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Viertes Kapitel.

Ich kann nicht anders, stets lieb ich
Deinen Vater noch herzinniglich;
Wo er auch wandeln mag und weilen,
Es wird mein Herz stets zu ihm eilen.
In Wohl und Weh, wo er auch weilt,
Ist dies mein Herz ihm stets ertheilt.

      Altes schottisches Lied.

 

Man erinnere sich unserer Bemerkung im Anfange dieser Abtheilung von Maltravers' Geschichte, daß Aubrey in seiner Jugend das schon oft dagewesene Mißgeschick einer getäuschten Liebe erfahren hatte. Leonore Westbrook, eine junge Dame desselben demüthigen Ranges wie er selbst, hatte seine Liebe gewonnen und schien dieselbe zu erwidern, indeß sie war dieser Liebe unwerth. Eitel, flüchtig und ehrgeizig gab sie den armen Studenten wegen einer glänzenderen Ehe auf. Sie nahm die Hand eines Kaufmannes an, der sich in ihre Schönheit verliebt hatte, und welcher den Ruf großen Reichthums besaß. Beide ließen sich in London nieder, und Aubrey verlor ihre Spur.

Sie gebar eine einzige Tochter; als dieß Kind sein vierzehntes Jahr erreicht hatte, endigte der Gatte plötzlich und ohne scheinbare Ursache sein Leben durch Selbstmord. Die Ursache jedoch ward offenbar, bevor man ihn, noch begraben hatte. Er hatte sich in Unternehmungen, die bei weitem über sein Vermögen reichten, eingelassen und dann sich entleibt, um dem Bettelstande und dem Gefängniß zu entgehen. Eine kleine jährliche Rente, nicht über 100 Pfund, war seiner Wittwe geblieben. Mit diesem Einkommen zog sie nebst ihrem Kinde aufs Land. Zufall, die Nähe einer entfernten Verwandten und die Wohlfeilheit des Ortes trug dazu bei, daß sie ihren Wohnsitz in der Gegend der Stadt C*** aufschlug.

Charaktere, die in der Jugend flüchtig und eigennützig waren, werden oft, wenn Unglück, dem sie mit Muth zu begegnen nicht geeignet sind, sie niederbeugt und zu Boden wirft, in höchst krankhafter Weise fromm; eine Aufregung ist für sie nothwendig, und wird dieselbe von der Erde verweigert, so suchen jene sie um so ungeduldiger beim Himmel. Dieß war der Fall bei Frau Westbrook, und diese neue Richtung ihrer Gesinnungen brachte sie natürlich mit dem größten Heiligen der Gegend, Herrn Richard Templeton in Verbindung.

Wir haben gesehen, daß dieser Herr in seiner ersten Ehe nicht glücklich war; der Tod hatte jenes Band damals noch nicht gelöst; er war von hitzigem und sinnlichem Temperament, und überließ sich ruhig unter dem breiten Mantel seiner Lehren, den körperlichen Trieben. Vielleicht war er in dieser Hinsicht nicht schlimmer, wie neun Menschen unter zehn; er gab aber vor, besser zu sein wie 999 999 unter einer Million. Zu den Fehlern des Temperaments ward die List der Heuchelei hinzugefügt und der gemeine Fehler ward zum gefährlichen Laster.

Er schaute auf Mary Westbrook, die Tochter der Wittwe, mit Blicken, die von denen der Gottseligkeit weit entfernt waren. Schon im vierzehnten Jahre entzückte sie ihn. Als nun noch drei Jahre zu jenem Alter hinzukamen, ward Herr Templeton, welcher die Ausdehnung »Entfaltung«. Anm.d.Hrsg. der reifenden Schönheit überwacht hatte, in das Mädchen heftig verliebt.

Mary war wirklich liebenswürdig, ihr Charakter von Natur gutmüthig und sanft, aber ihre Erziehung mehr wie vernachlässigt. Auf die Leichtfertigkeit und Gemeinheit eines Lebens zweiten Ranges, die ihr bis zu ihres Vaters Tode eingeschärft worden war, folgte jetzt die Quacksalberei, die sklavische Unterwürfigkeit, die unduldsame Andächtelei eines schwärmerischen Aberglaubens. Der ganze Charakter des armen Mädchens ward bei so heftigem und plötzlichem Wechsel erschüttert. In ihren unbestimmten und nicht fest gebildeten Grundsätzen verstört, von mittelmäßigem und schwachem Verstande, klammerte sie sich an das erste Brett, welches ihr »auf dem weiten Meere von geschmolzenem Wachs, worauf sie umhertrieb« zugeworfen wurde.

Da sie schon frühe gelernt hatte, den unbedingtesten Glauben zu Herrn Templetons Vorschriften zu hegen – da sie ihren Glauben an ihn heftete, wie der wilde Weinstock seine Ranken um die Eiche schlingt, da sie seinem Einfluß sich hingab und an seinem aufmunternden und beinahe liebkosenden Wesen Gefallen fand – so war kein Beichtvater des katholischen Italiens einer ländlichen Tugend gefährlicher wie Richard Templeton, welcher sich für das Urbild des reinen Protestantismus hielt, für die Moral und das Herz der Mary Westbrook.

