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XXXIV

Allmählich formten sich aus den Worten des Vaters die Einzelheiten der letzten Ereignisse. Er und Ants, sowie eine Anzahl anderer Verhafteter, wurden von einem Ort zum andern geführt, unter der ständigen Drohung, daß ein jeder, der einen Fluchtversuch wagen sollte, sofort niedergeschossen werden würde. Am Morgen des zweiten Feiertages waren die Gefangenen auf ein benachbartes Gut geschafft worden, wo über sie zu Gericht gesessen werden sollte. Unterwegs, auf einer niedriger gelegenen Viehweide, hätten die Schlitten gehalten und die Soldaten begonnen, am Wege Weidenruten zu schneiden, wobei auch die jüngeren verhafteten Männer, darunter auch Ants, hätten behilflich sein müssen, von einem Soldaten mit gefälltem Gewehr bewacht. Anfangs habe niemand recht erfaßt, was dieses Rutenschneiden zu bedeuten habe, aber dann sei es plötzlich allen klargeworden: diese Ruten sollten zum Prügeln Verwendung finden. Die Gutsbesitzer wollten den Bauern die alte gute Zeit ins Gedächtnis rufen, als die Herren ihre Sklaven noch nach Belieben tagaus tagein im Stalle durchwalken lassen konnten. Aber ungeachtet dieser Erkenntnis wurde das Rutenschneiden fortgesetzt. Der auf dem Schlitten dabeisitzende Wargamäe-Andres war ob dieser grausigen Erkenntnis so tief in Gedanken versunken, daß ihm sogar die Pfeife erlosch, obgleich er die sonst sogar im Schlafe zu schmauchen verstand. Plötzlich ließen mehrere Schüsse ihn zusammenfahren. Wieviel Schüsse gefallen seien, das wußte er nicht, aber als das Schießen aufhörte, wurde jemand zwischen den Büschen aus dem Schnee auf seinen Schlitten gehoben. Erst jetzt erfaßte Andres, was eigentlich vorgegangen sei. Aber Ants lebte noch, lebte noch eine ganze Weile, während sie weiterfuhren.

»Mögen sie prügeln, wen sie wollen, mich werden sie nicht mehr prügeln«, habe Ants gesagt.

»Vielleicht prügeln sie dich auch noch verwundet, mein Sohn«, habe er, Andres, geantwortet.

»Mögen sie mich als Leiche prügeln, wenn sie wollen«, habe Ants gesagt und sei dann verstummt.

So sei man schweigend eine Weile dahingefahren. Andres habe auf die rote Spur gestarrt, die sich hinter dem Schlitten herzog, ganz gedankenlos darauf hingestarrt, als verstehe er nicht, was diese Spur zu bedeuten habe. Aber dann habe plötzlich der neben ihm sitzende Wachtsoldat etwas gerufen, und als Andres, der zum Schutze gegen den scharfen Gegenwind schräg im Schlitten gesessen, sich umgewandt, habe er gesehen, daß Ants' Gesicht seltsam weiß gewesen, die Augen starr verglast. Nun habe er alles verstanden, habe sich umgedreht, die Pfeife aus dem Munde genommen, die Fausthandschuhe abgezogen und dem toten Ants die Augen zugedrückt. Und nun erst habe er Ants' letzte Worte richtig verstanden: nur um den Tod zu finden, hatte er einen Fluchtversuch gemacht, denn daß hier keine Aussicht auf Rettung bestand, das mußte er ja doch wohl einsehen, war doch die ganze Umgebung flach und das kümmerliche Buschwerk entlaubt.

