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Zweites Kapitel.

Mir zeigte sich Vorbedeutung,
Zum Hause kam ein fremder schwarzer Hund,
Auch eine Schlange fiel vom Dach herab.

    Terenz.

 

Maltravers fuhr fort, seiner natürlichen Seelenstärke und seinen angenommenen Theorien gemäß, gegen die letzte und stärkste Leidenschaft seines Lebens anzukämpfen. Aus der Blässe seiner Stirn und aus dem Ausdruck der namenlosen Leiden, welcher sich durch die Züge um den Mund verräth, erkannte man, daß seine Gesundheit durch den Kampf im Innern litt. Mancher plötzliche Anfall der Geistesabwesenheit und Zerstreuung, mancher traurige Seufzer, worauf erzwungene und unnatürliche Heiterkeit folgte, erklärten der beobachtenden Valerie, er sei die Beute eines Kummers, den zu enthüllen er zu stolz sei. Er zwang sich jedoch, ein Interesse an den sonderbaren Erscheinungen des ihn umringenden sozialen Zustandes zu nehmen oder schien es wenigstens äußerlich zu thun: Erscheinungen, welche bei glücklicherer oder heiterer Stimmung seinen Vermuthungen und Gedanken weites Feld geboten haben würden.

Der Zustand des sichtbaren Uebergangs findet sich beinahe in allen erleuchteten Gesellschaften Europa's; nirgends aber ist er so scharf ausgesprochen, als in demjenigen Lande, welches sich das Herz der europäischen Civilisation nennen läßt. Dort erscheint Alles, woran der Geist der Gesellschaft sich hält, als zerbrochen, unbestimmt und halb entwickelt; das Alte liegt in Trümmern, das Neue ist noch nicht gebildet. Frankreich ist vielleicht das einzige Land, worin der erbauende Grundsatz mit dem zerstörenden keinen Schritt gehalten hat. Die Vergangenheit ist erloschen, die Zukunft ist der Schatten eines fernen Landes in einer großen und sturmbewegten See.

Maltravers, welcher mehrere Jahre die Fortschritte moderner Literatur nicht beobachtet hatte, blickte mit einem gemischten Gefühle der Ueberraschung, des Widerwillens und gelegentlicher, unfreiwilliger Bewunderung auf die verschiedenen Werke, welche die Nachfolger Voltaire's und Rousseau's hervorgebracht haben, und welche sie die Erzeugnisse der Wahrheit, verbunden mit der Romantik, nennen.

Durchaus bekannt mit dem Mechanismus und den Elementen der deutschen und englischen Meisterwerke, denen die Franzosen soviel entlehnten, während sie originell zu sein vorgaben, fand Maltravers um so größeren Anstoß an den Ungeheuern, welche jene Frankensteins von den Reliquien und vom Abfall der heiligsten Gräber geschaffen hatten. Der Kopf eines Riesen und die Glieder eines Zwerges, die unzusammenhängendsten Körpertheile unter einander geworfen – einzelne liebliche und schöne Parthien – das Ganze eine scheußliche Verdrehung!

»Möglich,« sagte er zu Montaigne, »daß man diese Werke bewundert und erhebt; aber wie sie durch das Beispiel Shakespeare's, Göthe's und sogar Byrons gerechtfertigt werden können, welcher Letztere, wenn auch ärmliche und melodramatische Gedanken, selbe doch mit männlicher Kraft der Ausführung durch Energie, und Vollständigkeit des Planes wieder ausglich, wie sie selbst Dryden niemals übertroffen haben würde – das ist mir unbegreiflich!«

»Ich gebe zu, daß in Allem dem eine große Mischung von Bombast und Rausch vorhanden ist,« erwiderte de Montaigne; »allein dieß sind bloß die vom Winde abgeschüttelten Früchte an Bäumen, welche zur gehörigen Jahreszeit reichen Ertrag geben werden; mittlerweile ist jede Schule besser, als die ewige Nachahmung der alten. Was die kritische Rechtfertigung der Werke selbst betrifft, so ist die Zeit, welche die Erscheinungen hervorbringt, niemals geeignet, dieselbe zu klassifiziren und zu analysiren. Wir haben eine Sündfluth gehabt; jetzt entspringen neue Geschöpfe aus dem neuen Boden.«

