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XXX

Dieser Schicksalsschlag kam schneller und von einer anderen Seite, als Indrek ihn erwartet hätte. In den Ferien traf ein Telegramm ein, welches das ganze Haus irgendwie in Unruhe versetzte. Das heißt genau genommen war kaum jemand da, der in Unruhe hätte versetzt werden können, denn das Internat war so gut wie leer, aber Indrek hatte deutlich die Empfindung, als teile sich dem Hause eine gewisse Unruhe mit. Noch am Abend desselben Tages reiste Frau Malmberg mit dem Abendschnellzuge in den Süden ab. Es hieß, in Fräulein Ramildas Zustand sei plötzlich eine Verschlimmerung eingetreten, ein Rückfall – wie Ollino zu berichten wußte. Und wenige Tage darauf erschien Herr Maurus mit einem Trauerflor um den Ärmel, und im deutschen Abendblatt fand sich die Todesanzeige des Fräulein Miralda Maurus.

Bald darauf traf es sich dann einmal, daß Herr Maurus nach unten kam, wie das jetzt oft geschah, ohne daß die anderen oder er selbst eigentlich recht gewußt hätten, warum er nun so häufig kam, mit den Händen in den Taschen am großen Tisch haltmachte und durchs Fenster auf die Straße blickte, auf die der Schnee in großen Flocken niedersank. Indrek stand am anderen Ende des Tisches. Und wie sie beide so dastanden, sagte Herr Maurus, halb zu sich selbst, halb gleichsam zu Indreks Belehrung:

»Wir waren sieben, drei Brüder und vier Schwestern, und unsere Eltern wurden alt und blieben bis zum Tode bei vollem Verstande; und mir raubt meine einzige Tochter den Verstand, so viel schwächer bin ich als meine Eltern. Auch Molotow mußte den Verstand verlieren, und sehen Sie sich nur vor, daß es Ihnen nicht ebenso ergeht wegen dieses Mädchens, dem Sie Ihre Nullen in der Mathematik verdanken. Ich alter Mann darf schon den Verstand verlieren, und auch der Russe darf es, aber Sie sind ein estnischer Jüngling, dem noch das ganze Leben bevorsteht, Sie dürfen nicht um eines Mädchens willen den Verstand verlieren. Darum warne ich Sie. Vor allem darf man nie daran denken, denn wenn du erst daran denkst, bist du verloren. Du denkst, nicht ich bin verrückt, sondern die anderen, und dann kannst du sicher sein, daß du es schon bist. Klüger ist es dann schon zu sagen: ich bin verrückt, die anderen aber noch bei vollem Verstande; das ist vernünftiger, dann geht die Sache jedenfalls nicht so schnell.«

Indrek blickte den Direktor unverwandt an, als er so vor sich hin redete, die alten Augen über die Brille auf die Straße gerichtet, und es wollte ihm scheinen, als stünde da am Tisch weder ein Direktor noch ein Herr Maurus, sondern einfach ein ergrauter alter Mann, der, im Sumpf des Lebens zappelnd, den Boden unter den Füßen verloren hat. Wie gerne hätte er diesem alten Manne gesagt, daß auch er, Indrek Paas, um dasselbe Mädchen leide, von welchem der Alte eben spreche. Aber davon sagte er natürlich nicht ein Wort, lauschte vielmehr schweigend dem Gefasel des Alten. Nur still für sich wiederholte er immer aufs neue:

»Da hilft eben nichts, weder Integrale noch Differentiale, nicht einmal das Alter.«

Einige Tage später erhielt Indrek einen Brief. Das bemerkte auch Herr Maurus und fragte:

»Wer schreibt Ihnen denn aus Deutschland?«

»Ein Verwandter«, stotterte Indrek, über und über errötend, denn er empfand brennende Scham, gerade Ramildas wegen lügen zu müssen, die doch die Wahrheit über alles schätzte.

»Was studiert der denn da?« fragte der Direktor.