Die Gesundheit der Frau Westbrook war durch langes Mitmachen der Vergnügungen Londons und durch das Unglück vor der Zeit untergraben, welches noch immer an einem Geiste nagte, den es eher verbittert, als gedemüthigt hatte. Sie starb, als Mary das achtzehnte Jahr erreicht hatte. Templeton war der einzige Freund, Tröster und Unterstützer der Tochter.

In einer bösen Stunde (glauben wir, daß es nicht aus vorher überlegter Schurkerei geschah) – in einer Stunde, als das Herz der Einen durch Gram und Dankbarkeit besänftigt und das Gewissen des Andern durch Leidenschaft eingeschlafen war, wurde Mary Westbrook verführt. Ihr Kummer und ihre Selbstvorwürfe, Templetons Furcht vor Entdeckung und das Erwachen seines Gewissens erweckte Letzterem den angstvollsten und heftigsten Kummer. Ein junges Mädchen in der Frau Westbrook Dienste hatte denselben wegen ihrer Verheirathung kurz vor dem Tode der Wittwe verlassen. Ihr Mann aber mißhandelte sie; sie war, um diesem zu entgehen, und um ihre Dankbarkeit gegen die Tochter ihrer früheren Herrin zu beweisen, gern in die Dienste der Miß Westbrook, nach dem Begräbniß ihrer Mutter zurückgekehrt. Der Name dieser Frau war Sara Miles. Templeton sah, daß Sara über seine Verbindung mit Mary scharfen Verdacht hegte; er bedurfte, einer Vertrauten und wählte sie.

Miß Westbrook ward in einen entfernteren Theil des Landes gebracht, und Templeton besuchte sie vorsichtig und selten. Vier Monate später starb Frau Templeton und der Gatte besaß Freiheit, sein Unrecht wieder auszugleichen. O wie bereute er damals, was vorgefallen war! Nur vier Monate Verzug der Sünde! Wie viel Kummer wäre ihm dadurch erspart worden! Er ward von Verlegenheit und Zweifel gequält; sein unglückliches Opfer befand sich in vorgerückter Schwangerschaft. Wünschte er, sein Kind soll ein rechtmäßiges sein, wünschte er noch mehr, die Ehre von dessen Mutter zu bewahren, so konnte er auch nicht lange Bedenken tragen, sein Unrecht in solcher Weise wieder auszugleichen, wie Pflicht und Gewissen ihn drängten. Andererseits aber konnte Er, der Heilige, das Orakel, das unbefleckte Muster in allen Formen, in Anstand und Ziemlichkeit, der bösen Welt durch eine so schnelle und vorzeitige Ehe Anstoß geben –

Als noch das Salz der nur verstellten Thränen
Die Röth den gerieb'nen Augen gab.

Nein! Er konnte nicht dem Hohn der Klatschbasen, dem Siege seiner Feinde, der Niedergeschlagenheit seiner Schüler bei so arger und rascher Thorheit trotzen. Indeß Mary grämte sich so, daß er wegen ihrer Gesundheit – wegen seines eigenen, noch nicht geborenen Kindes besorgt war.

Ein Mittelweg war noch vorhanden, eine Ausgleichung seiner Pflicht mit der Welt; er schlug denselben begierig ein, wie die meisten Menschen in seiner Lage gethan haben würden. Beide verheiratheten sich, aber im Geheimen und unter angenommenen Namen; das Geheimniß ward sorgfältig beobachtet. Sara Miles war der einzige, mit dem wirklichen Stande und dem Namen der jungen Eheleute bekannte Zeuge.

Mit sich selbst wieder ausgesöhnt, erlangte die junge Frau Gesundheit und Muth wieder. Templeton faßte sanguinische Hoffnungen. Er beschloß, sobald die Niederkunft vorüber war, außer Landes zu reisen; Mary sollte folgen; in einem fremden Lande sollten Beide sich öffentlich heirathen und einige Jahre auf dem Festlande bleiben; nach der Rückkehr würde das Alter des Kindes um ein Jahr zurückgeschoben werden. Nichts konnte klarer und einfacher sein!

Der Tod aber machte alle Plane des Herrn Templeton zu nichte; Mary hatte eine sehr schwere Niederkunft und starb wenige Wochen darauf. Templeton war zuerst untröstlich; allein eigennützige Gedanken milderten seinen Schmerz. Er hatte alles gethan, was das Gewissen zur Ausgleichung einer Sünde von ihm erheischte; er war jetzt von einer sehr argen Verlegenheit und von einer Verbannung auf einige Zeit befreit, die seinen Gewohnheiten und Ideen durchaus widerstrebte. Er besaß aber jetzt ein Kind, ein rechtmäßiges Kind, als Erbin seines Namens und Reichthums – ein erstgeborenes Kind, seine einzige Nachkommenschaft, die Stütze und Hoffnung seines vorrückenden Alters! Dieß Kind liebte er mit jener väterlichen Neigung, welche die härtesten und kältesten Menschen oft für ihr eigen Fleisch und Blut empfinden; väterliche Liebe ist oft nur eine Uebertragung der Selbstliebe.