»Ein ausgezeichnetes Gleichniß; sie entspringen aus Schlamm und Moder, schmutzig und kriechend, mit monströser Bildung. – Ausnahmen gestehe ich Ihnen zu; sogar in der neuen Schule, wie sie heißt, kann ich wirklichen Genius bewundern – die schöpferische Kraft Viktor Hugo's; aber wie ist es möglich, daß eine Nation, die einen Corneille kannte, jemals einen Janin ausbrütete! Und bei solchen verwachsenen und faselnden Mißgeburten, die sämmtlich ihre Anhänger und Schmeichler haben, kann sich Ihr Publikum noch sagen lassen, daß es auf wunderbare Weise im Vergleich mit der Zeit sich gebessert hat, als es Gesetze und Muster der Literatur Europa's darbot; es kann ertragen, *** als ein hohes Genie in denselben Cirkeln preisen zu hören, die Voltaire jetzt verhöhnen.«

»Voltaire ist bei den Franzosen nicht mehr in Mode, aber Rousseau bewahrt noch seinen Einfluß und hat noch seine Nachahmer. Rousseau war als Mann der Schlechtere von diesen Beiden; vielleicht war er auch gefährlich als Schriftsteller; allein sein Ruf ist dauerhafter und dringt tiefer in die Herzen des Volkes; die Gefahr seiner unmöglich bestehenden und launenhaften Lehren ist entschwunden. In Voltaire erblicken wir das Schicksal aller nur zerstörenden Schriftsteller; ihr Nutzen hört mit dem Bösen, das sie anklagen, auf. Rousseau suchte aber sowohl zu bauen, als zu vernichten; mochte auch nichts abgeschmackter als sein Bau sein, so blickt man dennoch gerne auf seine täuschenden Gebilde, auf seine Luftschlösser, die auf dem Platze verwüsteter Städte errichtet sind; einen Kirchhof bevölkern wir lieber mit Geistern, als daß wir ihn einsam lassen.«

Maltravers wurde jedoch, als er alle Züge der französischen Literatur erkannt hatte, allmälig duldsamer hinsichtlich der gegenwärtigen Mängel und hegte größere Hoffnungen über die zukünftigen Resultate. Er erkannte, daß jene Literatur in einer Hinsicht die Keime ihrer endlichen Erlösung enthielt. Ihre allgemeine charakteristische Eigenschaft im Gegensatz der alten klassischen Schule besteht darin, daß sie das Herz zum Gegenstand ihrer Studien macht, daß sie Leidenschaft und Gefühle in Handlung setzt und eben so die Geschichte des Inneren wie des Aeußeren bildet. In Allem dem begann unser betrachtender Analytiker allmälig einzusehen, daß die Franzosen nicht sehr Unrecht hatten, als sie behaupteten, Shakespeare sei die Quelle ihrer Begeisterung – eine Quelle, welche die Mehrheit unserer späteren englischen Romandichter, und besonders Scott, vernachlässigt hat. Die Dichtung erlangt nicht ihr höchstes Ziel durch eine mit interessanten Vorfällen durchwobene Geschichte, durch oberflächliche Darstellung von Charakteren durch humoristische Phrasen oder alltägliche Moral.

In der oben charakterisirten französischen Literatur liegt viel falsche Moral, verschlechtertes Gefühl und hohler Bombast. Allein dennoch enthält sie den Keim des Höheren, welcher früher oder später im Fortschritt des nationalen Genius zu seiner vollkommenen Entwicklung gelangen muß.

