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Zwölftes Kapitel.

»Tout notre raisonnement se reduit
à céder au sentiment.« All unser Vernünfteln läuft darauf hinaus, dass wir unserem Gefühl nachgeben. Anm.d.Hrsg.

      Pascal.

 

Lord Vargrave, welcher nicht den Wunsch hatte, bei der Wittwe allein zu bleiben, als die Gäste fort waren, bestimmte seine Abreise für denselben Tag, der für die der Frau Merton festgesetzt war. Da der Weg Beider auf einige Meilen derselbe war, so wurde verabredet, daß man in*** zu Mittag speisen würde, von wo Lord Vargrave nach London fahren wollte. Da es Lord Vargrave nicht gelungen war, eine zweite, zufällige Unterredung sich zu verschaffen, und da er eine Zusammenkunft förmlich zu fordern sich scheute (denn er erkannte die Unsicherheit des Bodens, worauf er stand), so suchte er, gereizt und etwas gekränkt, wie dieß stets seine Gewohnheit war, jede Vergnügung auf, die in seinem Bereiche lag. Im Gespräche mit Caroline Merton, einem schlauen, eigennützigen und ehrgeizigen Mädchen, fand er das Spielzeug, das er wünschte. Beide trafen oft zusammen; ihm wenigstens schien keine Gefahr in dem Verkehr zu liegen; vielleicht war es sein Hauptzweck, eben sowohl Eveline zu reizen, wie seiner eigenen Laune sich hinzugeben.

Am Abend vor Evelinens Abreise hatte sich die kleine Gesellschaft in der letzten Stunde zerstreut. Frau Merton befand sich auf ihrem eigenen Zimmer, indem sie sich aus Liebhaberei die unnütze Beschäftigung machte, zuzusehen, wie ihre Kammerfrau einpackte. Diese Art Arbeit machte ihr besonders Vergnügen. Satz sie in ihrem großen Lehnstuhl und sah sonst Jemand arbeiten, um schläfrig sagen zu können: »Zerknittere die Schärpe nicht – wo sollen wir den großen blauen Kopfputz der Miß Caroline hinthun?« – so erlangte sie dadurch einen sehr behaglichen Begriff von ihrer eigenen Wichtigkeit und ihrer Gewohnheit, sich zu beschäftigen, eine Art Anspruch auf die Oberaufsicht einer Familie und auf den Charakter der Frau eines bedeutenderen Geistlichen. Caroline war verschwunden. Lord Vargrave ebenfalls; man vermuthete jedoch die Erstere bei Eveline und glaubte, der Andere schreibe Briefe; dieß wenigstens war der Fall, als man Beide zuletzt bemerkt hatte. Frau Leslie befand sich allein in ihrem Besuchzimmer und war in ängstliches und wohlwollendes Sinnen über die kritische Lage ihres jungen Günstlings versunken, welcher im Begriff war, in ein Alter und in eine Welt zu treten, deren Gefahren Frau Leslie nicht vergessen hatte.

Um diese Zeit befand sich Eveline, indem sie Lord Vargrave und seine Bewerbung, Jedermann und Alles, mit Ausnahme des Grams ihrer nahen Abreise, vergaß, allein in einer kleinen Laube, die man auf der Klippe angelegt hatte, um von dort die Aussicht auf das Meer genießen zu können. An jenem Tage war sie rastlos und verstört gewesen; sie hatte jeden, durch jugendliche Erinnerungen geweihten Ort besucht; sie war mit zärtlichem Kummer an jedem Ort gewesen, wo sie einst süße Unterredungen mit ihrer Mutter gehabt hatte. Mit einem besonders warmen und liebevollen Temperament begabt, hatte sie oft Sehnsucht nach einer heftigeren und mehr enthusiastischen Liebe empfunden, als der Charakter von Lady Vargrave sie darreichen konnte. In der Liebe der letzteren, so sanft und beständig sie auch war, schien ihr irgend etwas zu fehlen, das sie sich nicht erklären konnte. Sie hatte dieß geliebte Gesicht den ganzen Morgen überwacht. Sie hatte gehofft, jene Augen zärtlich auf sich geheftet zu sehen und von jener sanften Stimme die Worte zu hören: »Ich kann mich von meinem Kinde nicht trennen.« Alle heiteren Bilder, welche die muntere Caroline von den Scenen, in die sie nun gelangen sollte, entworfen hatte, waren jetzt verschwunden, da die Stunde näher kam, worin ihre Mutter allein bleiben sollte, Warum sollte sie fort? Es schien ihr nutzlose Grausamkeit.