Es war jedoch durchaus nothwendig, daß er dieß so sehr von ihm geliebte Kind, welches er der Welt zu zeigen sich sehnte, für den Augenblick verbarg und nicht anerkannte. Zufällig starb Sara's Mann wenige Wochen nach der Geburt von Templetons Kinde in Folge seiner Ausschweifungen, als sie gerade von ihrem eigenen Kindbett sich erholt hatte; Sara war deßhalb für immer befreit von den Ansprüchen und der Gewalt ihres Gatten. Ihrer Sorgfalt ward die Erbin anvertraut und ihr eigenes Kind in die Kost gegeben. Dieß war die Frau, und dieß das Kind, welches so sehr die wohlwollende Neugier in der Brust des würdigen Geistlichen in der Hochkirche und der drei alten Jungfern in C*** erweckt hatte.

Ueber Sara's Bericht von der Nachforschung des Geist1ichen und über seine eigene Begegnung mit jenem luchsäugigen Pastor erschreckt, verlor Templeton keine Zeit, die Wohnung der Kindswärterin zu verändern; der Bankier hatte den Weg zu deren neuen Wohnung mit der Angelruthe an dem Tage eingeschlagen, an welchem wir sein Abenteuer mit Lukas Darvil kennen gelernt haben.

Als Herr Templeton Alice zuerst sah, war sein eigenes Kind erst dreizehn oder vierzehn Monate alt – nur wenig älter wie das von Alice. Erregte die Schönheit des Schützlings der Frau Leslie zuerst seine gröbere Natur, so berührte ihre ängstliche Sorgfalt für ihr Kind eine verwandte Saite im Herzens des Vaters. Dieß verband ihn mit ihr durch stummes und unaufhörliches Mitgefühl. Templeton hatte die Besorgniß und die Pein unerlaubter Liebe so tief empfunden – er war, wie er gottloser Weise glaubte, vom Abgrunde öffentlicher Schande durch eine so merkliche Dazwischenkunft göttlicher Gnade errettet worden, daß er sich entschloß, seinen guten Namen und seinen Seelenfrieden nicht mehr auf so gefährliche Klippen zu wagen.

Der theuerste Wunsch seines Herzens bestand darin, daß er seine Tochter unter seinem Dache haben, mit ihr scherzen und spielen, ihr Heranwachsen überwachen und ihre Liebe gewinnen könne. Dieß schien für jetzt unmöglich. Würde er aber heirathen, eine Wittwe heirathen, welcher er die ganze Wahrheit oder einen Theil derselben anvertrauen könne – ließe sich das Kind als das ihrige ausgeben – ja, das war der beste Plan!

Templeton also brauchte eine Frau. Er wurde ohnedem älter, und der Tag mußte kommen, an welchem eine Frau ihm auch als Pflegerin nützlich sein würde. Alice hielt man für eine Wittwe; Alice war so sanft, gelehrig und mütterlich. Wenn sie sich nur bewegen ließe, aus C*** fortzuziehen und sich entweder von ihrem eigenen Kinde zu trennen, oder dasselbe für ihre Nichte zu erklären und das seinige zu adoptiren! Dieß waren von Zeit zu Zeit Templetons Gedanken, als er Alice besuchte und, bei jedem Besuch neues Zeugniß ihres zarten und schönen Charakters fand.

Dieß waren die Zwecke, die wir in der ersten Abtheilung dieses Werkes als sehr verschieden von den bloßen Eindrücken, der Bewunderung hinsichtlich ihrer Schönheit abgegeben haben. Dann aber wieder hielten ihn eigennützige Zweifel und Besorgnisse, der Widerwillen vor einer so unpassenden Verbindung, die Geburt der Alice, noch schlimmer wie bloßer niedriger Stand, die Furcht vor Entdeckung ihres Fehltrittes schwankend und unentschlossen zurück. Um die Wahrheit zu sagen, auch ihre Unschuld und die Reinheit ihres Sinnes hielt ihn in Entfernung. Er war scharfsinnig genug, um einzusehen, daß sogar er, der reiche Richard Templeton, von der treuen Alice einen Korb erhalten würde.

Endlich starb Darvil; er athmete freier; er beschloß ernstlich seine Entwürfe zu überlegen; zu jener Zeit auch wünschte Sara sich wieder zu verheirathen, da sich ihr erster Liebhaber wieder einstellte. Würde dann nicht sein Geheimniß in die Brust des zweiten Gatten übergehen, und wie weit könnte es von dort aus sich verbreiten! Dazu kam, daß Sara's Gewissen beunruhigt wurde; der Flecken müsse vom Andenken der todten Mutter vertilgt, die Rechtmäßigkeit des Kindes offen ausgesprochen werden. Sie ward zudringlich, ermüdete den frommen Mann mit ihren Vorstellungen und erweckte seine Besorgnisse.

Er beschloß deßhalb, sich den einzigen Zeugen seiner Ehe, dessen Zeugniß er besorgen mußte, vom Halse zu schaffen und sich von der Gegenwart des einzigen Menschen zu befreien, dem seine Sünde und seine Ehe mit Mary Westbrook bekannt war. Er gab seine Einwilligung zu Sara's Ehe mit William Elton und bot eine freigebige Mitgift unter der Bedingung an, daß sie dem Wunsch Eltons selbst, eines kühnen, jungen Mannes, nachgeben sollte, welcher sein Glück in der neuen Welt zu versuchen strebte. Seine Tochter mußte er anderswohin schaffen.

