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Fünftes Kapitel.

»Unsere Thaten unsere Engel sind; – ob gut
   oder böse,
Gleiten diese Schatten unsers Schicksals leise
   neben uns dahin.«

      John Fletcher

 

Am nächsten Morgen stand der Wagen vor Maltravers' Thür, um ihn fortzuführen; es galt ihm einerlei, wohin. Wo konnte er der Erinnerung entfliehen? Er hatte gerade den Brief an Eveline abgesandt, einen Brief, der absichtlich verfaßt war, um die von ihm noch vor Kurzem so zärtlich gehegte Neigung, den letzten Reiz seines Lebens, zu zerstören. Er wartete nur noch auf Vargrave, welchen er hatte bitten lassen, und welcher bei der Aufforderung schnell herbeieilte.

Als Lumley ankam, erschrak er über die Veränderung, welche eine einzige Nacht im Aeußern von Maltravers hervorgerufen hatte; er ward jedoch erleichtert, als er ihn in ruhiger Selbstbeherrschung fand.

»Vargrave,« sagte Maltravers, »von welcher Art auch unsere Entfremdung in früherer Zeit sein mag, von jetzt an bin ich Ihnen zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet; dieß furchtbare Geheimniß bildet zwischen uns ein unauflösliches Band. Habe ich Sie richtig verstanden, so weiß weder Alice, noch ein anderes lebendes Wesen außer Ihnen, daß ich, Ernst Maltravers, der schuldige Gegenstand von Alicens erster Liebe bin; benehmen Sie der Seele von Alice die Besorgniß, daß der Mann, welcher sie verführte, noch lebt er, wird nicht mehr lange leben! Die Zeit und die Art der Darlegung überlasse ich Ihrem Urtheil und Ihrem Scharfsinn. Kommen wir jetzt auf Eveline.«

Hier gab Maltravers im Allgemeinen den Inhalt des von ihm geschriebenen Briefes an. Vargrave horchte nachdenklich.

»Maltravers,« sagte er, »es ist recht, daß Sie zuerst die Wirkung Ihres Briefes versuchen. Wird diese jedoch verfehlt und dient jener allein dazu, die Einbildungskraft zu entflammen und das Interesse zu erregen – sollte Eveline fortfahren, Sie zu lieben, nagt diese Liebe an ihr, untergräbt sie Gesundheit und Geist, würde jene Liebe sie vernichten –«

Maltravers seufzte, und Vargrave fuhr fort: »Ich sage dieß nicht, um Sie zu verwunden, sondern um gegen alle Umstände Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Auch ich habe die Nacht mit Ueberlegung zugebracht, was am besten in solchem Falle zu thun ist, und ich habe folgenden Plan gebildet. Lassen Sie uns im Nothfall die Wahrheit sagen, indem wir derselben allein die Schande rauben. Ja, ja, hören Sie zu! Warum sollen wir nicht sagen, daß Sie unter jenem erborgten Namen und in der Romantik der ersten Jugend Alice kannten und liebten (obgleich in aller Unschuld und Ehre) – Ihr zartes Alter, die Verschiedenheit des Ranges verbot Ihre Verbindung; der Alice Vater entdeckte Ihren heimlichen Briefwechsel, entfernte sie plötzlich aus der Gegend und vertilgte jede Spur Ihrer Nachforschung. Sie Beide verloren die Spur von einander. Ein Jedes glaubte, das Andere sei todt. Alice ward von ihrem Vater gezwungen, Herrn Cameron zu heirathen. Nach dem Tode desselben zwang sie Armuth und Liebe zu ihrem einzigen Kinde, die Bewerbung meines Oheims anzunehmen. Jetzt wissen Sie Alles; Sie haben erfahren, daß Eveline die Tochter Ihrer ersten Liebe ist – die Tochter einer Dame, welche Sie noch stets anbetet und deren Leben die Erinnerung an Sie so manche Jahre verbittert hat. Eveline selbst wird alle Bedenklichkeiten einer zartfühlenden Seele begreifen; Eveline selbst wird vor dem Gedanken zurückschaudern, die Tochter könne als Rivalin der Mutter auftreten. Sie wird begreifen, weßhalb Sie geflohen sind; sie wird mit Ihren Kämpfen Mitgefühl hegen; sie wird sich an die immerwährende Schwermuth von Alice erinnern; sie wird hoffen, daß die alte Liebe erneut und aller Gram vertilgt werde. Großmuth und Pflicht werden sie gleicherweise drängen, ihre Neigung zu überwinden. Später, wenn die Zeit Sie Beide getröstet hat, können Vater und Kind sich mit solchen Gefühlen wiedersehen, daß sie sich dieselben Beide unbedenklich gestehen dürfen.«

Maltravers schwieg einige Minuten; jetzt sagte er plötzlich:

»Vargrave. Sie lieben Eveline wirklich? Sie lieben noch stets? Ihre theuerste Sorgfalt muß ihr Wohl sein.«

»So ist es!«

»Alsdann muß ich Ihrem Urtheil mich anheimgeben; ich kann keinen anderen Vertrauten haben; ich selbst bin kein passender Richter; meine Seele ist verdunkelt; Sie mögen Recht haben, ich glaube dieß.«

»Noch ein Wort! Sie verweigert vielleicht meiner Erzählung den Glauben; wenn ich keine Unterstützung erhalte; schreiben Sie für mich ein Billet; worin Sie erklären, daß mir das Recht ertheilt ist, jenes Geheimniß zu entdecken, und daß dieß allein mir bekannt ist. Ich will keinen andern Gebrauch davon machen, wenn ich es nicht für durchaus nothwendig halte.«

Maltravers schrieb hastig und mechanisch einige Worte von dem, was Lumley ihm eingegeben hatte. »Ich will Sie,« sagte er zu Vargrave, als er ihm das Billet gab, »über den Ort in Kenntniß sehen, wo ich Zuflucht suchen werde; Sie werden mir mittheilen, was ich zu hören fürchte und wünsche; sagen Sie aber Niemandem den Zufluchtsort der Verzweiflung!«

Es glänzte wirklich eine Thräne in Vargrave's kalten Augen, die erste nach vielen Jahren. Er hielt unentschlossen an, alsdann trat er vor, hielt wieder, murmelte etwas vor sich hin und wandte sich hinweg. Er begann wieder nach einer Pause:

»Was nun die Welt betrifft; so muß, da Ihr Verlöbniß öffentlich wurde; auch ein öffentlicher Bericht über die Abbrechung erfunden werden. Man hat Sie stets als stolzen Mann betrachtet; wir wollen sagen, der Grund, weßhalb das Verlöbniß abgebrochen wurde, sei die niedrige Geburt des Vaters und der Mutter gewesen.«

Vargrave sprach zu einem Tauben; was kümmerte sich Maltravers um die Welt? Er eilte aus dem Zimmer, warf sich in den Wagen und ließ Vargrave zurück, um selbst zu hoffen und zu sterben!


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