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Zehntes Buch.

Ein Traum!

      Homer. Bei Kottenkamp fehlt das Motto des zehnten Buches; es wurde nachgetragen. Anm.d.Hrsg.

 

Erstes Kapitel.

Wie sich die Natter dir nahet –
Die sich von, schädlichem Kraute genährt.

     Virgil.

 

Gilt ihm das Mädchen ja doch nur gering.

     Ovid.

 

Es wäre eine überflüssige, vielleicht eine widrige Aufgabe, die Art und Weise weitläufig darzulegen, wie Vargrave seine Schlingen um das unglückliche Mädchen legte, welches vom Geschick zu seiner Beute bestimmt war. Er hatte ganz richtig vorausgesehen, daß Eveline nachdem ersten, durch Maltravers Brief erregten Erstaunen, ihre Entrüstung durch das sichere Bewußtsein seiner Liebe ihren Unglauben an seine Selbstanklage und ihre geheime Ueberzeugung erdrücken würde; daß irgend ein Unfall, ein Mißgeschick, wovon er nicht wollte, daß sie es theile, sein Lebewohl und seine Flucht veranlaßt habe. Vargrave hinterbrachte deßhalb der Eveline sehr bald jene Erzählung, die er Maltravers schon angegeben hatte. Er erinnerte sie an den bleibenden Kummer, welcher bei Lady Vargrave so offenbar sich zeigte, an deren Gleichgültigkeit hinsichtlich der Vergnügungen der Welt, und an den empfindlichen Widerwillen, womit sie vor jeder Erwähnung ihres früheren Schicksals zurückwich.

»Das Geheimniß,« sagte er, »liegt in einer jugendlichen und heißen Liebe; Ihre Mutter liebte einen Fremdling, der ihr an Rang überlegen und den Kopf voll von deutscher Romantik, damals auf abenteuerlichen Fußreisen unter dem angenommenen Namen Butler umherstreifte. Sie ward von ihm ebenso heiß geliebt. Ihr Vater, welcher den Rang ihres Geliebten vielleicht beargwohnte, besorgte, ihre Ehre könne gefährdet werden. Jener Vater war ein sonderbarer Mann; ich kenne nicht seinen wirklichen Charakter und seine Beweggründe; ich weiß nur, daß er plötzlich seine Tochter der Bewerbung und Nachsuchung ihres Geliebten entzog; sie sahen einander nicht wieder; jener Liebhaber beklagte sie als todt.

Im Verlauf der Zeit ward Ihre Mutter von ihrem Vater gezwungen, Herrn Cameron zu heirathen und ward Wittwe mit einem einzigen Kinde – mit Ihnen; sie war arm, sehr arm! Ihre Liebe und Aengstlichkeit wegen Ihrer bewog sie zuletzt, den Bewerbungen meines verstorbenen Oheims nachzugeben, um Ihretwillen verheirathete sie sich wieder und wiederum trennte der Tod das Band! Aber dennoch erinnerte sie sich unaufhörlich und treu ihrer ersten Liebe, deren Andenken all ihr Leben verdunkelte und verbitterte; sie lebte stets in der Hoffnung, den Verlorenen wiederzusehen. Zuletzt ward die Entdeckung vor Kurzem mir beschieden, der Gegenstand dieser unbesiegbaren Liebe sei am Leben, sei frei in seiner Hand, wenn auch nicht im Herzen; – Sie schauen den Liebhaber Ihrer Mutter in Ernst Maltravers; mir fiel die verhaßte und nur mit Widerstreben eingegangene Pflicht zu, Maltravers zu benachrichtigen, Lady Vargrave und die Alice seiner Jugendliebe seien ein und dieselbe Person, ihm ihre leidende, geduldige und nie besiegte Liebe zu beweisen, ihn zu überzeugen, die einzige im Leben ihr gelassene Hoffnung bestehe darin, daß sie ihn noch einmal wiedersehe.

