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Zweites Kapitel.

Dieß ist im Allgemeinen stets die Weise
Der Kanzelredner, die sehr wohl sich eignet
Für ihrer Hörer ungelehrten Sinn.

      Polwhele.

 

Frau Leslie war von ihrem Besuche in der Pfarrei nach ihrem eigenen Wohnorte heimgekehrt und Eveline jetzt einige Wochen bei Frau Merton gewesen. Wie natürlich, war sie einigermaßen mit dem Wechsel ihrer Wohnung wieder ausgesöhnt und hatte sich in denselben ergeben; so bald sie Frau Mertons Schwelle überschritten hatte, war ihr auch wirklich zum erstenmal klar geworden, welche Wichtigkeit sie im Leben besaß.

Der sehr ehrwürdige Herr Merton war ein Mann, welcher auf alle weltlichen Dinge hohen Werth legte. Der zweite Sohn eines sehr reichen Baronets und der Tochter eines reichen Pairs aus alter Familie, war Herr Merton zu sehr in der Nähe des Ranges und der Macht aufgewachsen, um nicht alle Vortheile derselben gehörig zu würdigen. In der Jugend war er ein munterer Gesell in der höchsten Gesellschaft gewesen. Da jedoch sein Verstand gut und seine Leidenschaften nicht sehr stark waren, hatte er bald bemerkt, daß sein gebrechliches Schiff mit mäßigem Vermögen nicht lange auf demselben Strome mit der Silberflotte der reichen Grafen und ausschweifenden Dandies segeln könne. Außerdem war er zur Kirche bestimmt, weil die Familie eine der schönsten Pfründen in England besaß. Deßhalb trat er mit sechsundzwanzig Jahren in den geistlichen Stand, heirathete Frau Leslie's Tochter, die 36 000 Pfund besaß, und ließ sich auf der Pfarre von Merton, eine Meile vom Familiensitz, nieder. Er wurde ein sehr angesehener und außerordentlich beliebter Mann. Er übte ungewöhnliche Gastfreiheit und baute zum Pfarrhause einen neuen Flügel, der ein großes Speisezimmer und sechs ausgezeichnete Schlafzimmer enthielt, so daß jenes eher den Anschein eines Landsitzes als einer Landpfarre erhielt. Sein Bruder, der das Gut erbte und gewöhnlich in der Nähe wohnte, wurde, wie sein Vater vor ihm, Parlamentsglied »Parlamentsmitglied«. Anm.d.Hrsg. für die Grafschaft und war einer der angesehensten Landedelleute im Hause der Gemeinen. Er sprach oft und verständig, doch in äußerst prosaischer Auffassung; er war besonders unabhängig (vermöge seiner 14 000 Pfund jährlichen Einkommens brauchte er nicht nach Aemtern zu streben), und so that Sir John Merton sich etwas darauf zu Gute, zu keiner Partei zu gehören, so daß seine Stimme bei kritischen Fragen oft sehr zweifelhaft und deßhalb sehr wichtig war.

Somit ertheilte Sir John Merton auch dem ehrwürdigen Charles Merton bedeutende Wichtigkeit. Letzterer bewahrte die Bekanntschaft der ausgewähltesten seiner ehemaligen Londoner Freunde, und wenige Häuser auf dem Lande waren zu gewissen Zeiten des Jahres aristokratischer, als die angenehme Pfarrei. Herrn Merton gelang es, die Halle seines Bruders gleichsam zum Reservoir des Pfarrhauses zu machen; er zog dann und wann die Elite der Besucher des Ersteren zu sich herüber, um einige Tage bei ihm zuzubringen. Dieß konnte um so leichter geschehen, als sein Bruder ein Wittwer, und dessen Gespräch stets ein und dasselbe war, nämlich der Zustand der Nation und die Interessen des Ackerbaues.