Daß Ants auf diesem Moor seinen Tod fand, das schien Andres in gewissem Sinne ganz in der Ordnung. War der Tote doch hier in die Hütung gegangen, hatte hier gejagt, Beeren gesammelt, Heu gemäht und Gräben gestochen, über das Moor war er zur Kirche und zum Laden gefahren, zum Jahrmarkt, zur Mühle und in die Stadt, über das Moor hatte er Holz und Reisig gefahren, Kartoffeln und Korn, warum sollte er da nicht schließlich auf dem Moor sterben, wenn es so Gottes Wille war. Und selbst wenn er dort auf dem Moor am Leben geblieben wäre, so wäre er doch später auf dem Gute bei der Gerichtssitzung dem Tode nicht entronnen. Denn wie hätte man wohl jemandem das Leben schenken sollen, der die Republik Wargamäe gegründet hatte, deren Präsident er selbst war. Er, Andres, habe sich wohl bemüht, den Herren zu erläutern, daß seines Wissens auf Wargamäe keine Republik bestehen könne, insofern den halben Hügel er, Andres Paas, innehabe, den anderen halben Hügel Pearu Murakas, beides treue Untertanen des russischen Zaren. Aber ihm sei ein Papier unter die Nase geschoben und gefragt worden, ob er zu lesen verstehe, worauf er geantwortet habe, jawohl, das verstehe er, wenn er sich die Brille aufsetze. Aber das ließ sich leider nicht machen, denn die Brille war zu Hause geblieben. Aber nun wollte er von den Töchtern erfahren, was das für eine Geschichte sei mit der Republik Wargamäe, und wer dieses Papier, das man ihm unter die Nase geschoben, geschrieben habe?

Über die Angelegenheiten der Republik Wargamäe konnte Tiiu am besten Auskunft geben, die darüber zu singen wußte wie eine Lerche. Sie nämlich war die Haupthilfskraft gewesen, die Ants bei der Ausarbeitung der Verfassung dieses jungen Staatswesens zur Hand gegangen war. Mit diesem letzteren wäre im übrigen alles in bester Ordnung gewesen, abgesehen von dem bedenklichen Umstande, daß diese Republik fürs erste bloß einen einzigen Bürger zählte, nämlich den Präsidenten, aber darüber hoffte man mit der Zeit hinwegzukommen. Die Einnahmen der Republik sollten im wesentlichen aus dem Verkauf von Krebsen, Wild, Nüssen und Beeren beschafft werden.

»Und für diese Kinderei habe ich Prügel bekommen müssen, als sei ich noch ein Fronknecht des Guts«, sagte Andres nun düster.

Diese Worte hatten auf die Kinder eine geradezu niederschmetternde Wirkung: das eine schrie leise auf, das andere machte eine unbestimmte Bewegung, das dritte stampfte mit dem Fuße auf. Indrek wurde es plötzlich schwarz vor den Augen, und er mußte mit der Hand an der warmen Wand eine Stütze suchen, um nicht zu schwanken oder gar umzusinken. Es wollte ihm scheinen, daß es leichter gewesen wäre, vom Tode des Vaters zu hören als von dieser Prügelstrafe.

»Und dich, Indrek, versprachen sie niederzuschießen oder aufzuknüpfen, wenn sie dich erwischen«, mischte sich der Vater in die Gefühlsausbrüche der Kinder. »Sie erklärten, du und deinesgleichen seien die Wurzel allen Übels, die von Grund auf auszurotten sei.«

Erst später kam der Vater eingehender auf diese Sache zurück, denn in Gegenwart der Kinder hatte er nicht alles berichten wollen.

»Das sage ich nur dir, Indrek«, sagte Andres um die Mitternacht, als sie beide gingen, den Pferden zur Nacht Heu aufzuschütten. Der Vater stand in seinem Leibpelz vornübergebeugt da, in den verkrümmten, steifen Fingern der Linken die Laterne haltend, deren schwacher Schein nur die allernächste Umgebung matt erleuchtete, die Schweife und Kruppen der Pferde, während die Heu mahlenden Mäuler im Dunkeln lagen. Die Luft erfüllte ein aus Dünger- und Heuduft gemischter Geruch, der Indrek längst vergangene Zeiten ins Gedächtnis rief.

