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Die Sibylle auf der Teck

Zu den bekanntesten Bergen der schwäbischen Alb gehört die Teck bei Kirchheim. Sie springt als scharfe Bergecke gegen das Neckarland vor, weithin sichtbar und die Gegend beherrschend. Auf ihrem felsgestirnten Haupte stand vor uralten Zeiten ein Heiligtum unserer germanischen Vorfahren. Nächtliche Opferfeuer flammten empor, und heilige Priesterinnen flehten die Götter an um Schutz und Segen. Später erhob sich auf dem Berg die stolze Burg der Herzoge von der Teck, deren Gedächtnis noch im Wappen und Titel des württembergischen Königshauses erhalten ist.

Unter dem Felsen, worauf einst die Teckburg stand, befindet sich eine merkwürdige Höhle. Man nennt sie das Sibyllenloch. Von ihrem Eingang aus hat man eine schöne Aussicht auf den weiten Westen und die untergehende Sonne. Ihr Inneres ist aus bräunlichem Gestein schön und hoch gewölbt. Mehrstimmiger Gesang hallt herrlich in ihr, und dem Knall einer Pistole antwortet ein mächtiger Widerhall aus der Tiefe des Berges. Nach kurzer Zeit verengt sich die Höhle, so daß, wer weiter will, auf dem Bauche kriechen muß. Nach der Volkssage soll sich einst die Höhle zwei Stunden weit, bis Gutenberg, hingezogen haben; denn eine Ente, die man einmal hineingesetzt, sei bei Gutenberg in der Lauter wieder zum Vorschein gekommen. Angestellte Grabungen haben dies nicht bestätigt; aber die Knochen mächtiger ausgestorbener Raubtiere, des Höhlenbären und Höhlenlöwen, haben sie zutage gefördert.

In dieser Höhle soll ein großer Schatz verborgen sein, über dessen Herkunft uns nachfolgende Sage Aufschluß gibt.

Vor uralter Zeit wohnte tief drinnen im Teckberge eine wunderbare Frau, die von den Leuten die Sibylle genannt wurde. Die Höhle war der Eingang zu ihrer unterirdischen Wohnung, die wohl schöner und herrlicher gewesen sein mag als das Schloß eines Königs. Denn die Sibylle war unermeßlich reich an Silber, Gold und Edelgestein. Na sie auch fromm und gut war, hatten ihr die Götter die Zaubermacht und die Gabe der Weissagung verliehen. Oft fuhr sie auf ihrem goldenen Wagen, der von zwei großen Katzen (andere sagen: Pferde) gezogen wurde, ins Land hinaus, besuchte die Leute und tat ihnen Gutes, wo sie nur konnte. Von ihren Prophezeiungen ist noch manches im Gedächtnis des Volkes erhalten geblieben. So von einem schrecklichen Kriege, der einst am Rhein, in der Gegend von Köln, ausbrechen werde. »Da werden die Männer im

Lande so selten werden, daß sieben Weiber um einen Krüppel, den sie alle zum Ehemann haben möchten, sich schlagen werden. Zuerst werden die Deutschen unterliegen, denn auch der Türke wird wider uns streiten. Endlich aber werden sie den Sieg davontragen, denn

Zu Köln am Rhein
Soll des Türken sein Untergang sein.«

Während dieses ganzen großen Krieges, der furchtbarer sein wird, als je ein Krieg gewesen ist, wird es »drei Stunden um Teck herum« sicher sein.

Die Sibylle hatte drei Söhne. Diesen gefiel es, als sie groß geworden waren, nicht mehr im unterirdischen Schloß der Mutter. Sie bauten sich eine feste Burg auf den nahen Wielandstein, dessen Felsen steil über das Lenninger Tal sich erhebt. Aber bald gerieten sie miteinander in Zank und Streit, denn der jüngste Bruder, ein tückischer und händelsüchtiger Mensch, tat der Mutter viel Leid an und hetzte auch die beiden anderen Brüder fortwährend gegeneinander auf. Mit der Zeit wurde die Feindschaft so groß, daß die drei Brüder nicht einmal das Wasser mehr aus derselben Quelle trinken mochten, sondern es aus drei verschiedenen Brunnen schöpften. Der eine ließ es aus dem Wasserfall bei der Torfgrube holen, der andere aus dem Brunnen im Rinnenbuckel und der dritte aus der Lauter. Der Magd, die das Wasser holen mußte, gab der böse Bruder jedesmal einen Wolf als Begleiter mit. Zuletzt bauten sich zwei Brüder eigene Schlösser, der eine auf dem Teckberge, der andere aber, der schlimmste, auf dem Diepoldstein. Hier führte er ein arges Räuberleben und nahm seiner Mutter und seinen Brüdern weg, was er nur konnte. Man hieß ihn deshalb »den Rauber«, und diesen Namen hat sein Schloß behalten bis auf den heutigen Tag. Auch sagt man heute noch im Lenninger Tal von Brüdern, die immer in Händel und Feindschaft miteinander leben: »Das sind Kerle wie die drei Brüder auf'm Schlößle.«

Der Zwist der ungeratenen Söhne machte der Mutter großen Kummer. Es gefiel ihr nicht mehr im Lande, und sie beschloß auszuwandern. Eines Tages bestieg sie ihren wunderbaren Wagen, fuhr auf ihm den steilen Teckberg hinab, dann über den Kahlenberg und den Götzenbrühl den Dettinger Teich hinunter, durch die Lauter hindurch und die Weinberge empor zum Reigelwald. Dort erhob sie sich mit ihrem Wagen in die Luft, fuhr über die Wälder hinweg und ließ sich endlich auf einem Wiesenplatz zwischen Linsenhofen und Beuren nieder. Hier verliert sich ihre Spur, und niemand hat sie seitdem mehr gesehen. Der Wiesenplatz aber heißt immer noch die »Sibyllenkappel«. Er galt bis in das vorige Jahrhundert hinein als heilige Stätte, und die Wiesen waren steuerfrei. Der Weg von der Höhle bis zum Reigelwald hat noch den Namen »Sibyllenfahrt« und ist wunderbarerweise deutlich zu erkennen. Alle die Stellen nämlich, über welche der Wagen und die Füße der Zugtiere hinweggegangen sind, haben den Sommer hindurch ein satteres Grün und behalten es auch im Spätjahre 14 Tage länger als die anderen. Auch die Frucht, die hier wächst, hat ein brauneres Gelb und schmeckt ganz vortrefflich.

Ihre Schätze hat die Sibylle in der Höhle zurückgelassen. Sie liegen in einem Koffer oder einer Truhe verwahrt und werden von einem schwarzen Pudel bewacht. Wer sie hebt, wird unermeßlich reich. Viele Leute haben es schon versucht, doch ohne Erfolg. In den Kriegszeiten des 16. Jahrhunderts wagten sich ihretwegen sogar spanische Soldaten in die Höhle hinein. Sie brachten aber nichts mit heraus als blutig zerschundene Hände und zerrissene Kleider.

(Nach Schönhuth und Meier von K. Rommel-R.)


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