»Elektrotechnik.«

»Elektrizität ist eine gute Sache«, meinte der Direktor, »eine sehr gute Sache, denn die gebiert den Blitz. Aber mit dem Blitz muß man vorsichtig sein, der kann einen leicht erschlagen und noch dazu sehr zur unrechten Zeit oft. Darauf müssen Sie Ihren Verwandten aufmerksam machen«, sagte Herr Maurus scherzend.

Der Brief aber lautete wie folgt:

»Mein letzter Brief war mißlungen, verbrennen Sie ihn, es war ein schlechter Brief. Wäre er noch länger in meinen Händen geblieben, so hätte ich ihn wohl überhaupt nicht abgeschickt. Er war falsch. Und furchtbar klug. Nicht wahr? Viel klüger als ich selbst. Nun will ich Ihnen aber einfach und aufrichtig schreiben. Ehrlich und offen, wie ein Freund dem Freunde, denn ich empfinde es deutlich – wir sind Freunde.

Ich versprach Ihnen meine Adresse zu schicken, erinnern Sie sich? Aber das war natürlich leeres Geschwätz. Das wissen Sie nun ja wohl auch schon ohnedies, denn Ihnen wird nun wohl klar sein, was eigentlich mit mir los ist. Das hätte ich Ihnen schon im Frühling sagen können mit voller Sicherheit, aber ich konnte es nicht, weil Sie mir damals wegen der Blutentnahme so hübsch antworteten. Wenn Sie nur hätten ahnen können, wie sehr mich das erfreute! Das hätte auch Sie gewiß erfreut, aber Sie ahnten es eben nicht. Und nun kommt die Freude zu spät. Wie immer. Manchmal muß ich denken: der Mensch wird zu früh geboren und stirbt zu früh, zu schnell, so daß die Freude ihn nicht erreichen kann. Mal tanzen Glück und Freude vor ihm, mal hinter ihm her, aber mit ihm zusammen nur so selten.

Diesen Brief hätten Sie eigentlich gar nicht nötig. Aber ich schreibe ihn auch in erster Linie nicht für Sie, sondern für mich selbst – zum Trost. So habe ich die Empfindung, daß ich noch nicht ganz einsam bin, daß ich noch lebe, denn erst der Tod macht einen völlig einsam. Und wenn der Mensch allein bleibt, dann kommen die Gedanken, damit er nicht ganz allein bleibe. Wie Sie sehen, bin ich noch immer Egoistin. Das ist schrecklich, aber dabei ist nun mal nichts zu machen. Ja, ich bemühe mich nicht einmal, meinen Egoismus zu bekämpfen, denn ich denke: für die paar Tage lohnt es sich wahrhaftig nicht mehr, sich zu bessern. Aber auch wenn ich mein Leben von neuem beginnen könnte, würde ich mich nicht bessern wollen, denn so, wie ich bin, gefalle ich mir am allerbesten. Manchmal denke ich, wie wäre es, wenn Jesus Christus kurz vor dem Tode vor mich hintreten würde und sagen: ›Ramilda Maurus, wenn du versprichst, dich zu bessern, so werde ich dich von den Toten auferwecken‹ und dann noch hinzufügen würde: ›Es ist nicht einmal nötig, daß du dich wirklich besserst, es würde schon genügen, daß du es eben nur wenigstens ernstlich willst.‹ Glauben Sie, daß ich es wollen würde? Ich glaube nicht. Lieber tot bleiben als sich bessern. Und Christus weiß natürlich, daß ich mich gar nicht bessern will, und daher kommt er mir auch gar nicht mit solch einem Vorschlage, sondern läßt mich einfach sterben. Wenn ich aber einmal wirklich aufrichtig den Wunsch hätte, mich zu bessern, dann würde auch Christus erscheinen in seinem weiten Mantel mit ausgestreckten Händen, wie auf dem Altarbilde dort in der Kirche, wo wir nach dem Tode Kölers waren, und sprechen: ›Ich sage dir, Mädchen, stehe auf!‹ Denn was er Jairi Töchterlein tat, das kann er auch mir tun. Aber ich will eben gar nicht, und daraus mögen Sie ersehen, wie unglücklich ich geschaffen bin. Ich und alle übrigen Menschen, denn ich glaube, es geht allen Menschen wie mir, im Grunde ihres Herzens wollen sie sich gar nicht bessern, und darum erscheint Christus auch nie mit ausgestreckten Händen wie auf dem Altar. Und auch zu Jairi Töchterlein kam er nicht etwa, weil dieses die Absicht gehabt hätte, sich zu bessern, sondern um den Menschen zu verstehen zu geben, was mit ihnen geschehen könnte, wenn sie ernstlich bereit wären, sich zu bessern. Wie traurig ist das doch! Wenn ich daran denke, könnte ich mir die Augen aus dem Kopfe weinen. Aber Dr. Rotbaum schärft mir alle Tage aufs neue ein: ›Fräulein Maurus, nicht unnütz viel nachdenken und sich in etwas vertiefen, denn das schadet der Gesundheit. Die Menschen sterben häufig nur deswegen, weil sie sich gar zu innig in etwas vertiefen.‹

