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Drittes Kapitel.

                                                   Elend,
Das Kraft gewinnt mit jedem Augenblick,
In dem es weiter rollt, und das zuletzt
Mich noch erdrücken muß.

      Lillo.

 

Maltravers fand Eveline allein; sie wandte sich zu ihm mit dem süßen Lächeln des Willkommens; allein das Lächeln entschwand sogleich, als ihre Augen seine durchaus veränderten und zuckenden Gesichtszüge erblickten; kalte Tropfen standen auf der starren und marmornen Stirn; die Lippen wanden sich, wie bei körperlicher Folter; die Muskeln des Gesichtes waren eingefallen, und es lag in denselben eine Wildheit, welche bei dem starren und fieberhaften Glanz der Augen sie erschreckte.

»Theurer Ernst, Sie sind unwohl, Ihr Blick erschreckt mich.«

»Nein, Eveline,« sagte Maltravers, indem er sich mit der Anstrengung wieder erholte, deren nur solche Männer, fähig sind, welche häufig Schmerzen ohne das Mitgefühl Anderer erlitten; »nein, ich befinde mich jetzt besser; ich war krank, sehr krank, aber ich befinde mich besser.«

»Krank! Und ich wußte nichts davon!« Eveline versuchte bei diesen Worten seine Hand zu ergreifen; Maltravers aber fuhr zurück.

»Es ist Feuer – sie brennt, fort!« rief er wie wahnsinnig aus. »O Gott, schone meiner!«

Eveline ward jetzt ernstlich beunruhigt; sie blickte ihn an mit dem zärtlichsten Mitleid. War dieß einer der finsteren und erdrückenden Krampfanfälle, denen Maltravers; wie man flüsterte, bisweilen ausgesetzt war? Wie sonderbar es auch scheinen mag; ungeachtet ihres Schreckens war er in jener Stunde, wie sie glaubte, der Dunkelheit und Finsterniß, ihr weit theurer, als in aller Glorie seines majestätischen Geistes oder in dem gewinnenden Wesen seiner sanften Rede.

»Was ist Ihnen zugestoßen?« fragte sie, indem sie wieder auf ihn zutrat; »haben Sie Lord Vargrave gesehen? Ich weiß, daß er angekommen ist; sein Bedienter hat uns die Nachricht gebracht; hat Lord Vargrave etwas gesagt, was Sie quält, oder hat (fügte sie, in der Stimme stockend, und scheu hinzu) hat die arme Eveline Sie beleidigt? Sagen Sie mir nur ein Wort!«

Maltravers wandte sich zu ihr und sein Gesicht ward ruhig und heiter, mit Ausnahme seiner äußersten und beinahe geisterhaften Blässe ließ sich keine Spur der in ihm rasenden Hölle entdecken.

»Verzeihen Sie mir,« sagte er sanft; »diesen Morgen weiß ich nicht; was ich sage oder thue – denken Sie nicht an mich; es wird vorübergehen, so bald ich Ihre Stimme vernehme.«

»Soll ich Ihnen das Lied singen, wovon ich Ihnen gestern sagte? Sehen Sie; ich habe es schon hier; ich weiß es auswendig, glaube aber, daß Sie es am liebsten lesen. Die Worte sind so voll einfachen, aber tiefen Gefühls.«

Maltravers nahm das Lied ihr aus der Hand und beugte sich über das Papier; zuerst schienen die Buchstaben dunkel und unbestimmt, denn ein Nebel lag vor seinen Augen. Zuletzt ward eine Saite in seinem Gedächtniß berührt; er erinnerte sich der Worte; es war ein Gedicht; das er für Alice in den ersten Tagen jenes entzückenden Umgangs verfaßt hatte – Glieder der goldenen Kette, womit er einst versuchte, den Geist der Kenntniß »des Wissens«. Anm.d.Hrsg. an den der Liebe zu knüpfen.

»Von wem,« fragte er mit schwacher Stimme, als er die Verse niederlegte, »von wem hat Ihre Mutter dieß Lied erlernt?«

»Ich weiß es nicht; vor Jahren verfaßte es ein theurer Freund und gab es ihr. Er muß ihr sehr theuer gewesen sein, darf ich nach der Wirkung urtheilen; welche dasselbe noch stets hervorbringt.«

»Glauben Sie,« sagte Maltravers mit hohler Stimme; »er sei Ihr Vater gewesen?«

»Mein Vater! Von dem spricht sie nie. Ich habe frühe erlernt, jede Anspielung auf dessen Erinnerung zu vermeiden – mein Vater! Es ist wahrscheinlich – ja, es war vielleicht mein Vater; wen sonst konnte sie so zärtlich geliebt haben?«

Es herrschte ein langes Schweigen; Eveline brach es zuerst.