Herr Merton stand auf sehr gutem Fuße mit seinem Bruder. Er sah nach den Gütern, in Abwesenheit Sir Johns, nahm das Familieninteresse wahr, war ausgezeichnet in Wahlumtrieben, im Nothfalle auch kein übler Redner, ein geschickter Friedensrichter, kurzum ein Mann, welcher der Grafschaft sehr nützlich war – ein Tory, wie es seinem Stande als Mitglied der Hochkirche geziemte – so wenigstens sagte er mit selbstgefälligem Lächeln – aber durchaus kein bigotter, und sehr eifrig besorgt, mit allen Parteien gut zu stehen. Im Allgemeinen war er beliebter, als sein Bruder, und wurde beinahe eben so sehr geachtet, vielleicht weil er weniger Prahlerei trieb. Sein Geschmack war sehr gut; seine Tafel reich besetzt, aber einfach; sein Wesen herablassend gegen Niedere, und schmeichelnd gegen Hohe. An ihm fand sich nichts, was jemals die Selbstliebe verwunden konnte. – Um die Reize seines Hauses zu vermehren, konnte seine Frau, einfach und gutmüthig, mit Jedermann schwatzen, Unangenehmes aus dem Weg schaffen, um die Leute sich's auf jegliches eigene Weise behaglich machen zu lassen.

Ferner hatte Herr Merton eine Familie hübscher Kinder von jedem Alter, die leichte und bleibende Entschuldigung geboten hatten, unter dem Namen Kindergesellschaft Tänze aus dem Stegreif und dergleichen anzuordnen – kurzum, die Nachbarschaft zu beleben. Caroline war sein ältestes Kind, dann kam ein Sohn, der bei einer fremden Gesandtschaft attachirt, und ein zweiter, welcher, obgleich erst neunzehn Jahre alt, Privatsekretär bei einem unserer indischen Satrapen war. Die Bekanntschaft dieser beiden so beschäftigten Herren konnte Eveline deßhalb unglücklicherweise nicht anknüpfen, ein Umstand, der, wie Herr und Frau Merton sie versicherten, sehr zu beklagen war. Um aber diese Entbehrung auszugleichen, waren zwei liebenswürdige, kleine Mädchen da, die eine zehn, die andere sieben Jahre alt, die beim ersten Blick sich in Eveline verliebten. Caroline war eine der Schönheiten in der Grafschaft, geschickt und gewandt in der Unterhaltung; sie zog junge Männer herbei und gab jungen Damen die Mode an, besonders wenn sie aus London heimkehrte, wo sie eine Saison bei Lady Elisabeth zugebracht hatte. Es war eine köstliche Familie.

Von Person war Herr Merton mittlerer Größe, hübsch und zum Dickwerden geneigt, mit kleinen Gesichtszügen, schönen Zähnen und großer Liebenswürdigkeit des Benehmens. Noch der Zeit gedenkend, wo er in London gewesen war, zeigte er viel Sorgfalt hinsichtlich seiner Kleidung; sein schwarzer Rock, am Abend durch eine weiße Weste und durch ein bewunderungswürdig gebügeltes Hemd mit einfachen Knöpfen – von schwarzem Email gehoben – seine schön geschnittenen Beinkleider und sorgfältig gewichsten Schuhe gewannen ihm die allgemeine Anerkennung der Herren, die ihn gelegentlich besuchten, um sein Wild zu schießen und mit seinen Töchtern zu kokettiren: »Der alte Herr Merton sei ganz Gentleman, beinahe zu elegant für einen Pfarrer.«

So war geistig, moralisch und physisch der sehr ehrwürdige Charles Merton, Pfarrer von Merton, Bruder von Sir John und Besitzer eines Einkommens, welches bei seiner reichen Pfarre, bei dem Vermögen seiner Frau und seinem eigenen, nicht unbeträchtlichen, sich auf vier- oder fünftausend Pfund jährlich belief – ein Einkommen, welches, mit Verstand und Freigebigkeit benützt, ihm alle guten Dinge dieser Welt, unter Anderem auch die Achtung seiner Freunde, sichern mußte. – Caroline hatte Recht, als sie Eveline sagte; ihr Papa sei sehr verschieden von einem bloßen Landpfarrer.