Als sie dort saß, bemerkte sie nicht, daß Herr Aubrey, welcher sie von weitem gesehen hatte, jetzt auf sie zukam; erst als er in die Laube getreten war und ihre Hand ergriffen hatte, erwachte sie aus dem Sinnen, welchem die Jugend, die träumende, die sehnende sich so krampfhaft hinzugeben pflegt.

»Thränen, mein Kind?« sagte der Pfarrer; »schämen Sie sich ihrer nicht, sie ziemen Ihnen in dieser Stunde. Wie werden wir Sie vermissen, und Sie werden uns nicht vergessen!«

»Ich, Sie vergessen? Gewiß nicht! Aber warum soll ich Sie verlassen? Warum wollen Sie nicht mit meiner Mutter sprechen? Bitten Sie diese doch, daß ich hier bleibe! Wir waren so glücklich, bis diese Fremden kamen. Wir glaubten nicht, daß es eine andere Welt gäbe; diese Welt hier ist genug für mich!«

»Arme Eveline,« sagte Herr Aubrey sanft; »ich habe mit Ihrer Mutter und mit Frau Leslie gesprochen. Beide haben mir alle Gründe hinsichtlich Ihrer Abreise vertraut, und ich kann deren Gerechtigkeit nur anerkennen. In wenigen Monaten werden Sie das Alter erreicht haben, wo Sie sich entschließen müssen, ob Lord Vargrave Ihr Gatte sein soll. Ihre Mutter schreckt vor der Verantwortlichkeit zurück, auf Ihre Entscheidung Einfluß zu üben. Wie können Sie, Kind, hier, wo Sie so wenig Andere sehen, in Ihrer Unerfahrenheit Ihr eigenes Herz kennen?«

»Aber, Herr Aubrey,« sprach Eveline mit einem Ernst, der ihre Verlegenheit überwand, »ist mir eine Wahl geblieben? Darf ich undankbar, ungehorsam gegen ihn sein, der mir ein Vater war? Muß ich nicht mein eigenes Glück opfern? Wie gerne thät ich's, wenn meine Mutter billigend mir zulächeln würde.«

»Mein Kind,« sprach der Pfarrer ernst, »ein alter Mann ist ein schlechter Richter in den Angelegenheiten der Jugend, doch in diesem Falle glaube ich, daß Ihre Pflicht Ihnen deutlich vorgezeichnet ist. Widersetzen Sie sich nicht entschlossen den Ansprüchen Lord Vargrave's auf Ihre Person; überreden Sie sich nicht selbst, daß Sie in einer Verbindung mit ihm unglücklich sein werden. Fassen Sie sich, denken Sie mit Ernst an die Ihnen vorliegende Wahl, weisen Sie jede bestimmte Entschließung im gegenwärtigen Augenblicke zurück – warten Sie, bis die festgesetzte Zeit da ist oder wenigstens näher rückt. Mittlerweile wird Lord Vargrave, wie ich höre, bei Frau Merton häufigen Besuch abstatten. Dort werden Sie ihn in Gesellschaft von Anderen sehen, dort wird sich sein Charakter zeigen; erforschen Sie seine Grundsätze, seine Stimmung; untersuchen Sie, ob er ein Mann ist, den Sie achten können, der Sie glücklich machen kann, Eine Liebe ohne Enthusiasmus ist wohl möglich und mag dennoch für das häusliche Glück und die Neigungen genügen. Unmerklich werden Sie auch von Andern Theile seines Charakters kennen lernen, die er uns nicht zeigt. Wenn das Ergebniß der Zeit und Ihrer Untersuchung in der Art ausfällt, daß Sie freudig den Wünschen des verstorbenen Lords gehorchen können, so ist diese Entscheidung offenbar die glücklichere. Wenn Sie dagegen auch dann vor einem Bündnisse zurückschaudern, wogegen jetzt Ihr Herz sich auflehnt, dann seien Sie mit beruhigtem Gewissen frei. Auch die besten Menschen sind unvollkommene Richter über das Glück Anderer. Bei dem Wohl und Wehe eines ganzen Lebens müssen wir für uns selbst entscheiden. Ihr Wohlthäter konnte unmöglich die Absicht hegen, daß Sie elend würden, und blickt er jetzt mit Augen, die von dem irdischen Nebel gereinigt sind, auf Sie hernieder, so wird sein Geist Ihre Wahl billigen, denn aller weltliche Ehrgeiz erstirbt mit uns, so bald wir diese Welt verlassen. Was gilt jetzt einer unsterblichen Seele der Titel und der Rang, den Ihr Wohlthäter seinem Adoptivkinde mit irdischen Wünschen zu sichern hoffte? Dieß ist mein Rath. Betrachten Sie die helle Seite der Dinge und erwarten Sie ruhig die Stunde, worin Lord Vargrave Ihre Entscheidung Ihnen abfordern kann.«

