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Eilftes Kapitel.

Dort steht der Wahrheit Bote, der Gesandte des Himmels.

      Cowper.

 

Seit jenem Abend fand Lumley keine andere Gelegenheit, sich mit Eveline allein zu unterhalten. Sie vermied es offenbar, ihm allein zu begegnen; sie war stets von ihrer Mutter oder Frau Leslie, oder von dem guten Pfarrer begleitet, welcher einen großen Theil seiner Zeit in dem Landhause zubrachte. Der alte Mann hatte weder Frau, noch Kinder; zu Hause war er allein, hatte es aber gelernt, sich bei der Wittwe und der Tochter ein häusliches Leben zu bilden. Bei denselben war er der Gegenstand der zärtlichsten Neigung und der tiefsten Verehrung. Ihre Liebe entzückte ihn; er gab sie zurück mit der Zärtlichkeit eines Vaters und dem Wohlwollen eines Seelenhirten. Dieser Dorfpriester war ein seltener Charakter! Aus niederem Stande geboren, hatte er in der Jugend Fähigkeiten entwickelt, welche die Aufmerksamkeit eines reichen Grundeigenthümers erweckten. Dieser war nicht abgeneigt, den Patron zu spielen; der junge Aubrey wurde auf die Schule und dann auf die Universität geschickt; er erhielt verschiedene Preise und erlangte einen höheren Grad. Aubrey war nicht ohne den Ehrgeiz und die Leidenschaften der Jugend; er trat glühend, unerfahren und ohne Führer in die Welt; er zog sich zurück, bevor seine Irrthümer zu Vergehen und Thorheit zur Gewohnheit wurden. Natur und Liebe führten ihn zurück und retteten ihn von der Wahl zwischen Ruhm und Untergang. Seine verwittwete Mutter erkrankte plötzlich; ihre Existenz war, da sie blind und bettlägerig wurde, allein von ihrem Sohne abhängig. Dieß Unglück rief einen neuen Charakter in Eduard Aubrey hervor. Seine Mutter hatte sich so manche Bequemlichkeiten entzogen, um für ihn zu sorgen; dafür widmete er ihr seine Jugend. Sie war jetzt alt und schwach; mit der gemischten Selbstsucht und Empfindsamkeit des Alters wollte sie nicht nach London; sie wollte das Dorf nicht verlassen, wo ihr Mann begraben lag, wo sie ihre Jugend zugebracht hatte. In diesem Dorfe begrub der fähige und ehrgeizige Mann seine Hoffnungen und Talente. Allmälig ward ihm die Ruhe und Stille des Landlebens theuer. Wie Sprossen auf einer Leiter führt die Frömmigkeit immer höher; religiöses Leben ward ihm zur Gewohnheit; er ließ sich ordiniren und trat in die Kirche. Dann folgte Täuschung in der Liebe; diese ließ in seiner Seele und in seinem Herzen eine ruhige und ergebene Schwermuth zurück, die zuletzt zur Zufriedenheit reifte. Sein Stand und dessen süße Pflichten wurden ihm immer theurer; bei den Hoffnungen der anderen Welt vergaß er den Ehrgeiz der jetzigen. Er suchte nicht zu glänzen,

Geneigter, die Unglücklichen aufzurichten,
     als selbst zu steigen.«

Seine eigene Geburt machte die Armen zu seinen Brüdern und ihn selbst vertraut mit deren Charakteren und Bedürfnissen; seine eigenen Irrthümer machten ihn duldsam gegen die Fehler Anderer; wenige Menschen sind barmherzig, welche sich nicht erinnern, daß auch sie gesündigt haben. In unseren Fehlern liegt der Keim von Tugenden. So ging sein Leben allmälig und heiter vorüber – unbemerkt – aber nützlich, ruhig, aber dennoch thätig. Er war ein Mann, den die großen Aemter der Kirche zum ehrgeizigen Intriguanten gemacht haben würden, dem aber ein bescheidenes Einkommen die wahre Hirtengewalt ertheilte, die Welt im eigenen Herzen zu besiegen und mit dem Mangel Anderer Mitgefühl zu hegen. So war der Dorfpriester zum seltenen Charakter geworden.


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