... Sie wissen natürlich nicht, wer und wie Dr. Rotbaum ist, denn Sie hören seinen Namen zum ersten Male. Er ist ein Mann in den besten Jahren, der ein wenig an Christus erinnert, an jenen Christus auf dem Altar, dort in der Kirche, wo der alte Pastor von der Ewigkeit sprach. Und dieser Dr. Rotbaum ist eben meine Sympathie, das heißt ich bin seine Sympathie. Was das bedeutet, wissen Sie wohl auch nicht. Jedenfalls ist es etwas Hübsches und Ernstes, und wenn ich es Ihnen nicht recht zu beschreiben verstehe, so liegt das an mir und nicht an dieser hübschen und ernsten Sache.

Dr. Rotbaum spielt hier die Rolle des Samariters. Aber das eigentlich nur für die jungen Mädchen, denn die brauchen ihn am meisten, wie man hier meint. Die Sache ist nämlich die, daß, wenn jemandes Schicksal schon entschieden ist – verstehen Sie? –, das heißt, wenn jemand schon sozusagen zu Einzelhaft verurteilt ist, was Anfang und Vorbereitung für die große, ewige Einsamkeit darstellt, dann taucht Dr. Rotbaum auf, denn nun beginnt seine Aufgabe. Kommt einmal, zweimal, dreimal, bis aus seinen Besuchen Sympathie erwächst, Neigung, Sehnsucht, Liebe. Wir sind mit Dr. Rotbaum eben im Stadium der Sehnsucht. Jedesmal, wenn er bei mir eintritt, sagt er: ›Ich habe Sehnsucht nach Ihnen, Fräulein Maurus.‹ Und wenn ich dann ungläubig lächele oder gar antworte, dann wiederholt er bestätigend: ›Tatsächlich, Sehnsucht. Eigentlich dürfte ich Ihnen das ja gar nicht sagen, denn Sie machen eben eine Krise durch, und meine Zudringlichkeit könnte Sie belästigen oder gar erregen, aber glauben Sie mir, ich kann eben nicht anders, ich muß Ihnen das sagen.‹ Und dabei sieht er mich aus seinen großen, braunen Augen ein wenig schwermütig an, streichelt meine Hand und tröstet mich: ›Aber das tut nichts, wir haben schon so manche Schwierigkeit überwunden, wir werden auch über diese hinwegkommen, und dann erwartet uns das Glück. Die Welt ist ja so groß, und in ihr hat so viel Glück Platz, so viele Glücksmöglichkeiten für zwei Menschen, wenn sie sich so nach einander sehnen, wie ich mich heute nach Ihnen gesehnt habe.‹ So redet er zu mir, und so hat er wohl schon mit Dutzenden geredet. Und obgleich ich weiß, daß er lügt, so ist es mir doch lieb, das zu hören. Aber glauben Sie, daß man mit solchen Lügen Wunder wirken kann? Nein? Und doch geschieht es. Damals, als ich herkam, lag hier eine Russin, lange Jahre schon, zu der kam Dr. Rotbaum damals und redete ihr von seiner Sehnsucht. Und diese Russin nahm ihn ernst, wie so manche andere auch: begann an ihr großes Glück mit unserem Christus, das heißt also Dr. Rotbaum, zu glauben, an die Glücksmöglichkeiten für zwei Menschen in der weiten Welt – und überwand die Krankheit, begann zu genesen. Das war das Jairustöchterlein unserer Anstalt. Und wissen Sie, was dann später geschah? Unser Christus ließ das Jairustöchterlin links liegen, und es machte bald darauf seinem Leben ein Ende. Das war furchtbar!

