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Das steinerne Weib bei Wiesensteig

Auf dem Bergzug über dem Städtchen Wiesensteig im obern Tal des Filsflüßchens schaut aus dunklem Wald das graue Felsgebilde eines steingewordenen Weibes hervor. Hoch über die grünen Wipfel der Bäume ragt der Riesenleib empor. Nach dem Herzen greift die Rechte, gleich als ob das Weib bei der Verwandlung dorten heißen Schmerz empfunden hätte, und der Fuß greift aus zum Schritt, als wäre er zur Flucht gewendet. Von diesem Steinbild geht die Sage, daß dereinst an diesem Ort eine finstere, tückische Stiefmutter ihre Kinder in den Wald gelockt und in den gähnenden Abgrund gestoßen habe; denn ihr Geiz mißgönnte den Kindern das tägliche Brot. Bei jedem winzigen Stücklein fluchte sie: »Rangen! wäret ihr doch tot, ihr esset mich noch arm, ihr Vielfraße!« Sie hielt die Kinder knapp, also daß sie schier Hungers starben. Doch der Tod säumte der unnatürlichen Mutter zu lange. Da beschloß sie, selber Hand an die Kleinen zu legen, und dort droben im Walde, fernab den Menschen, zerschmetterte sie die Kinder an rauher Felsenwand, drückte ihnen ein Blumensträußlein in die kleinen, blutigen Hände und warf sie hinab in die klüftigen Felsen. Darauf wollte sie eilends vom Schauplatz ihrer grausigen Tat fliehen. Aber wie sie sich auch recket und dehnt, sie kommt nicht von der Stelle. Eisige Kälte durchschauert ihren Leib; sie greift ans Herz – wie kalt, wie kalt! Sie will rufen, die Zunge ist verdorrt, und es ist, als würfen aus den Felsen tausend unsichtbare Hände unablässig Kalk und Sand auf die erstarrten Glieder. Da entflieht ihre Seele und fährt zur Hölle, und seit der Zeit blickt das Weib mit starren Augen nach dem lichten Himmel, dessen Gnade sie verloren, und die Sonne sendet ihre wärmenden Strahlen hernieder auf den Felsenleib; aber kein Strahl des Lebens dringt in den kalten, toten Stein.

(C. Schnerring.)


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