Während dieß geschah, ward Alicens Kind schon lange schwächlich und hinfällig, ernstlich krank. Es zeigten sich Symptome des baldigen Hinsterbens; der Arzt empfahl eine mildere Luft, und Devonshire ward gewählt. Nichts konnte der großmüthigen und väterlichen Güte gleichkommen, welche Templeton bei dieser höchst peinlichen Gelegenheit darlegte. Er bestand darauf, Alice mit den Mitteln zu versehen, daß sie die Reise mit Leichtigkeit und Behaglichkeit unternehmen konnte; die arme Alice willigte um ihres Kindes willen, mit einem von Dankbarkeit und Kummer schweren Herzen in alle seine Anerbietungen.

Jetzt begann der Bankier zu bemerken, daß alle seine Hoffnungen und Wünsche in gutem Zuge waren. Er sah voraus, das Kind der Alice sei dem Tode verfallen; damit war ein Hinderniß aus dem Wege geräumt. Alice selbst sollte aus der Sphäre ihres niedrigen Berufes entfernt werden. In einer entfernteren Grafschaft konnte sie von besserem Stande scheinen und unter anderem Namen auftreten. Diesen Absichten gemäß gab er ihr zu verstehen, daß die Aerzte um so sorgfältiger ihre Patienten behandelten; je mehr dieselben reich und achtbar schienen. Er machte Alice den Vorschlag, daß sie im Geheimen nach einer mehrere Meilen entfernten Stadt reisen sollte, daß er ihr dort einen Wagen verschaffen und eine Magd annehmen würde, daß er dieß Alles für sie thun wolle, gleichsam als für eine Verwandte, daß sie dann aber auch den Namen dieser Verwandten annehmen müsse.

Hiezu gab Alice, für ihr Kind ängstlich besorgt und sich Allem unterwerfend, was ihrem Kinde zum Wohl gereichen konnte, gleichsam als habe sie keinen eigenen Willen, ihre Einwilligung. Der Plan ward so ausgeführt wie vorgeschlagen. Alice reiste unter dem Namen Cameron, der ihm als sehr häufig und doch wohlklingend einfiel, mit ihrer Krankenwärterin und einer Magd, welche von ihrem früheren Berufe und ihrer Geschichte nichts wußte, auf der Landstraße von Devonshire ab. Templeton selbst beschloß ihr dorthin in wenigen Tagen zu folgen; es ward verabredet, daß sie sich in Exeter treffen wollten.

Auf dieser schwermüthigen Reise ereignete sich der denkwürdige Vorfall, daß Alice Maltravers noch einmal sah, als er, wie sie glaubte, das Gelübde der Liebe einer Andern gab. Die Krankheit ihres Kindes hatte sie einige Stunden in dem Wirthshause aufgehalten; die arme Kranke war eingeschlafen, und Alice hatte sich auf einige Augenblicke vom Lager fortgeschlichen, als ihre Augen auf dem Vater ruhten. Oh wie sehnte sie sich, wie glühte sie von dem Wunsche, ihm die Heiligkeit eines neuen Bandes zu eröffnen, daß ein Menschenleben zu ihrer Jugendliebe hinzugefügt sei! Und als sie niedergeworfen und krank im Herzen sich hinwegwandte und sich für vergessen und ersetzt hielt, war es eher der Stolz einer Mutter als der einer Geliebten, welcher ihren Mut aufrecht er hielt. Sie, das sanfte Geschöpf, empfand nicht die ihr selbst zugefügte Schmach; aber sein Kind, die kranke, vielleicht sterbende Tochter, darin lag das Unrecht! Nein, sie wollt' sich nicht der Gefahr eines kalten – großer Himmel! vielleicht eines ungläubigen Blickes auf das beruhigte, blasse Antlitz aussehen. Aber keine Zeit war zur Erklärung und Entdeckung gelassen. Sie sah ihn, wie er unbewußt der ihm so nahen Bande als ein Fremder vom Orte abfuhr. Von jetzt an war alle süße Hoffnung hinsichtlich ihres zukünftigen Lebens verschwunden. Ihr blieb nichts als das Pfand dessen, was gewesen war.

Traurig, niedergeschlagen, beinahe gebrochenen Herzens, setzte sie ihre Reise weiter fort. Wie verabredet, schloß sich ihr Herr Templeton in Exeter an; mit ihm kam ein schönes, blühendes und gesundes Mädchen, der eigentliche Gegensatz zu ihrem eigenen, hinfälligen Kind. Die kleine Fremde, obgleich nur wenig Wochen älter, schien dem Kind Alicens um ein Jahr vorangeeilt zu sein; das eine Kind war so gut gebildet und ausgewachsen, das andere so zurückgeblieben und in der kränklichen Knospe verdorben.