Dieser Mann konnte natürlich nicht umhin, alle die Ansprüche zu erkennen, die Eveline seiner Ansicht nach auf die Achtung, sogar auf die Verehrung seiner Familie, machen konnte. Eine junge Schönheit mit einem Vermögen von beinahe einer Viertelmillion war ein Phänomen, welches fast himmlisch genannt werden konnte. Ihre Ansprüche wurden durch ihr Verlöbniß mit Lord Vargrave erhöht, ein Verlöbniß welches gebrochen werden konnte, so daß, wie er es auslegte, das schlimmste Ereigniß für die junge Dame nur eintreffen könnte, wenn sie einen geschickten und steigenden Staatsminister, einen Pair des Reiches heirathete; es war ihr ja aber die Freiheit gelassen, einen noch größeren Mann zu heirathen, wenn sie einen solchen finden könnte, und wer weiß, vielleicht sogar der Attaché, wenn er nur Urlaub erhalten würde. Herr Merton aber war zu verständig, um den Gedanken für den Augenblick weiter zu verfolgen.

Der gute Mann war entsetzt über die vertrauliche Weise, womit Frau Merton mit der Erbin sprach, daß ferner Eveline ohne ihre eigene Magd mit ihrer ländlichen Garderobe gereist sei – das arme, schlecht behandelte Kind! Herr Merton war ein Kenner der Damenkleidung; es war ihm peinlich, zu sehen, das unglückliche Mädchen sei so vernachlässigt worden, Lady Vargrave mußte eine sonderbare Person sein. Er erkundigte sich mitleidig, ob sie auch Taschengeld erhielte, und als er zu seiner Tröstung erfuhr, daß Miß Cameron in dieser Hinsicht auf die freigebigste Weise ausgestattet war, sprach er sogleich seine Meinung aus, daß gehörige Aufträge an Madame Devy nach London mit einem von Evelinens Anzügen als Muster für Länge und Breite geschickt werden sollte. – Er stampfte beinahe aus Aerger mit dem Fuße, als er vernahm, daß Eveline in einem jener kleinen, niedlichen Zimmer logirt sei, die gewöhnlich für junge, besuchende Damen bestimmt waren.

»Sie ist durchaus zufrieden, mein theurer Herr Merton, sie ist so einfach, sie ist durchaus nicht in der Art auferzogen, wie Sie glauben.«

»Frau Merton,« sprach der Pfarrer mit feierlicher Stimme, »Miß Cameron kennt vielleicht jetzt nichts besseres, aber was soll sie nachher von uns denken? Es ist mein Grundsatz, zu bedenken, was die Leute sein werden, und ihnen diejenige Achtung zu zeigen, die angenehme Eindrücke zurücklassen kann, wenn sie es in ihrer Gewalt haben, die Höflichkeit zurückzugeben.«

Mit vielen Entschuldigungen, welche die arme Eveline gänzlich erdrückten, ward sie aus dem kleinen Zimmer mit dem französischen Bett und bambusfarbenem Waschtisch in ein Zimmer mit einem Mahagonischrank und einem vierpfähligen Bett mit seidenen Vorhängen geführt, welches der regelmäßigen Besucherin um Weihnachten, der verwittweten Gräfin Chibberton, angewiesen wurde; ein kleines Morgenzimmer stand mit dem Schlafzimmer in Verbindung, und eine besondere Treppe führte in den Garten. Der ganzen Familie ward die Wichtigkeit von Eveline fühlbar gemacht und dieser Eindruck stets erneut. Keine Königin konnte mehr gefeiert werden. Eveline hielt dieß Alles irrigerweise für bloße Artigkeit und erwiderte die Gastfreiheit mit einer Neigung, die sie auf die ganze Familie ausdehnte, besonders aber auf die beiden kleinen Mädchen und einen schönen, schwarzen Wachtelhund. Ihre Kleidung kam bald von London, ebenfalls ihre Kammerjungfer; der Mahagonischrank ward gehörig angefüllt und Eveline lernte zuletzt die Annehmlichkeit des Reichthums kennen. Ein Bericht von all' diesem Verfahren ward pflichtgemäß in einem langen und sehr gefälligen Briefe vom Pfarrer selbst entsendet. Die Antwort war kurz, aber sie befriedigte den ausgezeichneten Geistlichen, denn sie billigte Alles, was er gethan hatte, damit Miß Cameron Alles erhalten möchte, was sich für ihre Stellung eignete.