Die Worte des Pfarrers, welche die Pflicht Eveline's so genau bestimmten, gewährten derselben unaussprechliche Erleichterung und Trost; auch der Rath über andere und höhere Dinge, den der gute Mann ihrer, zur Aufnahme religiöser Eindrücke damals sanft gestimmten Seele gab, ward mit Dankbarkeit und Achtung angehört.

Hierauf kam das Gespräch auf Lady Vargrave, einen Stoff, der Beiden theuer war. Der alte Mann war durch des armen Mädchens uneigennützige Sorge um die Behaglichkeit ihrer Mutter – durch ihre Besorgniß, daß man sie in den kleineren Aufmerksamkeiten vermissen würde, welche die kindliche Liebe allein darzubieten vermag, sehr gerührt; er ward noch mehr gerührt, als Eveline traurig hinzufügte:

»Warum aber soll ich mir überhaupt einbilden, daß sie mich vermißt? Ach, ob ich gleich mich nicht darüber zu beklagen habe, empfinde ich doch, daß sie mich nicht so liebt, wie ich sie liebe.«

»Eveline,« sprach der Pfarrer mit mildem Vorwurf, »habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Ihre Mutter Kummer empfunden hat? Obgleich der Kummer die Neigung nicht vernichtet, so unterdrückt er deren Aeußerung und mäßigt die äußeren Zeichen.«

Eveline seufzte und schwieg.

Als der alte Mann und seine junge Freundin zum Landhause zurückkehrten, näherten sich ihnen Lord Vargrave und Caroline, die aus dem entgegengesetzten Theile des Parks hervorkamen. Ersterer eilte auf Eveline mit seiner gewöhnlichen Munterkeit und seinem freimüthigen Wesen zu; ein solcher Zauber lag in dem Wesen des Mannes, den die Welt und deren Sorgen scheinbar niemals hinterlistig oder zurückhaltend gemacht hatten, daß jenes sogar bei dem Pfarrer seinen Eindruck nicht verfehlte. Er glaubte, daß Eveline glücklich sein könne mit einem Manne, der liebenswürdig als Gesellschafter und weise als Führer sei. So alt aber der Pfarrer auch war, erinnerte er sich seiner früheren Liebe und wußte, daß es einen Instinkt des Herzens gibt, welcher alle unsere Berechnungen zu nichte macht. Während Lumley das Gespräch führte, knarrte die kleine Thür, welche die Verbindung zwischen dem Garten und dem nahen Kirchhof (dem nächsten Wege zum Dorfe) herstellte, in ihren Angeln, und die ruhige und einsame Gestalt der Lady Vargrave warf ihren Schatten über das Gras.


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