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Geislinger Sagen

I.

Der Geiselstein

Bei Geislingen an der Fils ragt aus grünen Wäldern der Geiselstein empor. Auf ihm soll einst ein Graf gewohnt haben, dem der Tod seiner heißgeliebten Frau so nahe ging, daß er an keinem ritterlichen Vergnügen mehr Gefallen fand. Sein Gewaffen hing unbenutzt an der Wand, und zwei Söhnlein, die ihm seine Gemahlin hinterlassen hatte, waren seine einzige Freude. In steter Sorge um ihr Leben hütete er sie wie eine Henne ihre Küchlein und ließ sie Tag und Nacht nicht aus den Augen.

Einmal jagte der Herzog des Schwabenlandes mit seinem Gefolge im Filsgau. Er lud auch den Grafen zur Jagd ein. Aus Rücksicht gegen den Herzog mochte er die Einladung nicht ablehnen; doch folgte er nur ungern dem Rufe. Vor seinem Auszug schärfte er aber den Knaben ein, die Burg ja nicht zu verlassen und in ihrem Gemache zu spielen, bis er zurückgekommen sei. Als aber der Vater fort war und die Sonne so herrlich durchs Fenster schien, hielten es die Knaben in der engen und dumpfen Burgstube nicht länger aus. Sie gingen vor das Tor, und da es ihnen im Freien so wohl gefiel, den Burgpfad hinab ins Tal. Dort war ein großer Weiher, in dem der Graf Karpfen und Hechte hielt. Ein kleiner Kahn schaukelte lustig darauf hin und her und schien die Knaben zum Einsteigen einzuladen. Die Kleinen setzten sich auch in das Boot und ruderten auf den See hinaus. Das Spiel machte ihnen ein solches Vergnügen, daß sie sich ganz vergaßen und nicht bemerkten, wie sich der Himmel nach und nach mit dunklen Wolken überzog. Plötzlich brach das Wetter los. Grelle Blitze zuckten nieder, und der Donner rollte mächtig durch Berg und Tal. Vom Sturmwind wurden die Wellen des Sees geweckt, daß sie hoch aufschlugen und den Kahn mit den jammernden Kindern wie einen Ball auf- und abwarfen.

Der Vater hatte unterdessen mit dem Herzog gejagt. Aber sein Herz war nicht beim frohen Treiben; es war daheim bei seinen Söhnen. Als das Gewitter am Himmel heraufzog, erfaßte ihn große Angst. Ohne Urlaub zu nehmen, verließ er das herzogliche Gefolge und jagte mit verhängten Zügeln dem Geiselstein zu. Das Ungewitter war schon ausgebrochen, als er die Burg erreichte. Rasch eilte er die Wendeltreppe hinauf, um nach den Knaben zu sehen. Aber wie erschrak er, als er die Stube leer fand. Er rief, aber niemand gab ihm Antwort. Er suchte das ganze Schloß nach den Kindern aus, doch nirgends war eine Spur von ihnen zu entdecken. Draußen aber heulte der Sturm und grollte der Donner immer ärger, und schwere Regengüsse und Hagelschauer schlugen klatschend an die Fensterläden. In namenloser Angst lief nun der Graf vor das Tor hinaus auf den Felsen, von wo aus man das Tal überblicken konnte. Und was mußte er da sehen? Im Weiher unten hatten die Wellen den Kahn mit Wasser gefüllt, und eben versank er mit den beiden Knaben in die dunkle Tiefe. Ein gellender Schrei drang an des Grafen Ohr: das einzige, was er noch von seinen Lieblingen zu erhaschen vermochte.

Bei dem grausigen Anblick erstarrte dem Grafen das Blut in den Adern. Er wurde zu Stein, wie rings die Felsen um ihn her. So sitzt er seit Hunderten von Jahren auf dem Geiselstein, immer das Antlitz der Stelle zugekehrt, wo die Wellen sein Liebstes auf Erden verschlungen haben. Steigst du einmal hinauf zum Geiselstein, um dort die Ringwälle der alten germanischen Volksburg zu besichtigen und den herrlichen Blick ins Geislinger Tal zu genießen, so laß dir auch den Grafen zeigen, der aus Kummer über den Tod seiner Söhne zu Stein geworden ist. (Nach einem Gedicht Hohbachs von K. Rommel-R.)


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