Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Eines Tages trat Kristi an Indrek mit einer wichtigen, geheimen Mission heran: Indrek sollte einen geheimen Aufruf verfassen, der sich an das Proletariat und an alle, alle, alle richtete. Dieser Aufruf sollte dann vervielfältigt und unter der Hand verbreitet, nach Möglichkeit auch an den Straßenecken angeklebt, vor allem aber den Fabrikarbeitern in die Hände gespielt werden.

Indrek war übrigens nicht der einzige, der diesen Aufruf abfassen sollte, vielmehr waren damit auch noch andere beschäftigt. Es war eine Art Konkurrenz, wer seine Sache am besten machen würde.

»Und denken Sie bloß, wenn wir am besten abschneiden!« rief Kristi, vor freudiger Erregung in die Hände klatschend.

Aber wie sich dann später herausstellte, wurde überhaupt keinem Aufruf die Palme zuerkannt, vielmehr stellte die endgültig angenommene Fassung, die vervielfältigt und verbreitet wurde, ein Mosaik aus den verschiedenen eingelaufenen Arbeiten dar, als das wahre Evangelium mit allen seinen Fehlern und Tugenden.

Kristi bereitete dieses Verfahren eine große Enttäuschung, zumal sie sich bei der Abfassung des Aufrufs gemeinsam mit Indrek die blutigste Mühe gegeben hatte, am besten abzuschneiden. Hatte sie sich doch zur Vereinfachung des Verfahrens sozusagen, das heißt im Interesse einer ungestörten fruchtbaren Zusammenarbeit mit Indrek eine kleine Kriegslist ausgedacht, die denn auch das wertvollste und wichtigste Ergebnis dieses Aufrufs in ihrem Privatleben blieb. Es wäre sicherlich aufgefallen, wenn Kristi Indreks Zimmer durch die Korridortüre allzu häufig aufgesucht hätte, da die Augen der Nachbarn jedem Passanten hier stets neugierig auflauerten, indem auch hier die von alters her geheiligte Sitte herrschte, daß jeder auf jeden aufzupassen habe, wie Kristi das schon von Jugend auf gewohnt war, denn so oft sie auch mit den Eltern die Wohnung gewechselt hatte, immer und überall war das so gehalten worden. Und eben darum hatte sie sich nun auch ihre kleine Kriegslist ausgedacht. Allen Hausbewohnern war es bekannt, daß Madame Lohk zwar ein Zimmer an einen jungen Menschen vermietet habe, die Verbindungstür zwischen diesem Zimmer und der übrigen Wohnung indessen verschlossen, und diese Türe überdies von beiden Seiten mit schweren Schränken verstellt sei. Dagegen ließ sich nichts sagen, das verhielt sich, wie es sich gehört. Und auf diese Schränke eben stützte Kristi ihre Kriegslist, indem sie vor allem den Versuch machte, ob sie imstande sei, die eine Ecke des in ihrem Zimmer vor Indreks Türe stehenden Schrankes ein wenig von der Tür abzurücken. Als ihr das gelungen war, klopfte sie leise an die Tür, ganz leise, damit nur Indrek es hören solle. Und als dieser daraufhin, seine Nase hinter den vor seiner Türe postierten Schrank schiebend, entdeckte, daß diese Tür ein wenig offenstand und im Spalt Kristis blitzende Augen und Zähne erblickte, erfaßte er sogleich, worum es ging und rückte nun auch eine Ecke seines Schrankes von der Türe ab, so daß diese weiter geöffnet werden, und Kristi sich seitlich ins Zimmer schieben konnte, indem sie flüsterte: »Sehen Sie, wie gut es ist, daß ich so dünn bin wie eine Fledermaus.« Auch Indrek wollte es gefallen, daß Kristi schlank wie eine Fledermaus durch einen Spalt in sein Zimmer schlüpfte, und sie sich nun gemeinsam an die Ausarbeitung des Aufrufs machen konnten, sobald nur die Eltern das Haus verließen.