Sie kennen Maltravers, seinen hohen, gefühlvollen, edlen Charakter, er schauderte voll Schrecken vor dem Gedanken, in seiner Liebe zur Tochter den letzten und bittersten Kummer der von ihm so geliebten Mutter zu erweisen; da er auch wußte, wie vollkommen diese Mutter mit Ihrem Herzen verwachsen war, so schauderte er bei dem Kummer und dem Selbstvorwurf, welchen Sie empfinden würden, wenn Sie jemals entdeckten, daß Sie als ihre Nebenbuhlerin aufgetreten seien und wie Ihre verhängnißvolle Schönheit alle zärtlichen Hoffnungen und Träume zerstört habe. Gefoltert, verzweifelnd und halb außer sich, floh er vor dieser Leidenschaft mit Entsetzen und sucht dieselbe jetzt in der Einsamkeit zu besiegen. Von dem Schmerz und dem Gram der Alice seiner Jugend gerührt, hegt er die Absicht, sobald er weiß, daß Sie dem Glück und der Zufriedenheit zurückgegeben sind, zu Ihrer Mutter zu eilen und seine zukünftige Huldigung als Erfüllung früherer Gelübde darzubieten. Von Ihnen, von Ihnen allein hängt es jetzt ab, Maltravers der Welt zurückzugeben; von Ihnen allein hängt es ab, die noch übrigen Jahre der Mutter zu beglücken, welche Sie so zärtlich liebt.«

Man kann leicht begreifen, mit welchen Gefühlen des Erstaunens, des Mitleids und des Schreckens Eveline der Erzählung zuhörte, deren Fortgang ihre Ausrufungen und ihr Schluchzen öfters unterbrachen. Sie wollte sogleich an ihre Mutter und an Maltravers schreiben. O wie freudig gab sie seine Bewerbung auf! Welch Entzücken versprach sie sich von dem Umstande, daß Maltravers sie verlassen habe, um die von ihr so geliebte Mutter zu beglücken.

»Nein,« sagte Vargrave, »Ihre Mutter darf nicht wissen, daß der geheimnißvolle Gegenstand ihrer Jugendliebe derselbe Maltravers ist, dessen Hand ihrer eigenen Tochter vor Kurzem angeboten wurde, bis seine Lippen selbst ihr die Nachricht geben, und dieselbe durch Betheuerungen seiner wiederkehrenden Liebe mildern. Würde nicht die Nachricht allen Stolz verlegen und alle Hoffnung vernichten? Wie könnte sie zu dem Opfer einwilligen, welches Maltravers zu bringen beabsichtigt? Nicht eher, als bis Sie, um die Worte des Maltravers anzuführen, eine glückliche und geliebte Gattin sind, darf Ihre Mutter die zu ihr wiederkehrende Huldigung des Maltravers erfahren; erst dann darf sie wissen, wem diese Huldigung kürzlich dargeboten wurde – nur erst dann kann sich Maltravers für gerechtfertigt halten, seine Hand ihr anzutragen. Er ist Willens sich zu opfern, zittert aber bei dem Gedanken, Sie zu opfern; sagen Sie Ihrer Mutter nichts, bis Sie von ihren eigenen Lippen erfahren, daß sie Alles weiß.«

Konnte Eveline Bedenken tragen oder zweifeln? Welches Opfer war zu groß, um die Befürchtungen zu vermindern, das Gebot des Mannes zu erfüllen, dessen Verfahren so großmüthig schien; – ihn dem Frieden und der Welt zurückzugeben; – vor Allem aus dem Herzen der geliebten und sanften Mutter jenen brennenden Pfeil zu ziehen; Glück über ihr Schicksal zu ergießen, sie mit dem Geliebten und Verlorenen wieder zu vereinigen?

Ach, weßhalb war Legard abwesend? Weßhalb hielt sie ihn für eigensinnig, leichtfertig und falsch? Weßhalb hatte sie ihre sanftesten Gedanken von ihrer Seele ausgeschlossen? Aber er, der in Wahrheit Liebende, war fern und seine wahre Liebe unbekannt! Aber Vargrave, die wachsame Schlange war da.