»Du bist mehr herumgekommen im Leben und hast doch so manches gelernt; da müßtest du mich alten Menschen doch wohl auch verstehen können«, meinte der Vater. »Als ich so mit dem toten Ants dahinfuhr, der Soldat mit seinem Gewehr neben uns, und die Blutspur immer noch hinter uns hersickernd, da betete ich in meinem Herzen zu Gott und sprach: Lieber Gott! Strafe mich wie du willst, wenn ich gesündigt habe, aber errette mich von der Rutenstrafe. Mein Vater ist Hofbauer gewesen, und ich bin Hofbauer, darum laß mich lieber sterben wie meinen Sohn Ants, aber laß nicht zu, daß die Gutsbesitzer meinen Leib und ehrlichen Namen besudeln. Erhöre mich um deines Sohnes Jesu Christi, unseres Heilandes willen. Erhöre mich, Herr, der du mich auf Herz und Nieren geprüft hast und meine Gedanken kennst und siehst, daß, wenn du mir nicht hilfst, ich in Verzweiflung fallen muß, denn diese Schande ist größer, als ich sie zu tragen vermag, um meiner Freunde und Bekannten und meines alten Widerparts Pearu willen. So redete ich in meinem Herzen zu Gott und flehte ihn mit Tränen in den Augen an, was sogar der neben mir sitzende Soldat sehen konnte. Er dachte natürlich, ich weinte um meinen Sohn, aber nein, ich flehte bloß zu Gott, daß er mich vor den Prügeln erretten möge, wenn das ihr böser Ratschluß über mich alten Mann sein sollte. Aber als die Herren sich nicht an meine Bitte kehrten und selbst der Pastor mich deswegen vermahnte, daß ich mein Herz immer noch vor Gott verhärtete, da fühlte ich, daß es in meinem Herzen um Gott schlimm bestellt sei. Und ich sagte dem Pastor: Ehrwürdiger Seelsorger, wenn du wirklich willst, daß ich Gott den Herrn, den Vater unseres Heilandes Jesu Christi, nicht verleugne, dann geh zu den Herren und bitte sie in meinem Namen, daß, wenn ich wirklich etwas so Böses getan haben sollte, daß ich Strafe verdient habe, man mich lieber totschießen möge wie meinen Sohn, aber nicht mich alten Mann durchprügeln, denn das brächte mich in die furchtbarste Seelennot. So sagte ich dem Pastor, aber der wollte mich nicht hören, und so wurde ich denn mit Gewalt auf die Bank gestreckt und geprügelt. Verstehst du, mein Sohn, wenn man mir tausend Streiche gegeben hätte, wenn auch nur hundert, so wäre mir das leichter gewesen zu ertragen als diese fünfzehn. Denn ich sage, diese fünfzehn waren nicht als Strafe gedacht, sondern um mich alten Mann zu schänden, meinen unbescholtenen Namen zu verunglimpfen, meine Ehre zu besudeln. Denn was könnte das wohl für ein Verbrechen sein, für das ich nur fünfzehn Rutenstreiche verdient hätte? Bin ich denn irgendein frecher Bengel von Hüterbursche oder ein kleiner Pferdedieb? Sie sagten, ich hätte meine Kinder nicht richtig erzogen. Aber ihr alle, und die ganze Welt seid meine Zeugen, daß ich euch im Namen Gottes auf den Weg der Wahrheit und des Rechts gelenkt habe. Vielleicht legen die Herren aber mir gerade das zur Last, denn ihnen und allen anderen gefällt ja augenscheinlich Pearu mit seinen Brüdern, die im Kruge sitzen, viel bester. Aber wo ist Gott dann? Wo ist er, daß er diese krummen Wege der Welt nicht sieht? Wo ist er, daß er die Stimme des Menschen nicht hört, der in seiner Seelennot im Namen von Wahrheit und Recht zu ihm schreit? Warum läßt er das geschehen und erhört nicht das Gebet des Gerechten? Die Worte meines Herzens und meine Tränen sind zum Spott geworden, das empfand ich deutlich, als ich wieder neben meinem toten Sohn auf dem Schlitten saß, und die Stute mit schlaffen Zügeln, die Ohren gespitzt, munter dahintrabte, denn sie eilte heim. Aber ich wollte nicht mehr heim, wollte nicht mehr nach Wargamäe, wo ich gelebt und meine Kinder im Namen Gottes erzogen habe. Glaub mir, mein Sohn Indrek, das erstemal in meinem Leben mußte ich an die Menschen denken, die selbst Hand an sich legen, und es fehlte nicht viel, so hätte ich die Zügel an den Schlittenkorb gebunden und die Stute mit dem toten Ants heimgeschickt und wäre selbst unter den ersten besten Baum gegangen und hätte mich dort erhängt. Aber zur rechten Zeit fielen mir noch die Worte meines seligen Vaters ein, die er immer von Selbstmördern zu sagen pflegte, und dadurch gelang es mir, mich wieder zu fassen. Der Mensch ist nicht sein eigener Hund, daß er sich mit eigener Hand den Strick um den Hals schlingen sollte – so pflegte der Vater zu sagen, und ich fragte mich, ob ich denn etwa mein eigener Hund sei? Und dann fiel mir Juß ein, der sich hinter der Kate an der Fichte erhängte, die ich dann ausgerodet habe, daß nichts von ihr übrigbleiben möge, und an ihre Stelle habe ich eine Eberesche gepflanzt, die jeden Herbst voll roter, süßer Beeren hängt. Wo ist derjenige, fragte ich mich, der mit dem Baum, an dessen Ast ich hänge, dasselbe täte? Und ich wußte, daß es solch einen Menschen nicht gebe, und daß dieser Baum weiterwachsen würde, ein unheimlicher Spuk und Kinderschreck. Aber als ich dann auf das flache Gutsmoor hinauskam, wo ich das Pferd in den Weihnachtsfeiertagen so oft habe gehörig ausgreifen lassen, so daß einem ein kühler Hauch übers Herz fuhr, da packte mich solch eine Verzweiflung, daß ich laut zu weinen begann – so furchtbar verlassen fühlte ich mich von Gott und den Menschen. Und ich sagte mir: Wargamäe-Andres, du hast dein ganzes Leben hindurch unnütz gearbeitet, du hast Töchter und Söhne gezeugt, aber sie sind dir keine Hilfe, denn die Töchter heiraten, und die Söhne morden dir der Krieg oder die Herren. Du hast zwei Frauen gehabt, die Mütter deiner Kinder, aber die eine liegt schon lange unter dem Rasen, und die andere steht stöhnend an der Schwelle des Grabes. Du selbst hast auf die Sauberkeit deines Herzens und Namens achtgegeben, aber nun ist dein Name für ewig beschmutzt, während Pearu neben dir glänzt wie ein Lamm Christi. Immer hast du zu Gott gebetet, wenn du dich daran machtest, Gräben zu stechen, Steine zu sprengen oder das Moor zu brücken, aber deine Gräben sinken zusammen, an Stelle der gesprengten Steine steigen neue aus dem Boden, und die Moorbrücken versacken im Schlamm. Pearu hat nie das Gebetbuch aufgeschlagen, als gäbe es Gott und seinen eingeborenen Sohn, unsern Heiland, überhaupt nicht, und doch geht es ihm besser als mir. Ihm hat man keinen Sohn ermordet, sein Weib lebt, und sein eigener Leib und Name sind durch keine Prügel geschändet. So sprach ich zu mir neben Ants Leiche, und als ich auf meine Gemarkung hinauskam, da verfluchte ich in meinem Herzen alle Gebete und allen Glauben, verfluchte Wahrheit und Recht, denen ich mein Leben lang nachgetrachtet, und die ich euch, meine Kinder, gelehrt, verfluchte Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist und meine Hoffnung auf die ewige Seligkeit, denn das alles ist hohle Sinnlosigkeit gewesen, hier auf Wargamäe inmitten der Sümpfe und Moore. Ich verschwor mich, meinen Fuß nie mehr über die Schwelle einer Kirche zu setzen, und ich bedauerte es, von den Soldaten die Harfe Zions, die Bibel und die übrigen Gebetbücher zurückerbeten zu haben. Nun will ich sie aus dem Schrank hinauswerfen und sie in der Kramkammer unter der Decke aufs Regal schieben, wo sie mit Gerümpel und Ungeziefer, die der Mensch als bösen Feind seines Leibes und Geistes verfolgt, den Platz teilen mögen.