Aber nun war diese ganze Kriegslist vergeblich gewesen: ihre Arbeit hatte nicht die Anerkennung gefunden, die sie erhofft, sondern war mit anderen zu einem Brei zusammengerührt worden. Indrek und Kristi hatten wohl ihre ganze revolutionäre Begeisterung, ihren ganzen Freiheitsdrang in diesen Aufruf gegossen, aber das hatte anscheinend nicht genügt. Immer wieder hatte Indrek seine Arbeit abschließen wollen, in der Meinung, nun sei sie vollendet, aber jedesmal, wenn er sie Kristi vorlas, hatte diese in heller Begeisterung ausgerufen: »Das ist himmlisch, das ist wundervoll, aber könnte man es nicht vielleicht noch schöner, noch eindrucksvoller sagen. Versuchen Sie es doch!« Und Indrek versuchte es dann immer wieder und wurde, von der Begeisterung seiner Mitarbeiterin hingerissen, in seiner Ausdrucksweise in der Tat immer schwungvoller und flammender. Hatte er beispielsweise anfangs gesagt: »Die Arbeiter, die Kämpfer für die Freiheit, schmachten zur Freude der Reichen und zum Vergnügen der Gendarmen und Spitzel in ihren feuchten Gefängnissen«, so konnte man schließlich lesen: »Unsere Genossen in Not und Tod, die im Schweiße ihres Angesichts mit schwieligen Händen und stählernen Muskeln für das Gemeinwohl schaffenden Arbeiter, die Märtyrer der Freiheit, schimmeln, unter dem gemeinen Triumphgeschrei der von ihrem Schweiß und Blut gemästeten Dickwänste beim rohen Gelächter der zarischen Bluthunde dem Tode geweiht, immer noch in ihren finsteren feuchten Zellen.« Oder wo es anfangs hieß: »Nicht die Hoffnung verlieren, nicht den Mut sinken lassen, nicht klagen, sondern Kräfte sammeln, um sein Recht zu vertreten«, da konnte man nun lesen: »Kopf in die Höhe, Brust mutig heraus, ein revolutionäres Lied auf den Lippen, Bruder Schwielhand, schreite auf deinem Dornenpfade zur Freiheit vorwärts, ohne zurückzublicken, in heißem Grimme gerechte Rache zu üben, und es ihnen heimzuzahlen, diesen Rüsselschnauzen und Fettwänsten, diesen Bütteln des Terrors und Schergen des geknechteten Volkes, und unsere Genossen zu befreien, die schuldlos für eine bessere Zukunft der Menschheit leiden müssen.«

So bastelten sie an ihrem Aufruf herum, bis sie der ganzen Sache schließlich im Grunde genommen recht überdrüssig wurden, namentlich Kristi. Aber als sie dann ein Exemplar des vervielfältigten Aufrufs in der Hand hielt, da pochte ihr das Herz doch vor freudiger Erregung, und sie konnte es gar nicht erwarten, den Text mit Indrek zusammen durchzustudieren, um festzustellen, welche Wendungen hier von ihnen stammten. Oh! Die Bluthunde fanden sich, auch die Rüsselschnauzen und Fettwänste, aber die Büttel des Terrors waren durch Satrapenhenker ersetzt. Im Ergebnis ihrer Prüfung waren sie aber alle beide doch ganz zufrieden, wo sie nun mit eigenen Augen feststellen konnten, daß auch sie ihr Scherflein dazu beigetragen hatte, die Revolution zu vertiefen, die allgemeine Freiheit zu erkämpfen. Und diese Zufriedenheit steigerte sich zu geheimer Freude, als Kristis Vater, eines Abends heimkehrend, den Aufruf mitbrachte und für sich las. Kristi brannte diese ganze Angelegenheit so heiß auf dem Herzen, daß sie nicht umhin konnte, den Vater zu fragen, was er denn da so sorgfältig studiere, worauf dieser erwiderte:

»Kommt und hört mal. Komm du auch, Alte, es wird deinem frommen Gemüt schon nichts schaden, wenn du mal auch etwas Saftigeres zu hören bekommst.«

Und so nahm man zu dritt am Tische Platz, die Köpfe zusammengesteckt, und der alte Lohk las den Aufruf mit halber Stimme vor. Kristi mußte alle Kraft zusammennehmen, um ihre Freude nicht zu verraten.

»Aber wenn die Polizei das Ding in die Finger bekommt?« fragte Madame Lohk erschrocken.

»An den Galgen natürlich, was sonst«, grinste der Mann.

»Wo wird die Polizei das zu fassen kriegen?« meinte Kristi.

»Da sei unbesorgt, die Polizei bekommt alles zu fassen, den Aufsatz und seine Verfasser, ja sogar seine Vervielfältiger und Verbreiter«, sagte der Vater gleichsam belehrend. »Sobald sie nur den ersten haben, dann hat es mit den übrigen keine Schwierigkeiten mehr, denn einer gibt immer den andern an, dafür sorgt schon die Polizei, das versteht sie.«

»Was redest du da für schreckliches Zeug«, sagte Frau Lohk entsetzt, »das kann einem ja die Nachtruhe rauben.«

»Aber das bekümmert niemanden«, fuhr der Alte unbeirrt fort, »es werden weiter Aufrufe verfaßt und verbreitet – von Hand zu Hand, von Tasche zu Tasche. Und ist es mit deinen frommen Betbrüdern denn etwa anders, Alte? Lassen die etwa ihre Sünden aus Furcht vor Höllenqualen?«

»Die haben vor dem Tode immer noch Zeit, sich von ihren Sünden zu bekehren«, meinte die Frau.