In einer verhängnißvollen Stunde, in jener hinreißenden Begeisterung, welche ebenso unsere raschen und erhabenen Thaten uns eingibt, wie sie uns zum Spielzeug Anderer und zu Martyrern macht – in jener Begeisterung, die das Selbst zertritt, welche Alles in einem hochgespannten Eifer für Andere verwirkt, willigte Eveline ein, die Gemahlin Vargrave's zu werden. Zuerst war sie des Opfers sich nicht bewußt – sie war keiner andern Regung sich bewußt als eines edlen Geistes und eines billigenden Gewissens. Ja, zweien Pflichten gehorchte sie allein, der Pflicht gegen ihren todten Wohlthäter, welche sie beinahe aufgegeben hatte,– und der Pflicht gegen ihre lebende Mutter. Später kam eine furchtbare Rückwirkung und dann zuletzt jene leidende und schlafähnliche Ergebung, welche nur Verzweiflung unter einem milderen Namen ist. Ja, dieß Loos war ihr vom Beginn an vorherbestimmt worden; vergeblich hatte sie gesucht, ihm zu entfliehen. Das Schicksal hatte sie ereilt, und sie mußte sich dem Beschluß unterwerfen.

Es war ihr viel daran gelegen, daß die Kunde des neuen Bandes sogleich Maltravers übersandt werde. Vargrave gab das Versprechen, hütete sich aber wohl, es auszuführen; er war zu scharfsinnig, um nicht einzusehen, daß Evelinens Beweggründe bei so plötzlichem Schritt am Tage lägen, und daß seine eigene Bewerbung unzart und ungroßmüthig erscheine. Er wünschte, Maltravers möge nicht eher etwas erfahren, als bis die Verheirathung geschlossen und die unauflösbare Kette geschmiedet wäre. Besorgt, Eveline nur auf einen Tag zu verlassen, besorgt, sie nach England zu ihrer Mutter zu lassen, blieb er in Paris und betrieb eilig alle nothwendigen Vorbereitungen.

Er ließ Douce rufen, der in Person mit den nothwendigen Urkunden kam, um das Ankaufsgeld für Lisle-Court flüssig zu machen, welche Summe jetzt sogleich vollständig herbeigeschafft werden sollte. Das Geld sollte in Herrn Douce's Bank deponirt werden, bis die Advokaten mit ihrem Verfahren fertig wären. Da nun Eveline in wenig Wochen das bestimmte Alter erlangt haben würde, betrachtete sich Vargrave als der Herr der verlobten Braut und der Familiengüter des niedergeworfenen Maltravers. Er verschwieg Eveline den Namen des gegenwärtigen Besitzers jenes Gutes, dessen Eigenthümerin sie werden würde; er sah alle ihre Einwürfe voraus, und wirklich war sie auch unfähig, über solche Dinge zu denken und zu reden. Um eine Gunst hatte sie gebeten, und diese war ihr gewährt worden; man solle sie bis zum verhängnißvollen Tage ihrer Einsamkeit überlassen. In ihr einsames Zimmer eingeschlossen, verurtheilt, Niemandem ihre Gedanken zu vertrauen, nicht einmal bei ihrer Mutter Mitgefühl zu suchen, bemühte sich das arme Mädchen vergeblich, ihre erste Begeisterung zu erhalten und sich mit einem Schritt wieder auszusöhnen, den sie heldenmüthig genug war, nicht zurückzuthun und zu bereuen, sogar wenn sie vor dessen Betrachtung zurückschauderte.