Mittlerweile liegt darin ein Trost, daß nichts wirklich Unmoralisches lange populär bleibt und deßhalb auf längere Zeit schädliche Wirkungen übt; was im Werke des Genius Gefährliches liegt, wird in wenigen Jahren von selbst geheilt. Wir können jetzt den Werther lesen und unsere Herzen durch dessen Darstellung der Schwäche und Leidenschaft belehren, unsern Geschmack durch dessen ausgesuchte Einfachheit im Bau des Ganzen und Einzelnen bilden, ohne jemals die Besorgniß hegen zu müssen, daß wir uns in Stulpstiefeln erschießen werden! Wir können uns durch die edlen Gedanken in den Räubern erhoben fühlen und unseren Blick über die gänzliche Immoralität des konventionellen Geschwätzes und der Heuchelei schärfen, ohne daß wir Gefahr laufen, Räuber und Kehlabschneider aus Liebe zur Tugend zu werden. – Die Vorsehung hat den Genius der Wenigen in den Zeiten und Ländern zum Führer und Propheten der Vielen geschaffen, und die Literatur als das erhabene Werkzeug der Civilisation, der Meinung und des Rechtes eingesetzt; zugleich auch hat sie die von letzterer angewandten Elemente mit den göttlichen Macht der Selbstreinigung begabt. Durch Ruhe und Zeit setzt sich der Strom; unreine Theile verschwinden oder werden durch die gesunden neutralisirt. Nur die Thoren nennen Werke eines hohen Genius unmoralisch. In der Literatur der Welt existirt kein beliebtes Werk, welches zwei Jahrhunderte nach seiner Herausgabe unmoralisch gewesen wäre. Das Falsche lebt nicht lange in den Herzen der Nationen, und das Wahre bleibt moralisch bis zum Ende der Zeit.

Von der Literatur Frankreichs wandte Maltravers seinen wißbegierigen und nachdenklichen Blick zum politischen Zustande. Er stutzte über die Aehnlichkeit, welche die so civilisirte, so durchaus europäische Nation in einer Hinsicht zu der Despotie des Orients bietet. Die Bewegungen der Hauptstadt entscheiden das Schicksal des Landes, Paris ist der Tyrann Frankreichs. Er erkannte in dieser entzündbaren Concentration der Gewalt, welche stets an großen Uebeln fruchtbar sein muß; eine der Ursachen, weßhalb die Revolutionen dieses mächtigen und feinen Volkes so unvollständig und ungenügend sind, weßhalb System nach System und Regierung nach Regierung, wie Kardinal Fleury sagt,

– – floruit sine fructu
Defloruit sine luctu. Blühete ohne Frucht, / Verblühete ohne Trauer.

Maltravers betrachtete es als ein sonderbares Beispiel verkehrter Logik, daß die Franzosen, durch die Erfahrung noch nicht genug gewarnt, darauf bestanden, dieß politische Laster noch länger fortzusetzen; daß ihre Politik die der Centralisation bleibt – ein Grundsatz, welcher augenblickliche Kraft sichert, aber stets mit plötzlicher Vernichtung der Staaten endet.

Die Centralisation ist wirklich ein gefährliches, tonisches Mittel, welches zwar das System zu stärken scheint, aber das Blut zu Kopf treibt und Schlagfluß oder Tollheit hervorzurufen pflegt. Durch Centralisation werden die Provinzen geschwächt; sie werden so schwach, daß sie weder der Regierung widerstehen, noch ihr helfen können – zu schwach, um einem Pöbel zu widerstehen. Nun ist kein Pöbel so mächtig, als der in Paris; die politische Geschichte von Paris ist die Geschichte des Pöbels. Die Centralisation ist eine ausgezeichnete Quacksalberei für einen Despoten, welcher wünscht, daß die Gewalt nur für sein Leben währt, und welcher kein lebendiges Interesse am Staate hat; für wahre Freiheit und bleibende Ordnung ist die Centralisation ein tödtendes Gift. Je mehr die Provinzen ihre eigenen Angelegenheiten regieren, desto mehr finden wir Alles, sogar Wege und Postpferde, dem Volke überlassen; je mehr der municipale Geist jede Ader des ungeheuren Körpers durchdringt, desto sicherer tritt auch Reform und Wechsel durch allgemeine Meinung ein, welche langsam wirkt und hervorbringt, ehe sie zerstört – nicht durch das Geschrei des Volkes, das plötzlich eintritt und nicht allein das Gebäude niederreißt, sondern die Ziegelsteine verkauft.