So will ich tun. Aber du, Indrek, bist das einzige meiner Kinder, das wissen möge, warum dein Vater so handelt, als sei er ein Zöllner und Heide. Und wenn du und die andern mich deswegen verurteilen wollen, dann tut das immerzu, mein Herz erweicht ihr nicht. Wenn ich euch zu schlecht bin und nicht zu eurem Vater tauge, so laßt mich allein hier auf Wargamäe, und ich will allein hier leben wie ein Wolf. Und wenn Gott der Herr selbst mit seinem Sohne, unserm Heilande, kommen wollte, mich zurechtweisen, so würde ich doch meinen Sinn nicht ändern, sondern ihm sagen: Herr der Heerscharen, der du in der Feuersäule und Wolkensäule erscheinst, hebe dich hinweg von Wargamäe, denn ich habe dich zusammen mit deinem Sohne verflucht und will mein Angesicht nicht eher wieder dir zuwenden, bevor du mir ein Zeichen gegeben, daß du ein Gott der Wahrheit und des Rechts bist. Gehe mit deinem Sohne und dem Heiligen Geiste dahin, wo die Wahrheit verfälscht, und das Recht gebeugt wird, auf Wargamäe sollst du keine bleibende Stätte haben, geh zu denen, die Unschuldige morden und die Ehrlichen schänden. So würde ich zu Gott selbst und seinem Sohne, unserm Heilande, sprechen. Und wenn Jesus Christus mich deswegen unerlöst lassen sollte und Gott mich in die Hölle verstoßen, dann würde ich mich getrost darein fügen, denn irgendwo muß sich doch ein Mensch finden, der für Wahrheit und Recht eintritt, und sei es vor Gott selbst.«