»Und wir können uns noch im Gefängnis bekehren«, versetzte hierauf der Mann.

»Nun ja, sich bekehren und Spitzel werden«, mischte sich nun auch Kristi ins Gespräch der Eltern.

»Und was bleibt einem anders übrig, wenn es einem sonst ans Leben geht?« fragte der Vater. »Strick um den Hals oder ...«

»Dann schon lieber den Strick um den Hals«, erklärte Kristi mit Überzeugung.

»Was für furchtbare Sachen ihr da redet«, sagte die Mutter seufzend, »und das alles wegen dieses schrecklichen Papiers.«

»Du hast deine Gebetbücher, ich die meinen«, versuchte der Mann das Gespräch ins Scherzhafte zu wenden und verließ mitsamt seinem Aufruf das Zimmer.

»Er geht natürlich es weiterzugeben, als wäre es wirklich das liebe Evangelium«, sagte die Mutter bekümmert.

»Aber vielleicht ist es das auch«, meinte die Tochter.

»Soll denn dieses Geschimpfe wirklich ein neuer Glaube sein?« fragte die Mutter tadelnd.

»Vielleicht doch«, beharrte Kristi bei ihrer Meinung. »Aus dem Gebetbuch macht er sich nichts, aber dieses liest und verbreitet er.«

»Und dir gefällt das natürlich auch«, sagte die Mutter betrübt. »Weißt du, Kind, wenn du auch anfängst, mit diesen Geschichten hinter meinem Rücken zu spielen, dann schieb ich dich einfach nach Amerika ab, zum Onkel. Der Vater mag machen, was er will, das ist seine Sache. Die Hand hat er verloren, wenn es ihm mit dem Bein ebenso ergeht, dann wird er vielleicht Vernunft annehmen.«

Die Mutter sagte das so ernst und ruhig, daß man den Eindruck gewann, sie habe über diese ganze Sache wirklich gründlich nachgedacht. Und eben aus diesem Grunde wohl blieb die Tochter ihr die Antwort, die sie gerne gegeben hätte, schuldig und sagte bloß ablenkend:

»Du nimmst auch alles immer so furchtbar ernst, Mutter.«

»Aber natürlich, Kind, die verstümmelte Hand des Vaters, das ist doch kein Spaß.«

»Aber der Vater war doch nur für einen kürzeren Arbeitstag«, meinte Kristi.

»Ja, und den hat er nun ja auch«, seufzte die Mutter und fügte dann ermahnend hinzu: »Alle wollen sie immer diesen kürzeren Arbeitstag, sogar die Ladenschwengel. Aber werden sie dann auch höflicher gegen die armen Leute werden? Gewiß nicht, im Gegenteil, noch hochnäsiger werden sie werden. Hier unter uns wohnt der alte Käba. Der hat nun einen kürzeren Arbeitstag, kommt der deswegen früher des Abends heim? Durchaus nicht, später kommt er. Immer auf Versammlungen und allerlei dummes Zeug und duftet nach Spiritus, wenn er nur in die Nähe kommt. Da haben wir den kürzeren Arbeitstag. Hat seine Frau zu Hause etwas davon? Die Kinder?«

»Hör mal, Mutter, so ist die Sache nun doch auch nicht«, widersprach Kristi. »Ebensogut könnten ja der Vater und ich dich auch fragen, was wir davon haben, daß du deine Versammlungen besuchst.«

»Aber das ist doch ganz etwas anderes, liebes Kind«, erklärte die Mutter. »Davon verstehst du noch nichts. Unsere Versammlungen machen die Menschen friedlicher und freundlicher, diese anderen Versammlungen aber immer unruhiger und anspruchsvoller. Wir werden nicht gelehrt, von den Menschen etwas zu verlangen, sondern es von Gott zu erbitten. Darum machen mich meine Versammlungen besser, seine Versammlungen den Vater aber immer böser, so daß er am liebsten jedem Menschen an die Gurgel springen würde.«

»Aber der Vater hat doch auch ganz recht, seiner Hand wegen böse zu sein«, meinte Kristi.