... Mir kann so etwas nicht passieren, denn ich nehme Dr. Rotbaums Sehnsucht nicht ernst. Ich höre ihm bloß zu und tue so, als glaubte ich ihm, und auch das wirkt schon großartig. Ich verspüre eine wunderbare Beruhigung, denn denken Sie doch mal bloß: er glaubt mich zu betrügen, und in Wirklichkeit betrüge ich ihn. Er glaubt, mich mit seinen Lügen zu trösten, und in Wirklichkeit tröste ich ihn. Wenn er das wüßte, würde er wohl höchst erstaunt sein. Ich sehe ihm deutlich an, wie zufrieden er damit ist, Tag für Tag fester glauben zu können, daß ich seine Worte ernst nehme. Er triumphiert als Sieger, als Sieger über den Tod, die Todesfurcht. Und wer über diese Furcht siegt, der hat auch den Tod selbst besiegt, denn mir will scheinen, der Tod sei überhaupt gar nichts anderes als eben diese große Furcht. Hast du die erst überwunden, dann hast du gesiegt. Und ich glaube, ich habe sie bald überwunden, natürlich mit Dr. Rotbaums Hilfe, nur in einer etwas anderen Weise, als er und auch alle anderen hier denken. Der gute Doktor glaubt natürlich, daß, wenn ein solch junges Mädchen wie ich jemanden lieben würde, es die Nähe des Todes vergessen könnte. Aber dieses sein Spiel mit Liebe und Tod macht mir bloß Spaß. Denn ich bin durchaus nicht so naiv, wie man hier anzunehmen scheint. Auch nicht so naiv, wie Sie wohl glauben, überhaupt irren sich die Männer, wenn sie uns jungen Mädchen für naiv halten. Und da ich mich selbst eigentlich nicht mehr zu den jungen Mädchen zähle, denn was für ein junges Mädchen wäre das wohl, dem Dr. Rotbaum tagtäglich von seiner Sehnsucht redet, – so will ich Ihnen ein Geheimnis verraten, das Ihnen im Leben nützlich sein wird: die jungen Mädchen sind überhaupt niemals naiv, nur dumm häufig. Ich wenigstens bin nie naiv gewesen, nur dumm, wie auch eben noch. Naiv werden Mädchen erst auf ihre alten Tage, aber die werde ich ja, gottlob, nicht mehr erleben.

 ... Voriges Mal blieb eigentlich alles, was ich sagen wollte, halb. Dr. Rotbaum störte mich mit seinen Sehnsuchtsklagen. Ich machte ihm poetische Augen, und Sie mögen es nun glauben oder nicht, ich sehe es deutlich, wie er von Mal zu Mal immer fester glaubt, daß ich ihm glaube. Aber ich denke ja nicht daran, denn ich sehe nur zu deutlich, daß er nur mit mir spielt. Zwischen einem echten und einem bloß gespielten Gefühl weiß ich schon einen Unterschied zu machen, denn einmal habe ich ein echtes Gefühl gesehen. Wissen Sie wo? Muß ich Ihnen das sagen? Zu Hause war es, im großen Zimmer, an dem mit Wachstuch bezogenen großen Tisch. Die Sonne schien damals so hell, zwischen den Pflastersteinen draußen auf der Straße sproßten die ersten blaßgrünen Halme zart und ängstlich, so daß es mir leid um sie wurde, – dort sah ich es. Das war im vorigen Frühling. Das genügt wohl. Versteht wohl Dr. Rotbaum mich so anzublicken, wie ich damals angeblickt wurde? Kann er solch eine Bewegung machen, wie sie damals am Tische gemacht wurde? Kann er ein solches Wort sagen, wie damals gesagt wurde? Natürlich nicht. Er kann nicht einmal so stehen, so schweigen. Und wenn er das alles doch könnte und dabei sein Spiel dennoch fortsetzen, dann könnte man ihn wirklich für einen Heiland halten, denn sein Opfermut wäre dann einfach unermeßlich.

