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Sechstes Kapitel.

Kömmt nie das Glück mir mit gefüllten Händen,
Und schreibt es stets die schönsten Worte mir
In häßlich ekler Schrift.

     Shakespeare.

 

Ich übergehe die Erklärungen, den Bericht von Alicens ereignißvoller, trauriger Geschichte, welchen Maltravers von ihren eigenen Lippen vernahm und welcher die Erzählung des Pfarrers bestätigte und ergänzte, mit deren Inhalt der Leser schon bekannt ist.

Erst nach mehreren Stunden erlangte Alice gehörige Fassung wieder, um sich des Zweckes zu erinnern, weßhalb sie den Pfarrer besucht hatte. Sie legte den mitgebrachten und alles erklärenden Brief auf den Tisch des Pfarrhauses. Als Maltravers Alice, die besorgt erschien, ihn nur einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, sich nach ihrer Wohnung zu entfernen und etwas auszuruhen bewogen hatte, zur Pfarrei zurückkehrte, traf er Aubrey in dem Garten an. Der alte Mann hatte die ihm zuerkannte Erlaubniß seiner Freundin benutzt, um den offenbar für seine Ansicht bestimmten Brief zu lesen; erschreckt und ängstlich suchte er jetzt voll Eifer eine Berathung mit Maltravers.

Der Brief war von Frau von Ventadour und englisch verfaßt; mit welcher Sprache jene Dame ebenso vertraut war, wie mit ihrer Muttersprache. Derselbe war offenbar durch das freundschaftlichste Gefühl veranlaßt worden. Nachdem sie sich kurz wegen ihrer Einmischung entschuldigt hatte, bemerkte sie, daß Lord Vargrave's Verheirathung mit Miß Cameron jetzt eine allgemein bekannte Sache sei, daß sie in wenigen Tagen stattfinden würde, daß man mit Argwohn beobachte, wie Miß Cameron nirgends sich sehen lasse; daß sie beinahe eine Gefangene auf ihrem Zimmer zu sein scheine; daß gewisse Ausdrücke, welche Lady Doltimore habe fallen lassen, ihr, der Schreiberin dieses Briefes, große Besorgnisse erweckt hätten. Nach diesen Ausdrücken scheine es, daß Lady Vargrave mit dem nahen Ereigniß nicht bekannt sei. In Betracht des plötzlichen Abbruchs der früheren Verlobung von Miß Cameron mit Herrn Maltravers (welcher, wie Valerie glaube, höchst seltsam sei) bald nach der Ankunft des Lord Vargrave: in Betracht ihrer außerordentlichen Jugend und ihres glänzenden Vermögens, in Betracht ferner des Charakters von Lord Vargrave (Valerie gab hierüber nur zarte Winke), welcher dafür bekannt sei, daß er alle seine Plane mit gewissenloser Entschlossenheit verfolge – in Betracht alles dessen habe Frau von Ventadour es gewagt, sich an die Mutter von Miß Cameron zu wenden, um sie vor der Möglichkeit eines betrügerischen Planes zu warnen. Ihre beste Entschuldigung für ihre Zudringlichkeit bestehe in ihrer tiefen Theilnahme an Miß Cameron und in ihrer schon lang dauernden Freundschaft zu jenem Herrn, mit welchem Miß Cameron kürzlich verlobt gewesen sei. Kannte und billigte Lady Vargrave das Verlöbniß, so war ihre Zudringlichkeit unzweckmäßig und überflüssig, würde aber nichts desto weniger wohl Verzeihung wegen ihres Beweggrundes finden.

Maltravers konnte leicht aus diesem Briefe die Großmuth und den Eifer der zu ihm gehegten Freundschaft erkennen, wodurch eine Dame der großen Welt sich bewogen fühlte, eine so undankbare Aufgabe zu übernehmen. Allein daran dachte er nicht, als er eilig den Brief überlas und über Evelinens offenbare Gefahr schauderte.