So redete der Wargamäe-Andres zu seinem Sohne Indrek, als sie in tiefer Nacht im Stall bei den Pferden standen, die man mit Behagen ihr Heu knuspern hörte. Indrek wurde es sehr schwer ums Herz, als er seinem alten Vater zuhörte, denn ihn plagte die Ahnung, als trüge er, Indrek, letzten Endes die Schuld an allem Unglück, das Wargamäe betroffen. Er mit seinen Briefen, Zeitungen und Büchern hatte all das verschuldet, was den Vater zur Verzweiflung getrieben, ihm seinen einzigen Trost geraubt hatte. Wie eine verdorrte Kiefer steht er nun mit seinen verkrümmten Fingern, seinen gebogenen Knien, seinem zusammengesunkenen Leibe inmitten Wargamäes da und lauscht dem ununterbrochenen Stöhnen nebenan, das Indrek durch Mark und Bein geht, nun noch schlimmer als bisher. Zuweilen klingt es gar nicht wie richtiges Stöhnen, sondern wie das Greinen eines Kindes oder das Winseln eines Hundes, wie Frau Kuusik es von ihrem Hündchen berichtet hatte. Dort hatte Wiljasoo die Diagnose auf Revolution gestellt und ein Chloroformpflaster empfohlen. Aber wer könnte sagen, warum die Wargamäe-Mari so stöhnt, greint und winselt, als sei sie zugleich Mensch, Kind und Hund? Wo fände sich der, der auch ihre Schmerzen linderte, ihrer Qual ein Ende bereitete?

Jedesmal, wenn sie aus der durch die Pulver bewirkten Betäubung wieder zu sich kommt und die Schmerzen sich wieder melden, kennt sie nur eine Bitte, fleht sie nur um eines – daß der Tod sich doch endlich ihrer erbarmen möge. Aber der Tod hört sie nicht. Mari verflucht nicht ihren Gott, denn sie weiß, daß sie kein Recht hat zu hoffen, daß Gott sie erhöre, sie betet nur auf gut Glück, nur um überhaupt zu beten.

Seit Indrek mit seinen Pulvern nach Wargamäe gekommen ist, bittet sie auch ihn, inbrünstiger noch als Gott, daß er sie von ihren Qualen erlösen möge, für immer erlösen. Mari verlangt von Indrek immer mehr und mehr Pulver, so viel Pulver, daß ihr ganz und gar geholfen sei. Wenn Indrek dann beginnt ihr zu erklären, daß er ihr mehr nicht geben dürfe, weil es dann leicht zu viel werden könne, erfaßt die Mutter anfangs nicht sofort den Sinn dieser Erklärung. Aber bald erahnt sie ihn und scheint sich für den Augenblick dabei zu beruhigen.

Als die Mutter in der Nacht, aus ihrer Betäubung zu sich kommend, das Schnarchen des Vaters hörte, sagte sie zu Indrek, der an ihrem Bette wachte:

»Der Vater ist daheim.«

»Er schläft«, versetzte Indrek.

»Und Ants?«

»Er schläft in der Vorderstube.«

»Gott gebe es«, seufzte die Mutter, als zweifle sie an Indreks Worten. Und als dann die Schmerzen aufs neue zunahmen, flüsterte sie:

»Indrek, ich will sterben.«

»Soll ich dir wieder eingeben?« fragte Indrek.

»Ja«, sagte die Mutter, »gib mir mehr.«

»Ja, Mutter«, sagte Indrek.

