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Drittes Kapitel.

   Ha, er ist es! So eben sahen wir ihn noch
so verrückt, so toll wie eine sturmbewegte See.

      Shakespeare.

 

In der Rue de la paix wohnte ein ausgezeichneter englischer Advokat, mit welchem Maltravers früher Geschäfte gehabt hatte; er fuhr jetzt zu diesem Herrn, setzte ihn in Kenntniß von der vernommenen Nachricht über den Bankerott des Herrn Douce und gab ihm Auftrag, Paris im ersten Augenblick zu verlassen, so bald er einen Paß erhalten könne, um nach London zu reisen. Jedenfalls würde er dort einige Stunden vor Maltravers ankommen, und auch in diesen wenigen Stunden werde etwas gewonnen werden.

Als dieß geschehen war, fuhr er zum nächsten Hotel, welches zufällig, ohne daß er es wußte, auch Lord Vargrave's Wohnung war. Als sein Wagen vor dem Thore hielt, sprang ein Mann, während der Portier die Thür öffnete, unter den Lampen hervor, wo er herumgeschlendert war, blickte in's Wagenfenster und betrachtete Maltravers mit großem Ernst. Maltravers, in seine Gedanken vertieft, bemerkte ihn nicht; als der Wagen in den Hof fuhr, folgte der Fremde, der in einen abgetragenen, zerfetzten Mantel gehüllt war und dessen Bewegungen unter dem Lärm der Ankunft nicht beobachtet wurden.

Des Portiers Frau führte die Ankommenden in den zweiten Stock, der gerade leer stand, und der Diener begann, das Feuer anzuschüren. Maltravers warf sich zerstreut auf das Sopha und bemerkte nichts von seiner Umgebung; als er plötzlich die Augen aufschlug, erblickte er vor sich Cesarini's Antlitz! Der Italiener, welchen die Personen im Hotel wahrscheinlich für einen der neuen Ankömmlinge hielten, lehnte sich über den Rücken eines Armsessels, stützte das Gesicht mit den Händen und heftete seine Augen mit düsterem und kummervollem Ausdruck auf die Züge seines alten Nebenbuhlers. Als er sich erkannt sah, trat er auf Maltravers zu und sagte mit leiser Stimme auf Italienisch:

»Sie sind der Mann, den ich vor allen Andern am meisten zu sehen wünsche. Ich habe Ihnen Vieles zu sagen, und meine Zeit ist kurz. Können Sie mir auf einige Minuten Gehör schenken?«

Der Ton und das Wesen Cesarini's war so ruhig und verständig, daß Maltravers seinen ersten Entschluß änderte, welcher darin bestand, den Verrückten festzunehmen, dessen abgemagertes Gesicht und schmutzige Kleider – ein über die ganze Gestalt verbreiteter Anschein des Elendes – unwiderstehliches Mitleid erweckten. Maltravers konnte, wie sehr auch ängstliche und drückende Gedanken auf ihm lasteten, die so erbetene Unterredung nicht abschlagen. Er entließ seinen Diener und bat Cesarini, sich zu setzen.

Der Italiener rückte an das Kaminfeuer, welches jetzt hell und lodernd brannte, streckte seine dünnen Hände über die Flamme und schien die Wärme mit Wollust zu genießen. »Kalt, kalt,« sagte er kläglich, als wenn er mit sich selbst spräche; »die Natur gewährt nur einen ärmlichen Schutz. Allein Frost und Hunger sind wenigstens gnädiger, als Sklaverei und Finsterniß.«

In diesem Augenblicke trat Ernsts Diener ein, um sich zu erkundigen, ob sein Herr nicht einige Erfrischungen zu sich nehmen wolle, denn dieser hatte nur sehr wenig Nahrung unterwegs genossen. Bei dessen Worten wandte sich Cesarini eifrig und ausdrucksvoll um. Hinsichtlich seines Verlangens konnte man sich nicht irren. Maltravers bestellte Wein und kaltes Fleisch; als der Diener verschwunden war, wandte sich Cesarini mit sonderbarem Lächeln zu Jenem und sagte:

»Sie sehen, wohin die Liebe zur Freiheit den Menschen bringt; im Gefängniß hatte ich Ueberfluß! Ich habe aber von Menschen gelesen, die vor ihrer Hinrichtung ein üppiges Mahl hielten, nicht wahr. Sie ebenfalls? – Meine Stunde ist nahe. Den ganzen Tag ward ich durch ein unwiderstehliches Schicksal an dieß Haus gefesselt. Sie aber habe ich nicht gesucht. Einerlei! In der Krise unseres Geschickes treffen alle dessen Werkzeuge zusammen. Es ist der letzte Akt einer furchtbaren Tragödie.«

Der Italiener wandte sich wieder zum Feuer und beugte sich, vor sich hinmurmelnd, darüber hin.