»Ernst; ich habe heute einen Brief von meiner Mutter bekommen; dieser beunruhigt mich; ich weiß kaum weßhalb.«

»Ha! Weßhalb?«

»Er ist eilig und unzusammenhängend, beinahe wild geschrieben. Sie schreibt, daß Sie eine Nachricht, welche ihre Seele verstört, vernommen hat; sie bat mich, ich möge Nachforschungen anstellen, ob einer meiner Bekannten auf dem Festlande irgend einer Person mit dem Namen Butler begegnet sei oder von dem Namen gehört habe; Sie erschrecken! – Kannten Sie Jemand dieses Namens?«

»Ich? – Hat Ihre Mutter jemals auf diesen Namen früher angespielt?«

»Niemals, und dennoch erinnere ich mich, einmal –«

»Was?«

»Daß ich ihr aus den Zeitungen einen Bericht über den plötzlichen Tod des Herrn Butler vorlas. Ihre Aufregung brachte bei mir einen heftigen und sonderbaren Eindruck hervor; sie fiel in Ohnmacht und schien beinahe wahnsinnig; als sie wieder zu sich kam; sie beruhigte sich nicht eher, als bis ich den Bericht geschlossen hatte; als ich auf die Einzelnheiten seines Alters u. s. w. kam (ich glaube, jener Herr war alt), faltete sie ihre Hände und weinte. Die Thränen schienen die der Freude zu sein. Der Name aber ist ja so häufig. Wer war es, den Sie unter diesem Namen gekannt haben?«

»Das ist gleich; ist das Ihrer Mutter Brief? Ist das ihre Handschrift?«

»Ja.«

Eveline übergab Maltravers den Brief. Er blickte auf die Buchstaben. Ein, oder zweimal hatte er Lady Vargrave's Handschrift früher gesehen und keine Aehnlichkeit zwischen jener Handschrift und den früheren Schriftproben Alice's erkannt; wie er sie vor so manchen Jahren geschaut hatte. Jetzt aber wurden Kleinigkeiten, »leicht wie Luft«, eine so starke Bestätigung, wie Beweise der heiligen Schrift; er glaubte, Alice in jedem Zuge des eiligen und mit Tinte befleckten Gekritzels zu erblicken; und als sein Auge auf den Worten: »Deine liebevolle Mutter Alice,« ruhte, gerann ihm das Blut in den Adern.

»Sonderbar,« sagte er, indem er mit sich kämpfte, um Fassung zu erlangen, »sonderbar, daß ich niemals früher nach ihrem Namen fragte. Ihr Name ist Alice?«

»Nicht wahr, ein lieblicher Name? Er eignet sich so trefflich für ihren einfachen Charakter. Wie werden Sie meine Mutter lieben!«

Als sie dieß sagte, wandte sich Eveline an Maltravers mit Begeisterung, erschrak aber wieder über sein Gesicht; es war wieder mager, verdreht »verstört, entstellt«. Anm.d.Hrsg. und von Zuckungen zerrissen.

»Wenn Sie mich lieben!« rief sie aus, »so schicken Sie sogleich zum Arzte; aber Ernst, ist es Krankheit oder ein Gram, den Sie mir verbergen?«

»Es ist Krankheit, Eveline,« sagte Maltravers, aufstehend, und seine Kniee stießen schlotternd zusammen; »ich bin nicht einmal für Ihre Gesellschaft geeignet; ich will nach Haus.«

»Schicken Sie doch sogleich zum Arzt.«

»Der Arzt erwartet mich schon in meiner Wohnung.«

»Dem Himmel sei Dank! Wollen Sie mir ein einzig Wort, um mich zu trösten, schreiben? Ich bin so besorgt.«

»Ich will Ihnen schreiben.«

»Noch heute Abend?«

»Ja.«

»Jetzt gehen Sie, ich will Sie nicht aufhalten.«

Er ging langsam zur Thür; als er sie erreichte, wandte er sich um, begegnete ihren ängstlichen Blicken und öffnete seine Arme; von sonderbarer Furcht und liebevoller Sympathie bemeistert, brach Eveline in Thränen aus; durch Ueberraschung aus der Blödigkeit »Ängstlichkeit«. Anm.d.Hrsg. und Zurückhaltung herausgerissen, die bis dahin ihre reine und sanfte Neigung charakterisirt hatte, sank sie an seine Brust und schluchzte laut. Maltravers erhob seine Hände, legte sie feierlich auf ihr junges Haupt und seine Lippen murmelten etwas wie ein Gebet. Er hielt an und drückte sie an sein Herz, vermied aber jeden Abschiedskuß, den er bis dahin so zärtlich gesucht hatte.

