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Das Wahrzeichen zu Tübingen.

An einem Augustmorgen des Jahres 1420 war die Stadt Tübingen in großer Aufregung. Im Wankheimer Wald hatten Schnitter, die morgens aufs Feld gegangen waren, einen toten Handwerksburschen aufgefunden, der offenbar erschlagen und dann ausgeraubt worden war. Als man den Ermordeten unter dem Zulauf vieler Leute in die Stadt gebracht und auf dem Pfleghof zur Schau ausgestellt hatte, fand es sich, daß er des Metzgers Aigler Sohn zu Tübingen war, der von langer Wanderschaft in das elterliche Haus hatte zurückkehren wollen. Ein großes rotes Muttermal, das er auf der linken Wange trug, hatte seine Erkennung herbeigeführt.

Unter den zugelaufenen Leuten befand sich auch ein Wirt aus Pfullingen. Er zeigte alsbald dem Gericht an, daß der Ermordete vorigen Tages in seiner Wirtschaft zu Pfullingen gewesen sei und dort mit einem andern, aus Reutlingen gebürtigen Handwerksgesellen gezecht habe. Um die Mittagszeit seien beide friedlich miteinander weitergegangen, Reutlingen zu.

Sofort schickte man einen Boten nach Reutlingen, der mit Hilfe des dortigen Gerichts den genannten Handwerksgesellen ausfindig machen sollte. Er war auch bald gefunden; denn es hatte um die in Frage stehende Zeit nur ein Handwerksbursche das Tor passiert, nämlich des Gerbers Hans Laiblin Sohn, der nach 10jähriger Wanderschaft wieder heimgekommen war. Man fand auch in seiner Stube das Felleisen des ermordeten Aigler und unversehrt darin die Kleider, das Wanderbuch und 34 Gulden bares Geld.

Wer junge Laiblin erschrak nicht wenig, als er den Tod seines Wandergesellen erfuhr. Er ging sofort auf das Rathaus und erzählte dort folgendes: »Auf meiner Heimreise traf ich in Basel durch Zufall mit Aigler zusammen. Da wir denselben Weg hatten, so taten wir uns zusammen und wanderten miteinander durch das Oberland und über die Alb bis nach Pfullingen. Hier wollten wir scheiden. Zuvor aber kehrten wir noch einmal ein und tranken beim Abschiedswein Bruderschaft miteinander. Aigler fiel der Abschied sehr schwer. Er bat mich, ihn noch ein Stück Wegs zu begleiten, und da ich nichts zu versäumen hatte, tat ich ihm den Gefallen; denn auch mir war Aigler lieb und wert geworden. Da er den Wein etwas im Kopf spürte, so nahm ich sein Felleisen auf den Rücken. Wir ließen den Jörgenberg rechter Hand liegen und gingen über den Wald Ohmenhausen und Tübingen zu. Da es sehr heiß war, kehrten wir unterwegs noch einmal ein, so daß es mit der Zeit Abend wurde. Bei Jettenburg begegnete uns ein Fuhrwerk, das nach Reutlingen fuhr und mich aufsitzen ließ. Schnell nahm ich von Aigler Abschied und schwang mich auf den Wagen. Erst unterwegs bemerkte ich zu meinem Verdruß, daß ich Aiglers Felleisen noch auf dem Rücken hatte. Ich nahm es mit in mein Haus, um es ihm gelegentlich wieder zuzustellen. Es ist von mir nicht geöffnet worden, und ich habe auch vor niemanden verschwiegen, wem es gehört und wie ich dazu gekommen bin.«

Das Gericht ließ den von Laiblin genannten Fuhrmann holen, und da fand es sich, daß Laiblin die Wahrheit gesagt hatte. Als vermöglicher Leute Kind hatte er auch gar nicht nötig, sich Geld durch einen Raubmord zu verschaffen. Sein Ruf war von Jugend auf tadellos, nicht weniger waren es die Zeugnisse, die er aus der Fremde mitgebracht hatte. Da zudem der Ermordete weit weg von dem Ort, wo Laiblin sich von ihm getrennt hatte, aufgefunden worden war, so lag gar kein Grund vor, Laiblin für den Mörder zu halten. Das Reutlinger Gericht sprach ihn deshalb vom Verdachte frei und teilte dies auch dem Gericht in Tübingen mit.