»Dieser Brief,« sagte Aubrey, »muß allerdings für Lady Vargrave sehr überraschend sein. Wir haben nämlich kein Wort von Eveline oder Lord Vargrave vernommen, welches eine solche Ehe uns ankündigte; sie glaubte, wie ich, daß der Miß Cameron Verlöbniß mit Herrn –, ich wollte sagten, mit Ihnen« (Aubrey verbesserte sich sehr verstört in seiner Stimmung) »noch immer in Kraft sei. Lord Vargrave's Schurkerei liegt am Tage; wir müssen auf der Stelle handeln. Was ist zu thun?«

»Ich kehre morgen nach Paris zurück; ich will seine Intriguen vereiteln und seine Falschheit bloßstellen.«

»Sie brauchen einen von Lady Vargrave Bevollmächtigten, einen Mann, der auf Eveline Einfluß besitzt, und welcher, wie auch Vargrave weiß, das Geheimniß ihrer Geburt und Rechte kennt. Ich will Sie begleiten. Wir müssen mit Lady Vargrave reden.«

Maltravers wendete sich plötzlich um. »Alice weiß nicht, wer ich bin, daß ich noch vor wenigen Wochen mich um eine Andere bewarb, und zwar um das Kind, welches sie als ihr eigenes auferzog! Unglückliche Alice! Soll dieser neue Kummer sie in der Stunde meiner Rückkehr peinigen.«

»Soll ich es ihr plötzlich eröffnen?« sprach Aubrey mitleidig.

»Nein, diese meine Lippen müssen ihr das letzte Unrecht zufügen.«

Maltravers ging fort und der Pfarrer sah ihn vor dem Abend nicht wieder.

 

Maltravers begab sich am Abend zu Alice. Das Feuer brannte hell auf dem Herde. Die Vorhänge waren heruntergelassen; das liebliche, aber einfache Besuchzimmer des kleinen Landhauses lächelte ihm willkommen, als Maltravers eintrat, und Alice sprang auf, ihn zu begrüßen. Es war, als ob die alten Tage des Musikunterrichts und der Meerschaumpfeife zurückgekehrt wären.

»Dieß ist Ihr Eigenthum,« sagte Alice zärtlich, als er sich im Zimmer umsah. »Jetzt weiß ich, welch ein Glück im Reichthum liegt! Sie blicken auf jenes Gemälde; es ist Diejenige, welche Ihrer Tochter Stelle einnahm; sie ist so schön und gut, Sie werden sie wie eine Tochter lieben. Ach, dieser Brief – ich habe ihn bis jetzt vergessen; er liegt in der Pfarrei; ich muß sogleich dort hin gehen; Sie werden mitgehen; Sie werden uns Rath geben.«

»Alice, ich habe den Brief gelesen, ich weiß Alles. Alice, setzen Sie sich, und hören Sie mir zu; Sie haben von mir Manches zu erfahren. In unserer Jugend pflegte ich Geschichten, wie diese, während der Winternächte zu erzählen; Geschichten von einer Liebe, wie die unsrige, von Schmerzen, die wir damals nur vom Hörensagen kannten. Ich habe Ihnen jetzt eine solche zu berichten, die wahrer und noch trauriger ist, wie jene. Zwei Kinder – sie waren damals nicht viel mehr als Kinder – Kinder in Unkenntniß der Welt, in Frische des Herzens – Kinder beinah an Jahren – trafen durch sonderbares Geschick vor mehr als achtzehn Jahren zusammen. Sie waren von verschiedenem Geschlechte, sie liebten und fehlten; allein der Fehl war allein auf Seiten des Knaben; was Unschuld in ihr, war Leidenschaft in ihm. Er liebte sie zärtlich; allein in jenem Alter waren ihre Eigenschaften nur halb entwickelt. Er kannte sie als schön, einfach und zärtlich; er kannte aber nicht alle Tugend, Treue und Adel, die Gott in ihre Seele gepflanzt hatte. Sie trennten sich und wußten lange nichts von ihrem beiderseitigen Schicksal. Er suchte sie ängstlich auf; Kummer und Selbstvorwurf quälten ihn lange Zeit, und ihre Erinnerung warf einen Schatten auf sein Leben; er besaß nicht die hohe Heiligkeit ihrer Liebe ( sie blieb treu) und suchte bei Anderen den Zauber zu erneuen, den er mit ihr verloren hatte. Vergeblich, lange Zeit vergeblich. Alice, Sie wissen, worauf sich die Erzählung bezieht; hören Sie weiter. Ich habe von jenem alten Mann vernommen, daß Sie vor vielen Jahren eine Scene erschauten, welche in Ihnen den fälschlichen Glauben erweckte, daß Sie eine Nebenbuhlerin erblickten. Das war nicht der Fall; jene Dame ist noch am Leben; damals wie jetzt war sie mir eine Freundin, nichts mehr.«

»Gott segne Sie für diese Worte, sagte Alice; während sie näher zu ihm rückte.