Jene Umarmung war die des Schmerzes, nicht die der Entzückung, und dennoch ließ sich Eveline nicht träumen, daß es die letzte sein werde.«

 

Maltravers trat wieder in's Zimmer, worin er Lord Vargrave verlassen hatte; dieser wartete auf seine Ankunft. Maltravers ging auf Lumley zu und reichte ihm die Hand.

»Sie haben mich von einem furchtbaren Verbrechen, von einem immerwährenden Gewissensbiß errettet! Ich danke Ihnen!«

Lumley ward gerührt, so hart und kalt sein Charakter auch war. – Die Bewegung von Maltravers überraschte und bewältigte »überwältigte«. Anm.d.Hrsg. ihn.

»Es war eine furchtbare Pflicht. Ernst,« sagte er, indem er die Hand drückte. »Ach, daß sie von mir, Ihrem Nebenbuhler, kommen mußte!«

»Fahren Sie fort, ich bitte Sie! Erklären Sie mir Alles! Doch wozu Erklärung! Was brauche ich zu wissen? Eveline ist meine Tochter. Alicens Kind! Um Gottes willen, geben Sie mir Hoffnung! Sagen Sie, es sei nicht so; sagen Sie, es sei Alicens Kind, aber nicht das meinige! Vater, Vater! Man sagt, der Name sei heilig – mir ist er furchtbar!«

»Fassen Sie sich, theurer Freund: bedenken Sie, welchem Unheil Sie entgingen! Sie werden sich von diesem Schlage erholen. Zeit und Reisen –«

»Still, Mann, still! Jetzt bin ich ruhig! Als Alice mich verließ, hatte sie kein Kind. Ich wußte nicht, daß sie das Pfand unserer unglücklichen und irrenden Liebe in sich trug. Wahrlich, die Sünden meiner Jugend haben sich wider mich erhoben und der Fluch ist bei mir eingezogen!«

»Ich kann Ihnen nicht erklären, wie Alles gekommen ist.«

»Aber warum haben Sie mir nichts davon gesagt, warum haben Sie mich nicht gewarnt? Warum haben Sie mir nicht gesagt, so lange mein Herz durch ein so süßes Band erfreut werden konnte: ›Du hast eine Tochter, du bist nicht verlassen, du bist nicht einsam.‹ Warum haben Sie die Kunde des Glückes mir vorbehalten, bis sie zum Gifte wurde? Teufel, der Sie sind! Sie haben bis auf diese Stunde gewartet, um Ihren Blick an dem Schmerze zu weiden, vor welchem ein Wort von Ihnen noch vor einem Monat – vor einem kurzen Monat mich und sie bewahrt haben würde.«

Als Maltravers dieß sagte, trat er auf Vargrave zu, mit funkelnden Augen und in heftiger Leidenschaft; seine Faust war geballt, seine Gestalt erhoben, die Adern auf seiner Stirn wie Stricke geschwollen; er bot einen furchtbaren Anblick, denn sein Körper war wegen des vollkommenen Ebenmaßes aller Theile mit ungewöhnlicher Gewalt und Kraft begabt; jetzt schien der herrschende Geist erstarrt und schlafend, und alle Wildheit, Macht und Grimm des thierischen Menschen sichtbar erregt. Lumley, so muthig er auch war, fuhr zurück.

»Ich wußte nichts von dem Geheimniß,« sagte er im Tone der Bitte, »bis wenige Tage vor meiner Abreise; ich kam hierher, um es Ihnen zu enthüllen. Wollen Sie mir zuhören? Ich wußte, daß mein Oheim eine Person, die tief unter ihm im Range stand, geheirathet hatte. Er war jedoch zurückhaltend und vorsichtig, und ich wußte nichts weiter, als daß jene Dame von einem ersten Manne eine Tochter – Eveline – gehabt habe. Eine Kette von Zufällen machte mich mit dem Uebrigen plötzlich bekannt.«