»Sie können mir Alles, was ich für Sie gethan habe, vergelten, noch mehr für mich thun, als ich je für Sie und die Ihrigen gethan habe,« sagte Templeton. »wenn Sie diese junge Fremde ebenfalls unter Ihre Obhut nehmen wollen; es ist das Kind einer mir sehr theuren Person, eine Waise; ich weiß nicht, wo ich es unterbringen soll, lassen Sie es für jetzt als Ihr eigenes Kind, als das ältere gelten.«

Alice konnte ihrem Wohlthäter nichts abschlagen, aber ihr Herz erschloß sich nicht sogleich dem schönen Mädchen, dessen funkelnde Augen und rosige Wangen die schmachtenden Blicke und verwelkte Farbe ihres eigenen Lieblings höhnten. Allein das kranke Kind schien eine Gespielin zu begrüßen; es lächelte, es streckte seine armen dünnen Hände ihm entgegen; es ließ unartikulirte Rufe der Freude vernehmen, und Alice brach in Thränen aus und schloß sie Beide an ihr Herz.

Herr Templeton trug Sorge, nicht unter demselben Dache mit Alice zu bleiben, die er jetzt zu heirathen ernstlich beabsichtigte; er folgte ihr jedoch an die Küste und besuchte sie täglich. Ihr Kind besserte sich – es hing so fest am Leben, das arme Kind, es konnte nicht vorhersehen, wie bitter das Leben für so Viele von uns ist.

Als nun Templeton von Alice ihr Abenteuer mit dem abwesenden Geliebten, und wie alle Hoffnung ihr in dieser Hinsicht entschwunden war, erfuhr, benützte er die Gelegenheit und brachte eifrig seine Bewerbung an. Alice überfloß in jener Stunde von Dankbarkeit; in den wieder auflebenden Blicken ihres Kindes las sie alle Verpflichtungen gegen ihren Wohlthäter. Aber dennoch schauderte ihr Herz bei dem verhängnißvollen Wort Liebe und bei dem Namen der Ehe. Der Verlorene, Treulose, kehrte auf seinen Thron zurück. In erstickten und gebrochenen Tönen erschreckte sie den Bankier mit der Zurückweisung, mit der stotternden, von Thränen begleiteten, aber entschlossenen Zurückweisung seiner Bewerbung.

Templeton aber setzte neue Maschinen in Bewegung; er brauchte ihr Kind als Mittel zu seiner Bewerbung; er malte alle die glänzenden Aussichten, die sich demselben durch ihre Ehe mit ihm eröffnen würden. Er wollte dasselbe lieben, aufziehen und versorgen wie sein eigenes. Dieß erschütterte ihre Entschlüsse, war aber nicht entscheidend. Er nahm Zuflucht zu einer großmüthigeren Anrufung; er gab ihr eine Erzählung seiner Geschichte mit Mary Westbrook, die übrigens erst bei seiner hastig eingegangenen und unziemlichen Ehe begann, indem er die Haft der Liebe zuschrieb; er machte ihr seine Bedenklichkeiten über die Anerkennung des Kindes aus einer Ehe begreiflich, welche die Welt sicherlich verhöhnen oder verurtheilen würde; er redete weitläufig über die unschätzbaren Segnungen, die sie ihm ertheilen könne, indem sie ihn aus allen Verlegenheiten reißen und seine Tochter, wenn auch mit erborgtem Namen, dem väterlichen Dache zurückgeben würde.

Jetzt ward Alice nachdenklich; jetzt schien sie unentschlossen. Sie hatte schon lange erkannt, wie unaussprechlich theuer das ihrer Sorgfalt anvertraute Kind ihm war, wie er erblaßte, sobald dasselbe an der geringsten Unpäßlichkeit litt, wie er sich sogar über den Wind entrüstete, welcher zu rauh ihre Wange heimsuchte. Sie fragte ihn einfach: »Ist Ihr Kind wirklich Ihr theuerster Gegenstand im Leben? Sind Ihre theuersten Hoffnungen an Ihre Tochter und an diese allein geknüpft?«

»So ist es,« sagte der Bankier ehrlich, indem er in der Ueberraschung seine Galanterie vergaß. »Wenigstens,« fügte er, indem er seine Selbstbeherrschung wieder erlangte, hinzu, »so weit dieß mit meiner Neigung zu Ihnen verträglich ist.«

»Und glauben Sie, daß Ihr Geheimniß, wenn ich Sie heirathe und Ihre Tochter adoptire, sicher bewahrt und alle Ihre Wünsche in Bezug auf Ihr Kind erfüllt werden?«

»Allerdings.«

»Und deßhalb, hauptsächlich deßhalb, lassen Sie sich herab, Alles, was ich gewesen bin, zu vergessen, und meine Hand zu suchen? Wohlan denn, wenn das Alles wäre, so bin ich Ihnen zu viel schuldig; mein armes Kind verkündet mir zu laut, was ich Ihnen verdanke, als daß ich irgendetwas verweigern sollte, was Ihnen einen so segensreichen Genuß verschaffen kann. Ach, ein eigenes Kind unter dem eigenen Dach ist solch ein hohes Glück! Wenn ich Sie aber heirathe, so kann es allein geschehen, um Ihnen diesen Zweck zu sichern, um eine Mutter Ihrem Kinde, Ihnen aber eine Gattin nur dem Namen nach zu sein! Ich bin nicht so gesunken, daß ich mich verachtete; ich weiß jetzt, daß ich mich vergangen habe, obgleich ich es zuerst nicht wußte! Nichts kann mein Vergehen entschuldigen, als die ihm erwiesene Treue! Ja, niemals werde ich dem Vater meines Kindes untreu werden. Was das Uebrige betrifft, so verfahren Sie wie Sie wollen.«

Alice äußerte Alles dieß in ihrer Unschuld, ohne Erröthen; sie faltete leidenschaftlich ihre Hände und verließ Templeton, der überrascht und gekränkt sprachlos dastand.