Zugleich kamen zwei Briefe an Eveline selbst, einer von Lady Vargrave und einer vom Pfarrer. Beide versetzten sie vom schönen Zimmer und dem Mahagonischrank in das einfache Landhaus mit seinem Rasenplatz; die hübsche Kammerjungfer, welche hereintrat, um das Haar, ihrer jungen Gebieterin zu flechten, fand dieselbe weinend.

Der Pfarrer bedauerte sehr; daß es gerade die Jahreszeit war, wo Jedermann, dessen Bekanntschaft etwas galt, gerade so lange das Land die meisten Annehmlichkeiten darbietet, sich in London befand. Jedoch fanden gleichsam einige verirrte Gäste auf einen oder zwei Tage ihren Weg zur Pfarrei, und in der Nachbarschaft befanden sich einige alte aristokratische Familien, die nie nach London gingen, so daß der Wein des Pfarrers zwei Tage in der Woche floß, daß die Whisttische zugerichtet und das Piano in Anspruch genommen wurde.

Eveline, der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und Bewunderung, war durch ihre Stellung selbst in ein behagliches Verhältniß gebracht. Gutes Benehmen findet sich instinktmäßig bei denen, welchen die Welt zulächelt. Unbemerkbar erlangte sie Selbstbeherrschung und die Glätte der Gesellschaft; wenn ihre kindliche Spielerei den konventionellen Zwang bisweilen durchbrach, so ward die reiche Erbin dadurch nur entzückender und glänzender; ihre zarte und feengleiche Art der Schönheit ziemte sich so trefflich für ihr anmuthiges Abandon Unbekümmertheit, Selbstvergessenheit. Anm.d.Hrsg. im Wesen; außerdem hatte sie ganz den Anschein der großen Dame in den Augen derjenigen, deren Augen auf Madame Devy's Spitzen und Atlas ruhten.

Caroline war nicht so munter wie auf dem Landhause; etwas schien auf ihrem Geiste zu ruhen; sie war oft launisch und nachdenklich, und die Einzige in der Familie, die keine heitere Stimmung zeigte; die verdrießlichen Antworten, die sie ihren Eltern gab, wenn kein Fremder dem Familienkreise einen Zwang auflegte, erweckten Evelinen Pein, ohne daß Letztere sich darüber Rechenschaft geben konnte, und bot einen starken Gegensatz zu dem munteren Fluß der Heiterkeit, wodurch sie sich sonst auszeichnete, wenn sie Jemand fand, der ihr zuzuhören würdig war. Eveline jedoch, welche, wenn sie einmal Jemand gern sah, nur mit Schwierigkeit demselben ihre Neigung entzog, suchte Carolinens Gebrechen zu übersehen und sich tausend gute, unter der Oberfläche verborgene Eigenschaften einzureden. Ihre edelmüthige Natur fand fortwährend Gelegenheit, in kostbaren Geschenken sich zu äußern, die aus den Londoner Waaren ausgewählt wurden, womit die dienstfertige Frau Merton die Einförmigkeit des Pfarrhauses unterbrach. Diese Gaben konnte Caroline nicht ausschlagen, ohne ihre junge Freundin zu kränken. Sie nahm sie mit Widerstreben an, denn um ihr Gerechtigkeit zu erweisen, Caroline war, wenn gleich ehrgeizig, nicht niedrig denkend.

So ging die Zeit in dem Pfarrhause unter heiterer Mannigfaltigkeit und fortwährender Unterhaltung vorüber; Alles trug dazu bei, die Erbin zu verziehen, wenn Herzensgüte durch Freundlichkeit und Glück verzogen werden kann. Oeffnet die Blume ihre Blätter beim Sonnenschein oder beim Froste, oder reift die Frucht aus der Blüthe?


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