Hierauf erzählte Vargrave mit ziemlicher Treue, was er von dem Brauer in C*** und von Herrn Onslow gehört hatte; als er aber an die schweigende Bestätigung seines Verdachtes hinsichtlich der Frau Leslie kam, übertrieb und verdrehte er sehr den Bericht. – »Somit urtheilen Sie,« schloß Lumley, »über den Schauder, womit ich vernahm, daß Sie Evelinen ihre Zuneigung erklärt hatten, und daß Ihre Liebe erwidert wurde! So krank ich auch war, bin ich hierher geeilt. Sie wissen das Uebrige. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Ich will zu Alice eilen; ich will von ihren eigenen Lippen erfahren – aber wie kann ich vor sie hintreten, wie kann ich ihr sagen: ›Ich habe dir deine letzte Hoffnung genommen, ich habe deines Kindes Herz gebrochen.«‹«

»Vergeben Sie mir; ich muß Ihnen gestehen, daß Lady Vargrave nah Allem, was ich von Frau Leslie erfuhr, nur ein Gebet, nur eine Hoffnung im Leben hat, daß sie nie mehr ihren Verführer sehen möge. Sie können wirklich aus ihrem Briefe erkennen, wie sehr sie bei dem Gedanken, von Ihnen entdeckt zu werden, erschrickt. Sie hat endlich den Frieden der Seele und die Ruhe des Gewissens wieder erlangt. Sie schaudert voll Furcht bei dem Gedanken, jemals einen Mann wieder zu sehen, der ihr einst so theuer war, aber jetzt in ihrer Seele mit Erinnerungen von Schuld und Kummer verknüpft ist. Noch mehr, sie hegt lebhafte Besorgniß vor der Schmach der Entdeckung. Würde ihre Tochter jemals ihre Sünde erfahren, so wäre dieß für sie ein Todesschlag. Ferner würde bei ihrem nervösen Gesundheitszustande ihr schnelles und nicht zu beherrschendes Gefühl, im Falle Sie mit ihr zusammenkämen, nichts mehr verbergen, nichts verheimlichen. Der Schleier würde zerrissen. Die Diener ihres eigenen Hauses würden die Geschichte erzählen; Neugier würde den Bericht ihrer Jugendirrthümer in Umlauf sehen und Klatscherei sie entstellen. Nein, Maltravers, wenigstens warten Sie einige Zeit, ehe Sie sie sehen; warten Sie, bis ihre Seele für die Unterredung vorbereitet sein wird, bis man Vorsichtsmaßregeln getroffen hat und bis Sie selbst in einem ruhigeren Seelenzustande sich befinden.«

Maltravers heftete seine durchdringenden Augen auf Lumley, während dieser so sprach, und horchte mit großer Aufmerksamkeit; er begann nach einer langen Pause:

»Es ist nichts daran gelegen, ob dieses Ihre wirklichen Gründe sind, warum Sie eine Zusammenkunft zwischen Alice und mir aufzuschieben oder zu verhindern suchen; das Unheil, welches über mich kam, bricht mit zu heller und versengender Flamme auf mich ein, als daß ich eine Möglichkeit, ihm zu entgehen oder es zu mildern suchen sollte; sogar wenn Eveline die Tochter der Alice von einem Andern wäre, bliebe sie dennoch immer von mir getrennt. Die Mutter und das Kind! Eine Art Blutschande liegt schon in dem Gedanken. Allein eine solche Milderung meiner Angst ist meiner Vernunft untersagt. Nein, arme Alice, ich will nicht die Ruhe stören, die du endlich erlangt hast! Du sollst nicht den Gram empfinden, daß du erfährst, unser Fehl habe über deinen Geliebten ein so dunkles Geschick gebracht. Alles ist mit mir vorbei. Die Welt soll mich niemals wieder finden. Mir bleibt allein die Wüste und das Grab!«

»Sprechen Sie nicht so, Ernst,« sagte Lord Vargrave besänftigend; »nach einiger Zeit werden Sie sich von diesem Schlage erholen. Ihre Kraft und Beherrschung der Leidenschaften erfüllte mich sogar in Ihrer Jugend mit Bewunderung und Ueberraschung; jetzt wird Ihr Sieg, in ruhigeren Jahren, bei solcher Nothwendigkeit der Selbstbeherrschung schneller gelingen, als Sie glauben. Eveline ist zu jung und hat Sie erst kurze Zeit gekannt! Vielleicht beruht ihre Liebe nur auf einem geheimnißvollen, unschuldigen Zug der Natur, und sie wird sich freuen, Sie Vater nennen zu können.«