... Sei dem nun wie ihm wolle, aber meine letzten Tage hat er mir durch sein Spiel sehr erleichtert, und jedesmal, wenn er mich verläßt, bleibe ich in gespannter Erwartung zurück, wann und wie er das nächste Mal auftauchen wird. Und so gehen meine Tage dahin – im Spiel. Eins nur fürchte ich – daß eines schönen Tages plötzlich die Tante in mein Zimmer platzen könnte, womit das ganze Spiel sein Ende finden würde, um dem Ernste des Lebens Platz zu machen. Denn erst heute noch fragte Dr. R. mich, ob ich den Meinigen mitgeteilt hätte, daß es mir vorübergehend – verstehen Sie, bloß vorübergehend – ein wenig schlechter gehe, was ich bejahte. ›Aber Sie haben sie doch nicht unnütz aufgeregt?‹ fragte meine Sympathie, ›denn hierfür liegt auch nicht der geringste Anlaß vor.‹ In Wirklichkeit habe ich aber auch gar nicht daran gedacht, der Tante irgend etwas mitzuteilen, und werde das auch nicht tun, denn ich will sie überhaupt gar nicht sehen. Nichts wäre mir im Augenblick so unerträglich wie ein bekanntes Gesicht, ein teilnehmender Blick. Hier bin ich von wildfremden Menschen umgeben, und das hat etwas so Beruhigendes, Tröstliches, weil man sicher ist, ihnen ganz gleichgültig zu sein. Und überdies ist man hier ja an solche Fälle wie den meinen gewöhnt. Nur ein Hausmädchen langweilt mich manchmal; können Sie sich vorstellen, was sie sich neulich geleistet hat: sie blieb vor meinem Bett stehen – ich habe ein Einzelzimmer, wir waren also allein –, betrachtete mich aufmerksam und sagte: ›Fräulein, Sie tun mir so sehr leid.‹ – ›Warum?‹ fragte ich. ›Sie haben so schöne Augen‹, versetzte sie. ›Und darum bedauern Sie mich?‹ fragte ich verwundert. ›Ja‹, erwiderte sie, ›denn wenn ich bedenke, daß jemand so schöne Augen hat und niemals ...‹ – ›Lassen Sie das‹, unterbrach ich sie. ›Nicht ich habe schöne Augen, sondern Sie selbst. Und darum erscheinen Ihnen eben auch die Augen anderer schön. Wer selbst häßliche Augen hat, dem entgeht auch die Schönheit fremder Augen.‹ Aber wissen Sie, was die Person mir sagen wollte? Sie wollte sagen, daß ich niemals heiraten würde. Denken Sie doch mal bloß: Dr. R. macht mir Tag für Tag genau genommen Liebeserklärungen, und ich werde doch nicht heiraten. Aber eins würde ich doch unter allen Umständen gerne wissen: ob ich wirklich schöne Augen habe? Was meinen Sie? Ich wünschte, daß wenigstens Sie meine Augen, wenn auch nur ein ganz klein wenig, schön fänden. Denn Schönheit ist ja das einzige, was bleibt, alles andere vergeht. Seele und Geist vergehen, aber die Schönheit, die bleibt. Denn wenn jemand, Schönheit erblickend, Schönheit empfindet, so nimmt er diese Schönheit in sich auf, und so bleibt sie, auch wenn alles andere schwindet. Ist das nicht herrlich? Was eigentlich gar nicht da ist, bleibt, und was vorhanden ist, schwindet. So nämlich, daß wenn Sie in meinen Augen auch nur ein wenig Schönheit gefunden haben, diese Schönheit in Ihnen fortlebt. Wie glücklich macht es mich, das zu denken!