Als er wieder zu sich kam, gab er vor, sie nicht verstanden zu haben; allein Alice ließ sich nicht zufrieden stellen, und alles weitere Gespräch hörte auf. Er begann langsam, nach wiederholten Unterredungen und Drängen, zuletzt zu begreifen, wie sonderbar hartnäckig das demüthige, durch seine Anträge so hoch geehrte Geschöpf in gewissen Punkten war.

Obgleich seine Tochter sein Theuerstes im Leben bildete, obgleich er Willens war, eine Mesalliance um ihretwillen zu schließen, deren Größe er sich selbst nicht gestehen wollte – so erweckte dennoch die Schönheit Alice's eine gröbere und mehr irdische Empfindung, die er zu unterdrücken durchaus nicht beabsichtigte. Er wollte wohl Versprechungen geben und in großmüthiger Weise schwatzen, sobald er aber an einen Eid kam – an einen feierlichen und bindenden Eid – wie diesen Alice durchaus verlangte, so stutzte er und zog sich zurück.

Mochte er auch ein Heuchler sein, so hegte er doch, wie zuvor gesagt wurde, einen aufrichtigen, religiösen Glauben. Er konnte ein Versprechen ohne allen Gewissensvorwurf umgehen; er war jedoch kein Mann, der einen Eid verletzt und die Bürde des Meineids seiner Seele aufgeladen haben würde. Vielleicht würde die Ehe niemals eingetreten sein, allein Templeton wurde krank. Die sanfte und erschlaffende Luft paßte nicht für ihn; ein schleichendes und gefährliches Fieber ergriff ihn, und der eigennützige Mann zitterte beim Anblick des Todes.

In dieser Krankheit pflegte ihn Alice mit der Wachsamkeit und Sorgfalt einer Tochter; als er zuletzt wieder hergestellt, durch ihren Eifer und ihre Güte gerührt, durch Krankheit besänftigt, über die Nähe seines einsamen Alters erschreckt, und sich der Pflichten gegen sein mutterloses Kind noch mehr bewußt war, warf er sich Alice zu Füßen und versprach feierlich Alles, was sie verlangte.

Während seines Aufenthalts in Devonshire und besonders während seiner Krankheit hatte Templeton die Bekanntschaft von Aubrey gemacht und unterhalten. Der gute Geistliche betete an seinem Krankenbett, und als Templetons Gefahr am höchsten war, suchte er sein Gewissen durch ein Geständniß seines an Mary Westbrook erwiesenen Unrechtes zu erleichtern.

Aubrey stutzte bei dem Namen. Als er nun erfuhr, das liebenswürdige Kind, welches so oft auf seinem Knie saß und ihm in's Gesicht lächelte, sei die Enkelin seiner ersten und einzigen Geliebten, empfand er eine neue Theilnahme an dessen Wohl, und hatte einen neuen Grund, Templeton zur Ausgleichung seines Unrechtes zu drängen, so wie einen Beweggrund zu dem Wunsche, daß die gütige Sorgfalt der jungen Mutter, welche, wie er kummervoll voraussah, ihres eigenen Kindes bald beraubt sein müßte, dem Kindesalter der Enkelin seiner Leonore erworben würde. Vielleicht trug der Rath und die Ermahnung Aubrey's dazu bei, Templetons Gewissen zu beruhigen und ihn mit dem Opfer auszusöhnen, welches er der Liebe zu seiner Tochter brachte. Wie dem auch sei, er heirathete Eveline und Aubrey feierte und segnete die kalte und unfruchtbare Verbindung.

Jetzt aber trat ein neuer unaussprechlicher Kummer ein; das Kind der Alice hatte sich nur auf einige Zeit gebessert; die tödtliche Krankheit hatte nur mit ihrer Beute gespielt; sie brach mit schneller und plötzlicher Gewalt wieder ein; nach einem Monat seit der Verheirathung von Alice mit Templeton entschwand die letzte Hoffnung. Die Mutter verlor ihr Kind.

Der Schlag, welcher Alice gänzlich betäubte, war nach dem ersten Schmerz des Mitgefühls dem Bankier kein unwillkommenes Ereigniß. Jetzt mußte sein Kind Alicens Sorgfalt ausschließlich in Anspruch nehmen; kein Geklatsch, kein Verdacht konnte entstehen, weßhalb er im Leben und nach seinem Tode das eine ihm nicht angehörige Kind dem andern vorziehen wurde.

Er beeilte sich, Alice von dem Orte ihres letzten Unglücks zu entfernen. Er entließ die einzige Dienerin, welche sie auf ihrer Reise begleitet hatte; er brachte seine Frau nach London und schlug zuletzt, wie wir gesehen haben, seinen Wohnsitz in einem Landhause in dessen Nähe auf. Dort drängte sich mit jedem Tage seine Liebe mehr auf die angebliche Tochter der Frau Templeton, auf seinen Liebling und seine Erbin, auf die schöne Eveline Cameron zusammen.