Lady Doltimore, erschreckt über die Vorfälle, über die Flucht von Maltravers und den Erfolg Lumley's, unfähig die Ursache zu erkennen und Erklärung von Vargrave oder Eveline herauszubringen, ward durch Besorgniß eines schurkischen Betruges gequält, welchen sie nicht zu ergründen vermochte. Um ihrer Unruhe zu entgehen, stürzte sie sich um so eifriger in den Strudel der Vergnügungen. Vargrave, argwöhnisch und besorgt, daß sie bei ihrer nervösen und aufgeregten Stimmung etwas sagen könne, wenn sie von seinen wachsamen Blicken entfernt sei, hielt es für nothwendig, stets um sie zu sein. Sein Wesen und sein Verfahren war höchst zurückhaltend; allein Caroline, eifersüchtig, gereizt und verstört, erwies bei Zeiten ein Recht der Vertraulichkeit und des Zornes, welches ihr und ihm die schlaue Wachsamkeit der Klatscherei zuzog. Mittlerweile schien Lord Doltimore, obgleich zu kalt und stolz, um offen auf dasjenige zu achten, was um ihn vorging, verdrießlich und ängstlich. Sein Benehmen gegen Vargrave war zurückhaltend; er vermied jedes tête-à-tête mit seiner Frau. Lumley beachtete dieß wenig; noch wenige Wochen, und Alles war in Ordnung und Sicherheit.

Vargrave machte sein Verlöbniß mit Eveline nicht bekannt; er suchte es sorgfältig zu verbergen, bis der Tag nahe wäre; allein man flüsterte es herum; Einige lachten, Andere glaubten. Eveline selbst war nirgends zu sehen. De Montaigne hatte zuerst bei dem Bericht eine so ärmliche Schwäche wie Familienstolz, als Ursache zum Abbrechen jenes Verlöbnisses, welches so sehr durch Liebe veranlaßt worden war, mit Unwillen zurückgewiesen. Ein Brief von Maltravers, welcher ihm und Vargrave allein das Geheimniß seines Aufenthalts mittheilte, gab ihm ungeachtet seines Widerstrebens die Ueberzeugung, daß die Weisen nur pomphafte Thoren sind. Er ward zornig und empfand Ekel, um so mehr, da Valerie und Teresa (weibliche Freundinnen stehen uns im Recht oder Unrecht bei) Winke über Entschuldigungen gaben oder merken ließen, daß andere Ursachen wie die angegebenen im Hintergrunde lauerten. Allein seine Gedanken wurden von diesem Gegenstand durch seine steigende Angst um Cesarini abgelenkt, dessen Aufenthalt und Schicksal ein beunruhigendes Geheimniß blieb. Zufälligerweise nahm Lord Doltimore, welcher stets einige Neigung zum Antiken »zum Altertümlichen«. Anm.d.Hrsg. besaß und welcher deßhalb mit seinem behaglichen und neu angelegten Familiensitz unzufrieden war, die in Paris modische Gewohnheit an, Merkwürdigkeiten und Schränke, hohe Lehnstühle und eichenes Schnitzwerk zu kaufen; mit dieser Gewohnheit kehrte der frühere Wunsch und die Liebhaberei an Burleigh zurück. Da er von Lumley erfuhr, Maltravers habe wahrscheinlich sein Geburtsland für immer verlassen, hielt er es für sehr wahrscheinlich, daß der Letztere jetzt in den Verkauf einwilligen würde, und er bat Vargrave, einen Brief von ihm zu dem Zwecke zu übersenden.

Vargrave brachte eine Entschuldigung vor, denn er empfand sehr wohl die Unzartheit, womit ein solcher Vorschlag zu solcher Zeit durch seine Hände gehen würde; Doltimore hatte zufälligerweise von de Montaigne gehört, daß er dessen Adresse kenne, und bat ihn, ohne den Inhalt zu erwähnen, denselben abzusenden. De Montaigne that dieß. Wie sonderbar ist es doch, wie unbedeutende Menschen und unbedeutende Zufälle große Ereignisse im Leben bewirken. Jener einfache Brief bewirkte eine neue Revolution in der sonderbaren Geschichte des Maltravers.


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