Eine andere Eigenthümlichkeit der französischen Verfassung erstaunte und verletzte Maltravers. Dieß von republikanischen Gefühlen so durchdrungene Volk, welches so viel für Freiheit geopfert hat – dieß Volk, welches im Namen der Freiheit so viele Verbrechen mit Robespierre begangen und solchen Ruhm mit Napoleon erworben hat – dieß Volk ließ sich als Volk von aller Gewalt und Stimme im Staate ausschließen. Unter 33 Millionen Unterthanen sind weniger als 200 000 Wähler! Ist jemals eine Oligarchie einer solchen gleichgekommen? Welche sonderbare Thorheit, eine Aristokratie umzureißen und – ein Volk auszuschließen? Welch' eine Anomalie politischer Architektur, eine umgekehrte Pyramide zu errichtete! Wo ist das Sicherheitsventil der Regierungen, wo die natürliche Oeffnung für die Aufregung einer so entzündbaren Bevölkerung? Das Volk selbst gilt als Pöbel; es hat gleichsam keinen Einsatz im Spiele des Staates, keine Thätigkeit in seinen Angelegenheiten, kein Interesse hinsichtlich der Gesetzgebung für seine Sicherheit.

Andererseits ist es aber auch sonderbar, wie nach dem Fall der Adelsaristokratie eine andere der Literatur entstand. Eine Pairie, zur Hälfte aus Journalisten, aus Zeitungsschreibern, Philosophen und Schriftstellern bestehend! Dieß war das Ideal von Algernon Sidney's aristokratischer Republik, seine Vision dessen, was die Vertheilung öffentlicher Auszeichnung sein sollte. Ist diese Aristokratie aber wünschenswerth? Gewann die Gesellschaft? – Verlor die Literatur? War die Priesterschaft des Genius heiliger und reiner durch diese weltlichen Auszeichnungen und hohlen Titel geworden, oder ist die Aristokratie selbst ein höheres, uneigennützigeres, mächtigeres oder scharfsinnigeres Element in der Verwaltung des Rechtes oder in der Erhebung der Meinung?

Diese nicht leicht zu beantwortenden Fragen konnten nicht unterlassen, die Ideen und das Interesse eines Mannes zu erregen, der mit dem Innersten seiner Regierung eben so, wie mit dem Forum vertraut gewesen war. Im Verhältniß, wie sein Interesse bei dieser, von einer fremden Nation zu lösenden Aufgabe rege wurde; empfand der gedankenvolle Engländer, wie noch einmal lebhaft in ihm der alte Instinkt erwachte, welcher den Bürger an sein Vaterland fesselt.

 

»Sie selbst, als Individuum« sagte de Montaigne eines Tages zu Maltravers, »befinden sich, wie wir, in einer Uebergangsperiode. Sie haben für immer das Ideal aufgegeben und verwenden Ihre Ladung von Erfahrung auf das Praktische. Wenn Sie jenen Hafen erreichen, werden auch Sie die Entwicklung ihrer Kräfte vollendet haben.«

»Sie irren sich an mir, ich bin nur ein Zuschauer.«

»Ja, aber Sie wünschen hinter die Scene zu gehen. Wer einmal mit dem Garderobezimmer vertraut ist, wünscht ein Schauspieler zu werden.«

Maltravers brachte mit Frau von Ventadour und den de Montaigne's den größten Theil seiner Zeit zu. Diese wußten seine edleren Gaben und Eigenschaften zu schätzen und seine sanfteren zu lieben; sie fühlten zugleich ein warmes Interesse um sein zukünftiges Schicksal; sie bekämpften seine Philosophie der Unthätigkeit; sie empfanden, daß er Recht hatte, wenn er sich nicht glücklich fühlte. Die Erfahrung war ihm dasselbe gewesen, was der Alice die Unwissenheit. Seine Geistesgaben waren erstarrt und eingeschlafen. Dasselbe, was die Liebe den in allen Dingen Ungeschickten ist, ist sie auch denen, welche an Allem verzweifeln. Maltravers' Geist war eine Welt ohne Sonne.


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