In den ersten ein oder zwei Jahren zeigte Templeton beunruhigende Neigung, dem von ihm beschworenen Eide zu entgehen; allein bei dem geringsten Wink traf er auf finstere Strenge bei seiner Frau; sie drohte sogar sein Dach für immer zu verlassen, wenn die Heiligkeit seines Gelübdes auch nur im Geringsten in Frage gestellt würde. Einmal sogar ward sie nur mit Schwierigkeit daran verhindert, ihre Drohung zur Ausführung zu bringen. Templeton zitterte; solch eine Trennung würde Klatscherei, Neugier, Skandal, Lärm in der Welt, öffentliches Geschwätz und mögliche Entdeckung veranlassen.

Außerdem war Alice für Eveline, wie für seine eigene Behaglichkeit nothwendig; er hatte an ihr Jemand, mit der er, wenn gesund, schmälen und auf dessen Pflege er sich, wenn er krank war, verlassen konnte. Allmählig söhnte er sich deßhalb mit seinem Loose, wenn auch ungern, wieder aus. Als Alter und körperliche Schwächen auf ihn einbrachen, war er wenigstens zufrieden, sich eine treue Freundin und eine eifrige Wärterin gesichert zu haben.

Jedoch eine Ehe von dieser Art ist keine glückliche; Templetons Eitelkeit war verwundet; seine immer barsche Stimmung ward gänzlich verbittert; er rächte sich an dem Trotz der Alice mit tausend kleinen Tyranneien; Alice litt vielleicht in jenen Jahren des Ranges und Reichthums ohne Murren mehr, wie in ihren Wanderungen ohne Dach, als sie noch Liebe im Herzen und ihr Kind auf dem Arme trug.

Eveline ward zur Erbin des Reichthums bestimmt; aber der neue Pairstitel! Konnte er nicht Reichthum und Titel vereinigen und die Pairskrone auf jene jugendliche Stirn setzen! Dieß hatte ihn bewogen, die Verbindung mit Lumley zu suchen. Auf seinem Todtenbett enthüllte er seinem erstaunten und erschreckten Neffen nicht das Geheimniß der Alice, sondern das der Mary Westbrook und ihrer Tochter, um die scheinbar ungerechte Uebertragung des Vermögens in andere Hände zu entschuldigen und die Ursache der von ihm gesuchten Verbindung anzugeben.

So lange der Gatte lebte, wenn man ihn einen Gatten nennen durfte, schien Alice in ihrem Busen den Kummer, so tief, stark und leidenschaftlich er auch war, um das verlorene Kind, das Kind ihres unvergessenen Geliebten, zu begraben, welchem sie von Anfang bis zu Ende unter solchen Prüfungen und unter so neuen Banden treu gewesen war. Als sie wieder frei war, flog ihr Herz zu dem fernen kleinen Grabe zurück. Deßhalb reiste sie jährlich nach Brook-Green; deßhalb kaufte sie das kleine Landgut, welches durch die Erinnerung an die Tochter geheiligt war. Dort hatte sie das gebrechliche Kind auf den Rasenplatz hinausgetragen, damit es die sanfte Luft im Mondschein athme; dort, in dieser Kammer hatte sie gewacht, gehofft und gebetet, und zuletzt Verzweiflung empfunden; dort ruhte der geliebte Staub auf jenem ruhigen Kirchhofe!

Aber Alice war nicht einmal selbstsüchtig in ihrem heiligsten Gefühl; sie unterließ es, den ersten Wunsch ihres Herzens zu befriedigen, bis Evelinens Erziehung genügend vorgerückt war, ihren damaligen Wohnort zu verlassen; alsdann begab sie sich, zum Entzücken Aubrey's (welcher in Eveline eine schönere, edlere und reinere Eleonore sah), an den einsamen Ort, welcher für sie auf der ganzen Erde am wenigsten einsam war.

Jetzt kehrte ihr das Bildniß ihres Jugendgeliebten, welches sie während ihrer Ehe wenigstens zu verbannen gesucht hatte, bei Zeiten wieder und erfüllte sie mit den einzigen Hoffnungen, welche das Grab noch nicht auf den Himmel übertragen hatte. Wann sie ihre Geschichte Aubrey erzählte, oder mit Frau Leslie sich unterhielt, deren Freundschaft sie noch stets fortsetzte, so glaubten Beide, daß dieser unbekannte und wandernde Butler, welcher in einer Kunst, deren höheren Grad allein Musiker vom Fache gewöhnlich erlangen, so sehr geschickt war, von mittlerem oder vielleicht niedrigem Stande sein müsse. O träfe sie ihn jetzt, wo sie frei und reich warf, wieder! Wäre seine Liebe noch nicht gänzlich entschwunden und würde er an ihre sonderbare und bleibende Treue glauben, so ließe sich jetzt seine Untreue vergeben und in den Wohlthaten vergessen, die sie ihm erweisen könne!