»Der Vater hat schon recht«, pflichtete die Mutter der Tochter bei. »Aber schließlich sind doch nicht allen Leuten die Hände verstümmelt worden.«

Am andern Morgen war auch schon im Nachbarladen vom Aufruf die Rede, und der Krämer hatte gemeint, nun habe die Polizei wieder alle Hände voll zu tun, bis sie die Urheber gefaßt haben würde. Das versetzte Kristi in helle Erregung. Sollte es möglich sein, daß auch ihre und Indreks Mitarbeit an diesem Aufruf bekannt werden würde? Als sie sich mit Indrek über diese Frage aussprach, erhielt sie eine beruhigende Antwort, was ihr aber im Grunde auch wieder nicht recht war, denn sie hätte es eigentlich gerne gesehen, wenn auch Indrek in Erregung geraten wäre.

»Sonst glaubt man seiner eigenen Furcht eigentlich gar nicht so recht«, erklärte sie Indrek. »Aber wenn man sieht, daß auch der andere sich aufregt, dann besteht kein Zweifel mehr an der eigenen Furcht.«

Ein wenig Furcht schien übrigens auch dem Krämer in die Glieder gefahren zu sein, einem brünetten vierschrötigen Manne. Als Indrek den Laden betrat, um sich ein wenig Mundvorrat zu kaufen, brachte er das Gespräch sogleich auf die Revolution und die Flugblätter, über die er sich höchst unzufrieden äußerte:

»Warum verbreitet man in diesen Aufrufen falsche Nachrichten?« fragte der Kaufmann gereizt. »Warum schimpft man mich einen Dickwanst? Warum? frage ich. An der Spitze des Aufrufs steht doch: an alle, alle, alle, also doch auch an mich. Wie darf man einen unschuldigen Menschen derartig beleidigen und das Volk gegen ihn aufhetzen? Denn wie soll man das sonst nennen als aufhetzen, wenn man einen unschuldigen Menschen Dickwanst nennt. Gestern betritt ein alter Bekannter den Laden und sagt: Na, Alterchen, wenn es nun losgeht, dann bist du wohl einer der ersten, der drankommt, alter Dickwanst. Verstehen Sie? Nun gut, er scherzte bloß, aber etwas Ernst steckte doch auch immer dahinter, denn früher hat er bei mir auf Kredit Waren genommen und dann nicht bezahlt, so daß ich ihn verklagen mußte. Daher nun diese dummen Scherze. Und warum? Wie kommt er darauf? Doch nur, weil in diesem Aufruf von Rüsselschnauzen und Dickwänsten die Rede ist. Es müssen wohl sehr junge Leute gewesen sein, die diesen Aufruf verfaßt haben, denn sie scheinen nicht einmal zu wissen, daß ein Mensch an seinem Schmerbauch ganz unschuldig sein kann, daß es sich hierbei vielmehr um ein natürliches Leiden handelt, durch das die Natur einen armen Teufel heimsucht. Schon mein Vater war sehr stark, und ich habe diese Konstitution eben von ihm geerbt, das ist aber doch noch lange kein Grund mich zu bedrohen und zu beschimpfen.«

»So ist es ja wohl auch gar nicht gemeint«, war Indrek bestrebt, den Krämer zu beruhigen.

»Aber wie denn sonst, wenn da klar und deutlich steht Dickwanst und ich von Gott mit einem Schmerbauch geschlagen bin?« ereiferte sich der Krämer. »Bitte, wollen Sie mir das gefälligst erklären, ich bin gerne bereit, mich von einem Klügeren belehren zu lassen.«

»Der Aufruf hat doch wohl die Leute im Auge, die sich ihren Bauch auf Kosten anderer angelegt haben, Schweiß und Arbeit anderer Leute verprassen«, war Indrek bestrebt, das Flugblatt zu erläutern. Aber diese Erläuterung fand absolut keine Gnade vor der unerbittlichen Logik des Krämers, der vielmehr erwiderte:

»Davon ist im Aufruf auch nicht ein Wort zu lesen. Ich habe ihn mehrfach sorgfältig durchstudiert. Da steht ganz einfach Rüsselschnauze und Dickwanst, als sei das eine schwere soziale Schuld. Aber wissen Sie, junger Mann, was ich Ihnen sagen werde: Sie haben noch nicht einen Tag ihres Lebens einen Laden geleitet oder sonst irgendein Geschäft betrieben, Sie haben überhaupt noch keinen rechten Mannesbauch und daher können Sie auch nicht wissen, daß eine Revolution, die mit solchen Mitteln arbeitet, indem sie unschuldige Leute schmählich verleumdet, zum Mißerfolg verurteilt ist. Denn wer soll sie überhaupt unterstützen, wenn man vor allem unsereins zusammenhaut? Wer, frage ich?«

Und da Indrek nicht wußte, wer, so blieb ihm nichts übrig, als den Laden zu verlassen, um anderen Käufern Platz zu machen, denen der Krämer vermutlich dieselben Einwände unterbreiten, dieselben kitzlichen Fragen stellen würde.


 << zurück weiter >>