... Mit mir ist irgendeine Wandlung vor sich gegangen. Nicht wie mit dieser Russin, die unser Christus von den Toten auferweckte, und die sich dann das Leben nahm, sondern eher umgekehrt. Ich habe angefangen, furchtbar zu husten. Das heißt es fing schon vor einiger Zeit damit an, aber ich dachte mir, noch sei es nicht so schlimm, bis ich dann eines Tages merkte, daß es nun so gekommen war, wie es kommen mußte. Das überraschte mich derart, daß ich meine Sympathie darüber unterrichten mußte. Damit fiel ich natürlich einigermaßen herein, denn bis dahin hatte ich ja stets getan, als begriffe ich überhaupt nicht, was eigentlich los sei, und nun plötzlich schien ich aufgeregt und erschrocken. Aber meine Sympathie blieb ganz ruhig, und während er den Fall erläuterte, gelang es mir, meine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Dr. R. sagte nämlich tröstend: ›So ist es denn nun so gekommen, wie es kommen mußte, und ich es schon seit langem mit Ungeduld erwartet habe (er sagte tatsächlich »mit Ungeduld«, und das war vielleicht das einzige wahre Wort, das er im Laufe der ganzen Zeit gesprochen hat, denn daß er das Ende mit Ungeduld herbeisehnt, ist doch nur zu verständlich). Der Organismus hat nun Kräfte gesammelt‹, fuhr er fort, ›die Lungen strengen sich an, um den Schleim zu beseitigen, und dann kann der Heilungsprozeß beginnen. Das ist der gewöhnliche Krankheitsverlauf. Mal geht das schneller, mal langsamer. Das hängt von der Widerstandskraft und Zähigkeit des Organismus ab. Genau genommen ist es eine Frage des Temperaments. Sie gehören meines Erachtens zu den temperamentvollen Naturen, daher eben diese stürmische Reaktion. Aber seien Sie ganz unbesorgt: die Sache entwickelt sich, wie es sich gehört, nur Geduld müssen Sie eben haben, ein wenig Geduld! Bei den temperamentvollen Naturen ist eben das manchmal das Unglück: daß sie nicht die erforderliche Geduld aufbringen können.‹

... So hüllte er mich sanft in seine süßen Lügen ein, und zum erstenmal im Leben habe ich empfunden, was für eine sonderbare Sache es doch um die Lüge ist. Eine so sonderbare Sache, daß, wenn es keine Lüge gäbe, man sie erfinden müßte. Und ich glaube daher, daß Gott selbst die Lüge geschaffen hat. Zusammen mit dem Menschen, denn sonst hätte dieser das Leben überhaupt nicht ertragen können. Und wissen Sie, was ich noch glaube! Daß sogar Christus manchmal hat lügen müssen, denn wie hätte er sonst wohl die Menschen trösten sollen. Das habe ich früher nicht begriffen, aber nun sehe ich es ein. Denken Sie doch nur, was geschehen wäre, wenn Dr. R. mir die Wahrheit gesagt hätte. Mich offen angesehen und erklärt hätte: ›Das ist der Anfang vom Ende. Nur noch ein wenig Geduld, und dann sind Sie tot.‹ Sogar wenn er dabei aus dem Fenster geguckt hätte, wäre es schrecklich gewesen. Denn könnten Sie nur einmal aus dem Fenster meines Zimmers blicken, dann würden Sie verstehen, wie schrecklich es sein müßte, einem Menschen etwas Derartiges zu sagen. Nur zu denken, daß einmal ein Tag kommen wird, an dem die Sonne aufgeht wie gewöhnlich über den fernen Bergketten, als steige jemand vom Himmel auf die Erde nieder, zarte rosa Schuhe an den Füßen, und komme längs den Berghängen herab, tiefer, immer tiefer, zu den Menschen, damit auch sie teilhaben möchten an dem, der da niedersteigt, zarte rosa Schuhe an den Füßen, – daran zu denken und dabei zu wissen: das wirst du niemals mehr sehen! Und das hätte ich bestimmt gedacht, wenn Dr. R. so zu mir gesagt hätte. Ich hätte das gedacht, weil ich diese Bergkämme und Gipfel so oft betrachtet habe, daß ich sie sogar mit geschlossenen Augen so deutlich sehen kann, als stünde ich am Fenster neben Dr. R. Seit ich nicht mehr ans Fenster kann, mache ich es häufig so, daß ich die Augen schließe – auch im Dunkel der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann –, die Berge betrachte und dabei denke: es tut nichts, die Berge sind da, und ich liege hier auf meinem Lager. Ich liege hier eigentlich ebenso wie die Berge dort, nur mit dem Unterschiede, daß ich sie sehen kann, sie mich aber nicht, denn sie haben ja keine Augen. Wenn Sie wüßten, welch ein Trost das ist, nachts mit geschlossenen Augen das zu denken! Auch tags! Wundervoll!