Aber, arme Alice, wie soll ihn der Zufall zu jenem abgelegenen Dorfe führen? Das, wußte sie nicht, aber ein Etwas flüsterte ihr oft zu: Du wirst wiederum jene Augen erschauen und jene Stimme vernehmen. Du wirst weinend an seiner Brust ihm sagen, wie du sein Kind geliebt hast! Konnte er sie vergessen haben? Konnte nicht ein neues Band von ihm geschlossen sein? Vermochte er die Lieblichkeit nie wechselnder Neigung in jenen bleichen und nachdenklichen Zügen zu lesen? Ach! Wenn wir die innigste Liebe hegen, so können wir uns nur mit Schwierigkeit einbilden, daß unsere Liebe nicht erwidert wird.

Der Leser ist mit den Abenteuern der Frau Elton bekannt, der einzigen, welche um die geheime Ehe Templetons mit Evelinens Mutter wußte. Durch sonderbares Verhängniß wirkte gerade die selbstsüchtige und charakteristische Sorglosigkeit Vargrave's darauf hin, daß jene in Burleigh blieb und zur Enthüllung seines schurkischen Betruges beitrug. Als jene nach England zurückkehrte, hatte sie sich nach Herrn Templeton erkundigt und seine zweite Ehe, seine Erhebung zur Pairie unter dem Titel Lord Vargrave sowie seinen Tod erfahren; sie hatte keine Ansprüche auf seine Wittwe oder Familie; sie konnte das unglückliche Kind, welches sein Eigenthum ererbt haben müßte, nur für todt halten.

Als sie Eveline zuerst sah, erschrak sie bei deren Aehnlichkeit mit der unglücklichen Mutter. Allein der ihr fremde Name Cameron, die von Maltravers erhaltene Nachricht, daß Evelinens Mutter noch am Leben sei, verscheuchte ihre Vermuthung; obgleich die Aehnlichkeit ihr bei Zeiten immer wieder auffiel, hegte sie Zweifel und erkundigte sich nicht weiter. Ihre eigene Krankheit ward immer stärker, und ihre Schmerzen nahmen alle ihre Sinne in Anspruch.

Nun langte die Nachricht von dem Verlöbniß des Maltravers und der Miß Cameron kurz vor des Ersteren Ankunft in der Grafschaft an – Nachrichten gelangen nur sehr langsam vom Festlande in unsere Provinzen. Natürlich veranlaßte die Nachricht Geschwätz unter den Bauern Die Krankenwärterin hinterbrachte der Frau Elton die Nachricht, welche sich sogleich des Namens und der Aehnlichkeit Miß Camerons mit der unglücklichen Mary Westbrook erinnerte.

»Und,« sagte die schwatzende Krankenwärterin, »sie war mit einem vornehmen Lord, wie man erzählt, verlobt, und gab denselben für den Gutsherrn auf – mit einem großen Lord vom Hofe, der bei Pfarrer Merton gewesen ist – mit Lord Vargrave!«

»Lord Vargrave!« rief Frau Elton aus, indem sie sich des Titels erinnerte, zu welchem Herr Templeton erhoben wurde.

»Ja, und dann erzählt man, wie der verstorbene Lord Miß Cameron all sein Geld, eine solche Masse vermacht habe, obgleich sie noch ein Kind war, mit Uebergehung seines Neffen, des gegenwärtigen Lord, wobei er aber zu verstehen gab, daß sie sich heirathen sollten, wenn sie großjährig würde. Sie wollte ihn aber nicht mehr, als sie den Gutsherrn gesehen hatte. Und wahrhaftig, der Gutsherr ist auch der schönste Mann in der Grafschaft.«

»Halt, halt!« sagte Frau Elton schwach, »der verstorbene Lord hinterließ all sein Vermögen der Miß Cameron? Und die wäre nicht sein Kind? Ich errathe das Räthsel, ich verstehe Alles! Mein Pflegekind!« murmelte sie, indem sie sich hinwegwandte, »wie hätte ich mich jemals über die Aehnlichkeit täuschen können!«

Die Aufregung über die Entdeckung, welche sie gemacht zu haben glaubte, ihre Freude bei dem Gedanken, jenes Kind, welches sie wie ein eigenes liebte, sei am Leben und habe seine Rechte erlangt, steigerte die Krankheit der Frau Elton; Maltravers kam gerade noch zur rechten Zeit, um ihr Bekenntniß anzuhören, welches sie natürlich vor einem Manne abzulegen wünschte, welcher ihr Wohlthäter und auch nach ihrer Meinung, der zukünftige Gatte ihres Pflegkindes war. Er wurde von Hoffnung und Freude bei der feierlichen Ueberzeugung über die Wahrheit ihrer Angaben bewegt. Welch eine Last wurde von seiner Seele genommen, wenn Eveline nicht seine Tochter war, sogar im Fall sie nicht seine Braut mehr wäre. Er eilte nach Brook-Green; indem er sich fürchtete vor einer plötzlichen Zusammenkunft mit Alice, gedachte er Aubreys. In der von ihm gesuchten Unterredung wurde Alles, oder wenigstens sehr viel aufgeklärt. Er erkannte die vorher überdachte und geschickt angelegte Schurkerei Lord Vargrave's. Und Alice, – ihre Erzählung, ihre Leiden, ihre unbesiegliche Liebe! – Wie würde er sie wiedersehen?


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