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Der Reutlinger Sturmbock 1247.

Wie der Volksmund den Ulmern den Beinamen »Spatzen« gegeben hat, so den Reutlingern den Beinamen »Hischhönle«. Der Grund hierfür liegt neben anderem wohl hauptsächlich darin, daß die Reutlinger, wie überhaupt die Leute der dortigen Gegend, bei manchen Wörtern den »R« nicht sprechen und also statt Hirschhörnle »Hischhönle«, statt Laternle »Latenle« sagen. Das »Hischhönle mit 'm Latenle« gilt zur Zeit als das Wahrzeichen der Reutlinger, und es zeugt von ihrem guten Humor, daß sie selber dieses Zeichen als Anhänger im Knopfloch oder an der Uhrkette tragen.

Aber wenn die Reutlinger auch Humor haben und viel Spaß ertragen können, so lassen sie doch nicht mit sich spassen. Mancher Tübinger Student hat dies zu seinem Leidwesen schon am eigenen Leibe erfahren, und in früherer Zeit konnten die Ritter auf der Achalm ein böses Liedlein davon singen. Es war im Jahre 1377, da erlitten sie, geführt von dem Grafen Ulrich von Württemberg, auf den Wiesen vor der Stadt eine so empfindliche Niederlage durch die Reutlinger »Gerber und Färber«, daß über 60 Ritter erschlagen auf dem Schlachtfeld lagen. Ihre Namen wurden »in Farben bunt und klar« auf den Fenstern des Reutlinger Rathauses abgebildet (vgl. das Gedicht Uhlands: Die Schlacht bei Reutlingen). Leider ist dieses Wahrzeichen alten Reutlinger Heldenmutes schon längst zugrunde gegangen. Denn als im September 1726 fast die ganze Stadt durch einen schrecklichen Brand vernichtet wurde, da verbrannten mit dem alten Rathaus auch die gemalten Fenster.

Damals sank auch ein anderes Wahrzeichen der Reutlinger Tapferkeit in Asche: der berühmte Reutlinger Sturmbock, der als Schaustück außen am Rathaus aufgehängt war. Dieser Sturmbock war kein Bock mit 4 Füßen, spitzen Hörnern und kurzem Schwanze, sondern ein langer und mit Eisen beschlagener Balken, wie man sie in alter Zeit bei der Belagerung einer Stadt oder Burg brauchte, um die Mauern damit einzustoßen. Je größer so ein Bock war, desto mächtiger war auch der Anprall und die Wirkung. Der Reutlinger Sturmbock war so lang wie das Rathaus. Ja, er soll ursprünglich noch länger gewesen sein und genau der Schifflänge der Marienkirche entsprochen haben. Denn der Sturmbock hatte zuerst seinen Platz in der Marienkirche, diesem Kleinod Reutlingens, von dem man sagt, kein Geringerer als Erwin von Steinbach, der berühmte Erbauer des Straßburger Münsters, habe den Plan dazu gemacht. Über den Grund seiner Entfernung aus der Kirche wird berichtet, daß Kaiser Maximilian I einst gespottet habe, die Reutlinger hätten ihre Kirche zu einem Bockstall gemacht. Dieser Spott tat den Reutlingern so weh, daß sie allsofort den Sturmbock aus der Kirche nahmen. Doch mußten sie, um dies fertig zu bringen, ein Loch in die Mauer schlagen und durch dieses den Bock schieben. Noch jetzt zeigt ein Stein an der Kirche die Stelle an, wo dies geschah. Und doch war der Sturmbock in der Marienkirche an seinem rechten Platz gewesen. Denn der Sage nach stand er mit ihrer Erbauung im innigsten Zusammenhang. Soll er doch den Maßstab zu ihr gegeben haben, ja sogar der Anlaß zu ihrem Bau gewesen sein, wie folgendes Gedicht erzählt.