... Heute sprach unser Christus mit mir von der Liebe, heute zum ersten Male. Also – das letzte Stadium. Denn wenn Dr. R. hier in unserem Sanatorium mit jemandem über die Liebe anfängt zu reden, dann bedeutet das den Tod. So ist er hier bei uns gewissermaßen Stellvertreter Gottes, der die zu sich ruft, die er liebhat, als herrsche er im Reiche der Toten oder sei selbst tot. Dr. R. ergriff meine Hand, streichelte sie und fragte ehrfürchtig: ›Darf ich sie küssen? Nein? Verzeihen Sie mir meine Dreistigkeit, meine Unverschämtheit. Aber Sie haben so wunderschöne Finger, nahezu durchsichtig sind sie.‹ Lange, lange hielt er so meine Hand und redete auf mich ein. Aber mir wollte es scheinen, als sei das überhaupt gar nicht mehr meine Hand, als gehöre diese Hand jemand Fremdem, der mit mir oder in mir daliege, so daß, wenn jemand mich berühre, er immer nur diesen anderen berühre, der jetzt immer mit und in mir ist. Und ich dachte mir: Da sitzt nun unser Herr Doktor mit den Christusaugen und redet mit diesem anderen von der Liebe, und noch vor wenigen Tagen redete er mit mir von seiner ewigen Sehnsucht. Es ist nur gut, daß er von der Liebe nicht auch mit mir redet, sondern mit jenem andern, denn so kann ich ungestört daliegen und brauche nicht ihm zuzuhören. Mag der andere zuhören, der da mit mir ist. Der gute Doktor sieht diesen anderen natürlich noch nicht, er sieht immer nur mich. Diesen andern kann man überhaupt nicht sehen, den kann man nur fühlen. Aber die Zeit wird kommen, wo man ihn wird sehen können, aber dann werde ich schon daliegen, die Hände auf der Brust gefaltet.

... Schon einige Tage wage ich es nicht recht, die Hand auf die Brust zu legen, denn es scheint mir, als gehöre sie nicht dahin. Das ist mir erst heute in den Sinn gekommen, ganz zufällig. Ich hatte meine Hände auf der Brust gekreuzt und ließ sie da ein wenig ruhen. Aber da fing mir das Atmen an schwerzufallen, und ich wollte die Hände von der Brust nehmen. Mit der Rechten gelang es auch, aber als ich auch die Linke fortziehen wollte, da merkte ich plötzlich, daß ich das nicht vermöge. Und so blieb sie denn da liegen. Einerlei – dachte ich schließlich ergeben –, etwas früher oder später, dort wird sie schließlich doch bleiben. Und da lag sie denn nun. Bedrückte mir wohl schwer die Brust, denn die ist ja so schwach geworden – das müssen Sie im Auge behalten. Und wissen Sie, wie lange diese Hand dalag und mir auf die Brust drückte? Bis Dr. R. kam und sie dort fortnahm, denn er wollte sie ja streicheln und von der Liebe reden. Und da sagte ich mir: nun gut, heute kam Dr. R. und hat die Hand fortgezogen, aber was wäre gewesen, wenn er nicht gekommen wäre? Wie lange wäre die Hand da geblieben? Hätte ich die Pflegerin rufen können und ihr sagen: ›Seien Sie doch so gut und nehmen Sie mir die Hand von der Brust, sie ist so furchtbar schwer.‹ Nein, das hätte ich nicht gekonnt, das fühle ich deutlich. Lieber hätte die Hand meinetwegen für immer da liegenbleiben mögen. Natürlich bin ich noch nicht in einem so hilflosen Zustande, denn ich habe ja noch meine rechte Hand, mit der ich schreibe, und mit der könnte ich doch die linke von der Brust heben. Aber was dann – wenn auch die Rechte auf der Brust liegenbleibt? Beide Hände, die linke und die rechte? Ja, daran muß ich denken, und ich warte mit einer gewissen Neugier darauf, wann das wohl geschehen wird. Eines würde ich dann wohl tief bedauern: dann könnte ich Ihnen nicht mehr schreiben. Und das ist doch mein einziger wirklicher Trost, Freude und Zerstreuung. Um es einfacher und leichter zu haben, schreibe ich mit Bleistift. Dr. R. brachte mir seine Füllfeder, aber die war mir zu schwer. Ich griff wieder zum Bleistift. Einem ganz dünnen noch dazu, damit er möglichst leicht sei.