»Gib mir so viel, daß ich genug habe«, bettelte die Mutter, und als Indrek nichts darauf erwiderte, fragte sie: »Hast du mich gehört, Indrek?«

»Ja, Mutter, ich habe gehört«, sagte Indrek und näherte sich mit dem Pulver der Kranken. Aber diese wollte es nicht nehmen, wollte vielmehr vorher wissen, wieviel es sei. Ihre erloschenen Augen starrten aus den schwarzen Augenhöhlen mit grausiger Eindringlichkeit Indrek an, und ihre trockenen, welken Lippen flüsterten inbrünstig: »Indrek, ich will sterben! Ich will zu Juß, damit doch sein Maß endlich einmal voll werde! Hilf mir, Indrek, wenn du vermagst! Hilf mir aus meiner Sünde! Hilf mir um der Schmerzen in der Seite willen! Hilf mir um dieses Steines willen, den du auf dem Kartoffelfelde auf mich warfst! Hilf mir, du mein Sündenkind! ...«

»Mutter, verstehst du auch, was du redest?« fragte Indrek.

»Oh, das verstehe ich schon, mein Sohn, das verstehe ich schon.«

»Aber das kann ich doch nicht, Mutter«, sagte Indrek.

»Du mußt können. Ich ertrage es nicht mehr.«

»Warte, Mutter, warte nur noch einen Tag, der Tod wird kommen«, sagte Indrek.

»Der Tod kommt nicht«, erwiderte die Mutter.

Indrek, der am Bette der Mutter saß, sank vornüber, faßte die knochige Hand, bedeckte sie mit Küssen und flehte inständig:

»Erbarm dich meiner, Mutter, erbarm dich deines Kindes.«

»Nein, Indrek«, versetzte die Mutter. »Auf Wargamäe gibt es kein Erbarmen, auf Wargamäe heißt es: du mußt!«

Indrek hielt noch eine Weile die knochige Hand der Mutter, in der Hoffnung, diese würde vielleicht andern Sinnes werden, aber als sie immerzu weiter bettelte, den Sohn mit geradezu wahnsinniger Inbrunst beschwörend, erhob dieser sich schließlich vom Bett und sagte:

»Ich will es tun, Mutter, um dieses Steines willen. Damit du nicht mehr zu leiden brauchst. Ich will mit vollem Bewußtsein ein furchtbares Verbrechen begehen.«

Das waren seine Worte. Aber seine Gedanken waren ganz woanders. Sie umfaßten gleichsam die halbe Welt, und es zuckte in ihnen die ertrunkene Kristi auf, ein keuchender Hund, dem die rosa Zunge aus dem Halse hängt, ein junger Mann, dessen Hand er krampfhaft drückt, ein gebeugter alter Mann, der sagt: getan ist nur, was für andere getan wird, ein langer, dürrer alter Herr mit schiefverzogenem Munde, dem man eine Generalsuniform anziehen will, ein Soldat ohne Beine, der von der Mandschurei redet, eine Leiche auf einem Schlitten unter einer rotbunten, durchlöcherten Decke, der Vater mit seinen verkrümmten Händen, alles verfluchend, was ihm bis heute die sicherste Stütze seines Lebens gewesen, ein junges Mädchen vor einem langen, schwarzen Tisch, die ihn um sein Herzblut bittet, ein Jüngling, der bei einem Lichtstümpfchen seinen Gott ermordet, ein barhäuptiger alter Mann im Schneesturm, der ihm fünf russische Rubel zum Feldzug gegen Gott in die Tasche stopft, Indrek weiß selbst kaum, was alles in diesem Augenblick durch sein Hirn zieht, aber er hat die Empfindung, als rechne er mit dem Leben ab und überdies noch in Windeseile, denn die Mutter wartet, indem sie murmelt:

»Tu es, wenn du mich lieb hast!«

»Ich habe dich lieb, Mutter«, versicherte Indrek, und es wollte ihm scheinen, als ob er erst eben die Größe seiner Liebe und das Gewicht seiner weit zurückliegenden Taten ganz ermessen könne, die ihn quälten wie ein böser Fluch.

»Dann ist alles gut, Indrek«, sagte die Mutter mit seltsamer Klarheit, »denn Wargamäe braucht mehr Liebe als Verhütung des Bösen.«

Die Mutter schwieg. Auch Indrek sprach kein Wort mehr, als müsse er alle seine Kräfte für sein Vorhaben zusammenraffen, das sonst unausgeführt bleiben könne. Erst als er die Rechte unter das Kissen der Mutter schob, um ihren Kopf zu heben, während er mit der Linken die Arznei an ihre Lippen führte, sagte er:

»Nun, Mutter.«

»In Jesu Namen, mein Sohn«, erwiderte die Wargamäe-Mari, indem sie die Arznei aus Indreks Hand empfing.

* * *


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