich jemals besaß, so verändert und gebrochen haben, dieß verwelkte Herz, diesen ermüdeten Muth überreichen? O nein!« Alice schwieg plötzlich und Thränen rannen ihre Wangen hinab.

»Sei es, wie Sie wollen,« erwiderte Maltravers traurig, »wenigstens gründen Sie Ihre Weigerung auf besseren Vorwand! Sagen Sie, daß Sie jetzt, unabhängig im Vermögen und an die von Ihnen gebildeten Gewohnheiten anhänglich, ihr Glück gegen mich nicht wagen wollen. Vielleicht haben Sie Recht. Zu meinem Glück würden Sie sicherlich beitragen; Ihre Stimme würde manche Erinnerung und manchen Gedanken an die Jahre der Täuschung hinwegzaubern, die seit unserer Trennung verliefen; Ihr Bild würde die Einsamkeit verscheuchen, welche sich sonst an die Zukunft eines Lebens voll vereitelter Hoffnung und überstandener Qual für immer schließen muß. Bei Ihnen, und bei Ihnen allein würde ich eine Heimath, in Ihnen eine Trösterin, eine mitleidige und besänftigende Freundin finden. Dieß könnten Sie mir ertheilen und zugleich ein Herz, welches einer Liebe treu blieb, die eine so dauernde Hingebung nicht verdiente. Aber ich – was kann ich Ihnen geben? Ihre Stellung ist der meinigen gleich; Ihr Vermögen genügt für Ihre einfachen Bedürfnisse. Wahrlich, der Tausch ist nicht gleich; Alice, leben Sie wohl!«

»Grausamer,« sagte Alice, indem sie mit schüchternem Schritt ihm näher trat. »Wenn ich, die ich Ihrer so unwerth bin, Ihnen bei einer einzigen Sorge Trost gewähren könnte –«

Sie sagte nichts mehr, aber sie hatte genug gesagt; Maltravers schloß sie an seinen Busen und fühlte noch einmal dasjenige Herz, welches niemals, sogar nicht einmal in Gedanken von seiner früheren Verehrung abgewichen war, an seinem Herzen schlagen!

Er zog sie sanft in die frische Luft. Der liebliche und sanfte Nachmittag des letzten Sommermonats ruhete auf den duftenden Blumen; die weite See, welche sich unter ihnen und vor ihnen ausstreckte, zeigte auf ihren Wogen ein goldiges und heiteres Lächeln.

»Ach,« murmelte Alice sanft, als sie von seiner Brust aufblickte; »ich frage Sie nicht, ob Sie Andere geliebt haben, seit wir uns trennten; die Treue des Mannes ist so verschieden von der unsern; ich frage nur, ob Sie mich jetzt lieben?«

»Mehr, unermeßlich mehr wie in unserer Jugend,« rief Maltravers mit glühender Leidenschaft aus; »mit größerer Zärtlichkeit, größerer Achtung und größerem Vertrauen, als ich jemals ein lebendes Wesen liebte! – Mehr sogar, wie sie, in deren Jugend und Unschuld ich die Erinnerung an Sie verehrte! Hier habe ich gefunden, was mein Ideal beschämt und in Schatten stellt! Hier habe ich eine Tugend gefunden, die, von Gott und von der Natur entsprungen, weiser war, wie meine falsche Philosophie und fester als mein Stolz! Ihre Wiege war das Elend; ihre Kindheit ward unter Scenen der Furcht und des Lasters auferzogen, welche Ihre Geisteskräfte hinwegscheuchten, aber Ihre Seele nicht befleckten – Ihr Vater selbst war Ihr Verführer und Feind – Sie allein blieben ein Wunder und ein Engel bei dem Flecken eines süßen und unerkannten Fehls. Sie blieben sich gleich in den Prüfungen der Armuth und des Reichthums – Ihnen war es beschieden, sich über Alle triumphirend zu erheben – ein Muster der erhabenen Moral, die uns lehrt, mit welcher geheimnißvollen Schönheit und unsterblichen Heiligkeit der Schöpfer unsere menschliche Natur begabt hat, wenn Sie durch unsere Neigungen geheiligt wird. Sie allein genügen, den hochmüthigen Glauben des Menschenfeindes und Pharisäers in Staub zu werfen. Ihre Treue gegen mich, den Irrenden, hat mich belehrt, stets meine Nebenmenschen, die Geschöpfe Gottes, zu denen Sie bei all Ihrem Adel und Edelmuth gehören, zu lieben, ihnen zu dienen, sie zu bemitleiden und zu achten.«

Er schwieg, von seinen Gedanken überwältigt. Alice empfand ein zu hohes Glück, um Worte zu finden; allein im Säuseln der von der Sonne beleuchteten Blätter, in dem Hauche der Sommerluft, in dem tiefen und entfernten Rauschen der vom Himmel umringten See erklang eine melodische Stimme, wodurch die Natur seine Worte zu wiederholen und die Wiedervereinigung ihrer Kinder zu segnen schien.

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Maltravers betrat noch einmal die so lange unterbrochene Laufbahn. Er betrat sie mit einer mehr praktischen und beharrlichen Kraft, als sie die auflodernde Begeisterung früherer Jahre darbot. Allen denen, die ihn genau kannten, war es auffallend, daß sein stolzes Wesen sich gemindert hatte, während die Kraft seiner Seele unvermindert blieb. Er verachtete nicht länger den Menschen, wie er ist, und verlangte nicht länger von allen Dingen das nur in Visionen gebildete Ideal; er war geeigneter, sich mit der lebenden Welt zu vermischen und bei den großen Zwecken nützlich mitzuwirken, welche unser Geschlecht verfeinern und erheben. Seine Gefühle waren vielleicht weniger hochgespannt, aber seine Theorien unendlich weiser.

Stufenweise haben wir ihn in den Geheimnissen des Lebens begleitet. Die Eleusinien sind geschlossen, und das letzte Trankopfer ist ausgegossen.

Und Alice! Wird uns die Welt tadeln, wenn du endlich glücklich geworden bist? Wir verbannen ja täglich aus unsern Gesetzbüchern die Statuten, welche die Strafe zum Verbrechen in Mißverhältniß setzen; täglich predigen wir die Lehre, daß wir das Volk demoralisiren, sobald wir die Gerechtigkeit zur Grausamkeit anspannen. Es ist Zeit, daß wir auch auf die Gesetze der Gesellschaft die Grundsätze anwenden, die wir in der Gesetzgebung anerkennen; es ist Zeit, daß wir die Todesstrafe für unbedeutende Verbrechen sogar in Büchern fortschaffen; es ist Zeit, daß wir die Moral der Buße annehmen und dem Fehltritt das Recht der Hoffnung, als Lohn der Unterwerfung unter die nothwendigen Leiden, lassen. Man glaube auch nicht, daß der Schluß von Alicens Laufbahn eine Versuchung für den Fehl im Beginn darbiete. Achtzehn Jahre des Kummers, eine in schweigender Trauer am Grabe der Freude verbrachte Jugend, bieten Bilder dar, welche einen düsteren und warnenden Schatten über diese Erzählung werfen. Diese werden der Jugend noch lange vorschweben, nachdem sie sich von dem Schluß dieser Erzählung fortgewandt hat! Wäre Alice an gebrochenem Herzen gestorben – wäre ihre Strafe härter gewesen, als sie ertragen konnte – dann hätte man, wie im wirklichen Leben, meine Moral mit Recht verurtheilen können, und das menschliche Herz würde beim Mitleid für das Opfer, den Fehltritt vergessen haben – meine Erzählung ist beendet.

 

Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.


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