Maltravers saß schweigend und nachdenklich da. Jetzt war der Augenblick gekommen, den Verrückten seiner Familie wieder zu übergeben, ihn den Schrecknissen, vielleicht selbst dem Hungertode zu entreißen, wozu ihn seine Flucht verurtheilt hatte, wenn er nur Cesarini bis zur Ankunft de Montaigne's aufhalten könne.

Diesen Gedanken gemäß zog er sein Portefeuille, welches auf dem Tische lag, ruhig zu sich hin und schrieb, während Cesarini ihm noch den Rücken zudrehte, in der Hast einige Zeilen an de Montaigne. Als sein Diener mit Wein und Fleisch wieder eintrat, folgte ihm Maltravers aus dem Zimmer und befahl ihm, das Billet sogleich zu besorgen; als er zurückkehrte, fand er, daß Cesarini die vor ihm stehende Nahrung mit der Gefräßigkeit des Hungers verschlang. Der Anblick war furchtbar. Der Verstand war zu Grunde gerichtet, die Seele verdunkelt, das Wilde, Thierische war allein noch übrig.

Als Cesarini seinen Hunger gestillt hatte, trat er zu Maltravers und redete ihn auf folgende Weise an:

»Ich muß Sie in die Vergangenheit zurückführen; ich sündigte gegen Sie und die Todte; allein der Himmel hat Sie gerächt, und Sie können mich bemitleiden und mir verzeihen. Maltravers, ein Anderer ist noch schuldiger, als ich, aber stolz, glücklich und groß. Der Himmel hat sein Verbrechen der Rache des Menschen überlassen! Ich verpflichtete mich durch einen Eid, seine Schurkerei nicht zu enthüllen. Diesen Eid breche ich jetzt, denn die Kunde soll ihn und mich überleben. Obgleich man mich für verrückt hält, sind die Verrückten Propheten, und eine feierliche Ueberzeugung, eine Stimme, nicht die der Erde, verkündet mir, daß wir Beide, er und ich, uns bereits in dem Schatten des Todes befinden.«

Hierauf erzählte Cesarini mit einer ruhigen und bestimmten Genauigkeit der Selbstbeherrschung, mit der vollständigsten Angabe aller einzelnen Umstände, welche in der Wirkung um so schauderhafter war, da sogar die Augen des Erzählenden seine furchtbare Krankheit verriethen, den Rath, die Ueberredung und die List Lumley's. Langsam und bestimmt bewegte er auf eindringliche Weise das Herz von Maltravers durch den Widerwillen erregenden Bericht der kalten List, welche die heftige Leidenschaft als ein Werkzeug gebraucht hatte. Seine Erzählung schloß er mit folgenden Worten:

»Jetzt staunen Sie nicht mehr, daß ich bis zu dieser Stunde lebte, weßhalb ich an Freiheit bei Mangel und Hunger, unter Bettlern, Verbrechern und bei dem Auswurf der Gesellschaft so gierig festhielt. In jener Freiheit lag meine letzte Hoffnung, die Hoffnung nach Rache!«

Maltravers gab einige Augenblicke lang keine Antwort, zuletzt sagte er ruhig:

»Cesarini, es gibt so große Missethaten, daß sie der Rache trotzen. Lassen Sie uns, da wir auf gleiche Weise verletzt wurden, unsere Sache Ihm vertrauen, welcher in allen Herzen liest, und besser, als wir es vermögen, das Verbrechen und dessen Entschuldigung abwägt. Sie glauben, daß er nicht gelitten hat, daß er frei ausgegangen ist. Wir kennen nicht seine innere Geschichte; Wohlstand und Macht sind keine Zeichen des Glückes; sie bieten keine Befreiung von Sorgen. Lassen Sie sich besänftigen und vernünftigen Rath geben, Cesarini; lassen Sie den Stein noch einmal das Grab verschließen! Wenden Sie sich mit mir zur Zukunft und lassen Sie uns vielmehr suchen, Richter unserer selbst, als die Henker Anderer zu sein.«

Cesarini hörte finster zu und war im Begriff, zu antworten. als –«

Wir müssen aber jetzt zu Lord Vargrave zurückkehren.


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