Maltravers hörte nicht auf diesen eitlen und hohlen Trost. Sein Haupt fiel auf den Busen, seine ganze Gestalt war entnervt, große Thränen rollten ungehemmt über seine Wangen; er schien das Bild eines Mannes von gebrochenem Herzen, den das Schicksal niemals von Verzweiflung wieder erheben konnte. Er, der Jahre lang sich so in Stolz gehüllt hatte, auf dessen Stirn der Sieg über Leidenschaft und Unglück geschrieben war, dessen Fuß gleichsam die Erde mit der Königswürde einer herrschenden Natur betrat – war jetzt im Geiste mehr gedemüthigt, gefallen und erniedrigt, als der kriechende Sklave! Er, der mit stolzen Blicken auf die Schwächen Anderer herabgesehen, der es verschmäht hatte, seinem Geschlechte wegen der menschlichen Thorheiten und theilweisen Schwächen zu dienen; er – sogar er, der Pharisäer des Genius, war nur durch Zufall und durch die Hand eines Mannes, den er beargwohnte und verachtete, einem Verbrechen entgangen, vor welchem die Natur selbst zurückschaudert, welches alle Gesetze, menschliche wie göttliche, als unsühnbar brandmarken, welches die finsterste Einbildung des Heiden als die dunkelste Katastrophe erfunden hatte, die die Weisheit und den Stolz der Sterblichen treffen kann! Nur noch ein Schritt, und der fabelhafte Oedipus hätte keinen größeren Fluch erduldet.

Solche Gedanken, ungeordnet und verwirrt, aber stark genug, ihn in den Staub zu beugen, drangen durch die Seele des Unglücklichen. Er war mit dem Gram vertraut und kalt gegen den Genuß gewesen; traurige und düstere Erinnerung hatte seine Mannheit verzehrt; aber der Stolz war ihm noch geblieben. Und er hatte es gewagt, in seinem Herzen sich zu sagen, »ich kann dem Schicksal trotzen!« Jetzt war der Schlag gefallen, der Stolz war zertrümmert; Selbsterniedrigung war seine Begleiterin; die Scham ruhte auf seiner gebeugten Seele; die Zukunft hatte ihm keine Hoffnung gelassen; Nichts war ihm geblieben, als der Tod.

Lord Vargrave blickte auf ihn mit aufrichtigem Bedauern, denn sein Charakter, obgleich listig und betrügerisch, war nur in so weit grausam, als dieß wegen der unablässigen Verfolgung seiner Entwürfe erheischt wurde. Kein Erbarmen konnte ihn von einem Plane abbringen; jedoch besaß er auch genug vom Menschen, um sogar für sein eigenes Opfer Mitleid zu hegen. Zuletzt erhob Maltravers sein Haupt und streckte ruhiger seine Hand gegen Vargrave aus.

»Alles ist jetzt erklärt,« sagte er mit schwacher Stimme, »unsere Unterredung ist vorüber. Ich muß jetzt allein sein; ich muß meine Vernunft sammeln, um ruhig und entschlossen mit mir selbst zu verkehren; ich muß ihr schreiben, erfinden und lügen; ich, der ich glaubte, niemals eine Unwahrheit aussprechen zu können, nicht einmal gegen einen Feind! Ich muß jetzt den Schlag ihr mildern; ich darf kein Wort der Liebe äußern, denn Liebe wäre Blutschande! Ich muß mich bemühen, auf rohe Weise die von mir erschaffene Neigung zu erdrücken! Sie muß von Ihnen lernen, mich zu hassen. Schmähen Sie meinen Namen, verleumden Sie meine Beweggründe, bringen Sie ihr den Glauben bei, ich habe aus Leichtsinn, Treulosigkeit oder irgend einer andern Niederträchtigkeit gehandelt. So wird sie mich desto schneller vergessen, so wird sie um so leichter den Kummer ertragen, den der Vater seinem Kinde aufbürdet. Sie hat nicht gesündigt! Gütiger Himmel, die Sünde war mein! Mag meine Strafe ein Opfer sein, welches Du im Original das feierliche »Thou«. Anm.d.Hrsg. für sie annimmst!«

Lord Vargrave suchte vergeblich zu trösten; allein die Worte erstarben auf seinen Lippen; seine List ging ihm aus. Maltravers wandte sich ungeduldig fort und wies auf die Thür mit den Worten: »Ich werde Sie wieder sehen, bevor ich von Paris abreise; lassen Sie mir Ihre Adresse.«

Vargrave war vielleicht nicht mißvergnügt, eine so peinliche Scene zu beendigen; er murmelte einige unzusammenhängende Worte und ging plötzlich fort. Er vernahm, als er fortging, wie die Thür hinter ihm zugeschlossen wurde. Ernst Maltravers war allein – welche Einsamkeit!


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