Der Landgraf von Thüringen, Raspe genannt,
Will Herrscher sein über das deutsche Land.
Verführt von dem Papst und der Klerisei
Bricht seinem Kaiser er schnöde die Treu'
Und trägt nun den Aufruhr mit frevelnder Hand
Nach Süden durchs friedliche Schwabenland.
Viel' schwäbische Ritter, Grafen und Herrn
Verlassen der Staufer sinkenden Stern.
Doch Reutlingens Bürger voll Treue und Mut,
Sie wagen für Kaiser Friedrich ihr Blut,
Der hatte einst ihre Rechte gemehrt,
Die offene Stätte mit Mauern bewehrt.
Herr Raspe vernimmt es in bitterem Grimm,
Den Reutlingern schwört er mit drohender Stimm':
»Ich beuge euch euren störrischen Sinn,
So wahr ich der Landgraf von Thüringen bin!«
Bald zieht er mit Rossen und Mannen herbei,
Schon tobet um Reutlingen Kampf und Geschrei,
Ein mächtiger Sturmbock schafft bittere Pein,
Erschüttert die Mauern und bricht das Gestein.
Und bald in der Stadt sich erhebet die Not,
Es mangelt das Wasser, es fehlet das Brot.
Auch viele der Bürger, so tapfer, so gut,
Sie liegen erschlagen in ihrem Blut.
Schon wanken die Türme, schon weichet das Tor,
Schon höhnen die Feinde zur Mauer empor:
»Nur wenige Stunden noch, Reutlingen fein,
Dann wirst du im Sturme genommen sein!«

Da treten, eh' wieder das Ringen beginnt,
Die Reutlinger Bürger mit Weib und mit Kind
Auf offenem Markte zusammen und knien
In heißem Gebet vor die Himmlischen hin.
Sie flehen: »Maria, du Königin rein.
Erbarme dich unser in Not und in Pein,
Wir wollen dir bauen mit williger Hand
Die schönste der Kirchen im Schwabenland!«
Die Nacht senkt sich nieder auf Stadt und auf Heer,
Es lösen im Traum sich die Sorgen so schwer.
Bald dämmert am Himmel der Morgen empor,
Da tönet den Feinden der Schrecken ins Ohr:
Es hebt sich ums Lager her Schwertergeklirr
Und stampfender Hufschlag und Stimmengewirr:
Der staufische Heerbann hat still in der Nacht
Den bangenden Reutlingern Hilfe gebracht.
Und eh' sich kann ordnen der feindliche Troß,
Da würgen im Lager schon Schwert und Geschoß:
Heinz Raspe, der Landgraf, mit wenig' Mann
Durch eilige Flucht nur sich retten kann.
Nicht lange, da bringet ein Bote die Kund':
Der Landgraf empfing eine tödliche Wund',
Ins Auge traf ihn ein scharfes Geschoß;
Man führet ihn heimwärts zum fernen Schloß.

Die Reutlinger hören mit Freuden die Mär,
Des endlichen Friedens sich're Gewähr,
Und eilen frohlockend in jubelndem Chor
Durch Gassen und Gäßchen, hinaus vor das Tor.
Dort steht noch, der ihnen die Ruhe geraubt,
Der mächtige Sturmbock mit eisernem Haupt,
Nun zieh'n sie den argen, den Bringer der Pein,
Im lauten Triumphe zum Tore hinein.
Und was sie versprochen in Jammer und Graus,
Zum Danke zu bauen ein Gotteshaus,
Sie halten's und bringen viel Gaben herbei,
Daß herrlich und schön ihre Kirche sei.
Dann senden sie Boten ins Elsässer Land,
Dort wohnet ein Meister, gar wohl bekannt,
Herr Erwin von Steinbach, er machet den Plan,
Die Länge vom Schiff gibt der Sturmbock an.
Bald wachsen die Bogen, schon wölbt sich der Bau,
Es ragen die Türme ins himmlische Blau.
Maria, der guten, die Hilfe gewährt'.
Hat Reutlingen dankbar die Kirche verehrt.

(K. Rommel, Reutlingen.)

 


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