Mit diesem Ausgang der Sache waren aber die Tübinger nicht einverstanden. Es wurde von ihnen allgemein Laiblin für den Mörder gehalten, um so mehr als ein anderer Täter nicht ermittelt werden konnte. Man glaubte, die Reutlinger wollten den Schuldigen der gerechten Strafe entziehen, da er einer angesehenen Bürgersfamilie angehörte und mit Rats- und Gerichtsherren nahe verwandt war. Auch beim Tübinger Gericht war man dieser Ansicht, und es verlangte die Auslieferung des Mörders nach Tübingen.

Reutlingen war damals eine freie Reichsstadt. Sein Gericht war kaiserlich und völlig unabhängig von dem württembergischen Gericht in Tübingen. Das Ansinnen der Tübinger Richter entrüstete daher die Reutlinger sehr. Denn sie hielten viel auf ihre Freiheiten und betrachteten das Verlangen der Tübinger als einen Eingriff in ihre Gerechtsame. Mit Nachdruck wurde daher Laiblins Freispruch aufrecht erhalten. Von Laiblins Unschuld war man in Reutlingen so fest überzeugt, daß eines der schönsten Mädchen der Stadt, die Tochter eines angesehenen Ratsherrn, nicht das geringste Bedenken trug, Laiblins Frau zu werden.

Dieses Glück sollte aber Laiblins Verderben werden. Ein junger Färber, der schon lange um das Mädchen geworben hatte, sah sich nun verschmäht und sann auf Rache. Er erbot sich heimlich, Laiblin den Tübingern in die Hände zu liefern. Die Tübinger waren dessen froh und sandten 3 Männer mit einem Wagen nach Reutlingen, auf dem eine große Kiste unter Strohbündeln verborgen war. Das Stroh wurde zum Schein in der Stadt feilgeboten, dafür aber soviel verlangt, daß es keinen Käufer fand. Man ließ es über Nacht stehen und zwar gerade vor dem Haus, in welchem der Gerber Laiblin wohnte. Als alles schlief, schlichen sich die Männer in Laiblins Stube, steckten dem Schlafenden ein Tuch in den Mund, daß er nicht schreien konnte, trugen ihn gebunden die Stiege hinab und warfen ihn in die unter dem Stroh verborgene Kiste. Damit er sich nicht rühren und keinen Lärm machen konnte, legte sich einer der Männer auf ihn. Mit Tagesanbruch fuhren sie mit ihm zum Metzinger Tor hinaus, umfuhren draußen die Stadt und eilten dann schleunigst Tübingen zu, wo sie ihren Fang in der Burg abgaben.

Diese Entführung des Laiblin war so still und unauffällig vor sich gegangen, daß niemand im Hause und niemand in der Nachbarschaft etwas davon bemerkt hatte. Erst im Laufe des andern Tages fiel seine Abwesenheit auf, doch ohne daß man etwas Schlimmes ahnte. Als er jedoch auch in den nächsten Tagen nicht zum Vorschein kam, wurde seinem Verbleib nachgeforscht. Aber alle Bemühungen waren erfolglos, denn niemand wußte etwas von dem Verschwundenen zu sagen.

Unterdessen saß Laiblin im feuchten und dunkeln Burgverließ zu Tübingen. Er hatte nichts als sein Hemd zur Decke; denn man hatte ihn so in den Turm gesetzt, wie man ihn aus dem Bett gerissen hatte. Seine Nahrung war Brot, sein Trank schlechtes Wasser, das ihm jeden andern Tag hinabgehaspelt wurde. Erst nach geraumer Zeit wurde er heraufgezogen und zum Verhör geführt. Er war fast erblindet und konnte sich vor Hunger und Fieberfrost kaum aufrecht halten. Trotz aller Ermahnung der Richter, die schlimme Tat einzugestehen, sagte er nichts anderes aus, als was er in Reutlingen schon gesagt hatte. Vorerst kam er wieder in den Turm. Als er aber am andern Tag ebenfalls kein Geständnis machte, wurde er in die Folterkammer gebracht, hier wurden ihm die schrecklichsten Qualen angetan, bis er endlich, um Ruhe zu bekommen, den Willen der Richter tat und sich als den Mörder des Aigler bekannte. Obgleich er sofort nach überstandener Folter sein Geständnis widerrief, so änderte dies sein Los doch nicht mehr. Er wurde als Raubmörder zum Tode verurteilt und am selben Tage noch mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht. Sein Leib wurde von den Henkern aufs Rad geflochten.