Maltravers fuhr fort. »Umstände, die Sie bei einer ruhigeren Gelegenheit vernehmen werden, verknüpften mein Schicksal durch Vermählung beinahe mit einer Andern. Ich hatte Sie damals in einiger Entfernung, ungesehen von Ihnen, beobachtet; Sie waren offenbar in achtbarem Stande und Reichthum, und ich segnete den Himmel, daß Ihr Loos wenigstens nicht das der Armuth und des Mangels war.«

Hier erzählte Maltravers, wie er früher Alice flüchtig gesehen hatte; wie er wiederum sie vergeblich suchte. »Von jener Stunde an,« fuhr er fort, »fühlte ich mich mehr mit der Vergangenheit ausgesöhnt, da ich Sie in Umständen sah, wovon ich nicht zu träumen gewagt haben würde; als ich aber am Rande der Ehe mit einer Andern stand, so schön begabt und großmüthig sie auch sein mochte, hielt ein Gedanke, eine nur halb anerkannte, düster gezeichnete Erinnerung meine Gefühle zurück; Bewunderung Achtung und Dankbarkeit waren keine Liebe! Der Tod – ein düsterer und tragischer Tod verhinderte diese Vereinigung und ich ging wieder in die weite Welt als Pilger und Wanderer. Jahre rollten vorüber, und ich glaubte wieder den Wunsch nach Liebe besiegt zu haben, einen Wunsch, der mich quälte, seit ich Sie verloren. Plötzlich aber und kürzlich erweckte ein Wesen, schön wie Sie selbst, sanft, arglos und jung wie damals, als wir uns trafen, in mir ein neues und sonderbares Gefühl. Ich will Ihnen dieß nicht verhehlen, Alice; zuletzt liebte ich eine Andere! So sonderbar es Ihnen auch scheinen muß, war es eine gewisse Aehnlichkeit mit Ihnen, nicht in den Zügen, sondern in den Tönen der Stimme; in der namenlosen Anmuth Ihrer Bewegung und Ihres Wesens; in der Musik Ihres einst glücklichen Lachens – kurzum, jene Aehnlichkeit, die ich mir jetzt erklären kann und welche Kinder nicht von ihren Eltern allein, sondern auch von denjenigen, die sie am meisten sehen und lieben, durch Nachahmung in ihrem zarten Alter annehmen – Alles dieß war vielleicht die hauptsächlichste Anziehung, welche mich – Alice, sind Sie bereit, es zu hören? – welche mich zu Eveline Cameron hinführte. Kennen Sie mich in meinem wahren Charakter, bei meinem wahren Namen? Ich bin jener Maltravers, welcher vor wenigen Wochen mit Eveline verlobt war!«

Er hielt an und wagte zu Alice emporzublicken; sie war un gewöhnlich blaß; ihre Hände waren eng gefaltet; allein sie weinte nicht und sprach nicht. Das schlimmste war vorüber; er setzte schneller und mit weniger Anstrengung seine Rede fort:

»Durch die List, den Betrug und die Falschheit des Lord Vargrave ward mir plötzlich der Glauben beigebracht, daß Eveline unsere Tochter sei und daß Sie Schauder bei dem Gedanken empfänden, noch einmal den Urheber so manchen Elends zu erblicken. Alice, ich brauche Ihnen von dem Schrecken nichts zu sagen, welcher auf die Liebe folgte; ich übergehe die von mir erduldete Folter. Durch eine Reihe Vorfälle, die ich Ihnen später erzählen will, ward mir Argwohn an Vargrave's Erzählung erweckt. Ich kam hieher; ich erfuhr Alles von Aubrey; ich beklage nicht länger die Liebe, die mich auf einige Zeit so quälte! Ich beklage nicht länger den Bruch meiner Verbindung mit Eveline; ich beklage nichts, welches mich zuletzt frei und ungefesselt zu deinen Füßen führt und mich mit deiner erhabenen Treue und unauslöschlichen Liebe bekannt macht. Hier also, hier unter deinem eigenen Dache kniet dein frühester Freund und Feind, um Verzeihung und Hoffnung zu erflehen; er bewirbt sich um dich als seine Frau; als seine Gefährtin bis zum Grabe! Vergiß alle seine Irrthümer und werde ihm unter heiligerem Namen Alles, was du ihm vor Alters warst.«

»Sie also waren der Bewerber um Eveline? Sie sind derjenige, welchen sie liebt; ich sehe Alles!« Alice stand auf; und bevor er noch ihre Absicht bemerkte oder seiner Gefühle sich bewußt war, verschwand sie aus dem Zimmer.

Lange Zeit und mit bitterem Gefühl erwartete er ihre Wiederkehr; sie kam nicht.

Zuletzt schrieb er eilig ein Billet, worin er sie anflehte, wieder zu ihm zu kommen und ihn von der Qual der Ungewißheit zu befreien, an seine Aufrichtigkeit zu glauben und seine Hand anzunehmen. Er schickte das Billet auf ihr Zimmer, wohin sie geeilt war, ihre Regungen zu begraben. Nach wenig Minuten kam eine Antwort; sie war mit Bleistift geschrieben, und mit Thränen befleckt.

»Ich danke Ihnen; ich verstehe Ihr Herz; aber verzeihen Sie mir; ich kann Sie jetzt noch nicht sehen; sie ist schön und gut; sie ist Ihrer würdig. Ich werde bald mit meinem Schicksal wieder ausgesöhnt sein. Gott segne Sie Beide!«

Die Thüre der Pfarrei ward plötzlich geöffnet. Maltravers trat mit hastigem und schwerem Tritte ein.

»Gehen Sie zu jenem Engel, ich bitte Sie! Sagen Sie ihr, daß sie mir Unrecht thut, wenn sie glaubt, ich könne je eine andere heirathen und je einen andern Zweck im Leben haben, als ihr Ersatz zu leisten und sie zu verdienen. Gehen Sie und legen Sie für mich ein Wort ein.«

Aubrey, nachdem er von Maltravers die Vorgänge erfahren, ging zum Landhause; es war beinahe Mitternacht, als er zurückkehrte. Maltravers begegnete ihm auf dem Kirchhofe an dem Eibenbaume.

»Wohlan; welche Botschaft bringen Sie?«

»Sie willigt ein, sie wünscht, daß wir Beide morgen nach Paris reisen. Kein Tag ist zu verlieren – wir müssen Eveline aus dieser Schlinge retten.

»Eveline, ja, Eveline soll gerettet werden! Allein das Uebrige – weßhalb wenden Sie sich fort?«

»Sie sind nicht der arme Künstler, der wandernde Abenteurer; Sie sind der hochgeborene, der reiche, der berühmte Maltravers. Alice kann Ihnen nichts schenken; Sie haben die Liebe der Eveline gewonnen; Alice kann nicht das ihr anvertraute Kind zur hoffnungslosen Neigung verurtheilen. Sie lieben Eveline; Alice kann sich nicht mit dem jungen, wohlerzogenen und schönen Geschöpfe vergleichen, deren Liebe ein Schatz von nicht zu bestimmendem Werth ist. Alice bittet Sie, sich nicht um sie zu grämen; sie wird in Ihrem Glück zufrieden und glücklich sein. Dieß ist die Botschaft.«

»Und was sagten Sie? Sagten Sie ihr nicht, solche Worte würden mein Herz brechen.«

»Einerlei, was ich sagte; ich hege Mißtrauen, wenn ich Rath gebe. Ihr Gefühl ist wahrer wie alle unsere Weisheit!«

Maltravers gab keine Antwort; und der Pfarrer sah, wie er schnell über die Gräber beim Sternenlicht zum Dorfe eilte.


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