Diese übereilte Hinrichtung hatte darin seinen Grund, daß die Richter die Einsprache der Reutlinger fürchteten. Denn die Kunde von der Gerichtsverhandlung gegen Laiblin war schnell nach Reutlingen gedrungen, und Rat und Gericht hatten beschlossen, alles daran zu setzen, Laiblin den Händen der Tübinger zu entreißen. Umso größer war nun die Entrüstung, als Laiblins Hinrichtung in der Stadt bekannt wurde. Man schwur den Tübingern Rache, und lange Zeit war die Feindschaft gegen sie so groß, daß sich kein Tübinger mehr in die Mauern der Stadt Reutlingen wagen durfte. Der Verräter Laiblins aber mußte flüchten und soll in der Fremde in Elend und Kummer gestorben sein. Mehrere Jahre waren seitdem vergangen. Da begab es sich, daß in der Stadt Sulz ein Mann im Sterben lag. Eine furchtbare Krankheit hatte ihn darniedergeworfen, und eine schwere Sündenschuld lastete auf seiner Seele. Einem Priester, der gekommen war, ihm die Beichte abzunehmen, gestand er folgendes: »Es war zur Erntezeit des Jahres 1420, da kam ich nach Rottenburg, um als Seifensieder für mein Geschäft Unschlitt einzukaufen. In einem Wirtshaus fand ich lustige Gesellen, die mich zu Wein und Spiel einluden. An sie verlor ich mein ganzes Geld, mehr als 60 Gulden. Als ich nun nachts durch den Wankheimer Wald schritt, voll Verdruß und Ärger über meinen Verlust, kam hinter mir drein ein Handwerksbursche. Der Wein mußte ihn heiter gemacht haben, denn er sang mit lauter Stimme. Ich wartete auf ihn, und da ich sah, daß er einen ledernen Geldgurt um den Leib trug, so fuhr der Satan in mich. Ich erschlug ihn rücklings mit meinem Stock und raubte ihn aus. Der Verdacht fiel auf einen Reutlinger Handwerksgesellen, der dann auch in Tübingen mit dem Schwert hingerichtet worden ist. Mir selbst brachte das Geld keinen Gewinn. Mein Geschäft ging von Tag zu Tag rückwärts, und endlich befiel mich diese furchtbare Krankheit, an der ich nun schon mehr als 2 Jahre hinsieche. Mein Blut ist zu Eiter geworden, und mein Atem ist stinkend, so daß mich Mensch und Tier verabscheut. Laßt mir ein Tränklein geben, ehrwürdiger Vater, daß mein Leib sterben kann. Für meine Seele aber gibt's keine Rettung, sie ist ewig verloren.« Nachdem der Elende die letzte Ölung empfangen hatte, starb er. Der Priester teilte das furchtbare Geständnis dem Gericht in Sulz mit. Dieses ließ den Entseelten auf das Rad flechten, den Vögeln zur Speise. Auch wurde ein Bericht über den Vorfall aufgenommen und je eine Abschrift davon nach Reutlingen und Tübingen gesandt. Großes Aufsehen entstand darüber in beiden Städten. Die Tübinger bereuten jetzt schmerzlich ihr voreiliges Gericht und baten die Reutlinger um Vergebung. Sie versprachen alles zu tun, um den unseligen Zwist aus der Welt zu schaffen, und die Reutlinger waren verständig genug, die dargebotene Hand zum Frieden nicht auszuschlagen. So kam zwischen den beiden feindlichen Städten eine Versöhnung zustande. Die Tübinger ließen die Gebeine des gerichteten Laiblin an der Kirchhofmauer ausgraben und ehrenvoll in geweihter Erde bestatten. Und da man in dieser Zeit anfing, die St. Georgenkirche in Tübingen zu bauen, so stifteten die Tübinger Gerichtsherren einen gemeißelten Stein zum ewigen Angedenken an diese Begebenheit und zur Warnung vor voreiligem Todesspruch. Dieser Stein ist an der Ostseite der St. Georgenkirche eingefügt und zeigt – wie in einer runden Fensteröffnung – das Bild eines aufs Rad geflochtenen Mannes. Er ist heute noch zu sehen, und wer nach Tübingen kommt, dem zeigt man auch dieses Wahrzeichen aus alter Zeit.

(Nach Munder von K. Rommel-R.)


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