... Voriges Mal konnte ich Ihnen nicht mehr sagen, daß Sie wissen mögen, was mit mir ist, wenn ich Ihnen nicht mehr schreiben sollte. Ich konnte das nicht mehr schreiben, denn die Hand sank mir auf die Brust und blieb da liegen. Wie sonderbar ist es, seine eigene Hand zu betrachten, wenn sie so kraftlos vor einem daliegt. Und plötzlich empfand ich, daß ich diese Hand liebe. Zum ersten Male im Leben empfand ich das. Und wissen Sie warum? Wegen der Worte, die diese Hand auf dieses Papier geschrieben hat und noch schreiben wird. Denn ich wußte es genau: sie wird noch schreiben. Wird sich ein wenig erholen und dann wieder schreiben, denn sie weiß, daß ich das will. Ich will Ihnen nämlich sagen, wie furchtbar dankbar ich Ihnen für die Worte bin, die Sie mir im Frühling sagten, als wir beide dort am langen, schwarzen Tisch standen. Ist es Ihnen jemals in den Sinn gekommen, daß wir uns damals im Leben am allernächsten gestanden haben? Ich muß oft daran denken. Und ebenso oft auch noch dieses: wie schade es ist, daß ich das damals nicht gewußt habe. Ich ahnte es ja wohl, aber ich wollte es nicht wissen, denn wenn ich es gewußt hätte so wie jetzt, so hätten wir einander noch näherstehen können. Aber unaussprechlich dankbar bin ich Ihnen auch dafür, was war. Doch auch das ist mir erst jetzt klar bewußt, wo ich diese elenden Zeilen aufs Papier schmiere.

... Heute bin ich glücklich, bin ich nahezu wahnsinnig glücklich, denn ich habe plötzlich das große, heilige Gefühl, daß man mich lieben könne. Verstehen Sie, was das heißt, so zu empfinden? Haben Sie jemals etwas Ähnliches empfunden? Haben Sie jemals einen so starken Glauben an sich selbst gehabt, das empfinden zu können? Ich kann es heute, und ich denke: nun kommt der Frühling, die Vögel werden wiederkommen, singen und ihre Nester bauen, die Blumen werden kommen und duften – der Duft ist doch der Gesang der Blumen, nicht? – und ich werde nicht mehr sein, aber der, der mich liebt, wird im Sonnenschein umhergehen, und auf diese Weise werde auch ich am nächsten, übernächsten und den folgenden Frühlingen teilhaben. Denn wenn auch die Liebe mit den Jahren abnehmen sollte, etwas wird von ihr doch immer übrigbleiben. Ach ja, daß ich es nicht vergesse. Wenn der Frühling kommt, dann verkaufen kleine Mädchen an der Steinbrücke Blumen. Und unter ihnen ist eines, ein mageres kleines Ding, mit grauen, beinahe blauen Augen, das sich einem nie aufdrängt wie die andern, sondern bloß stumm dasteht und einen anblickt, so daß man ohne ein weiteres Wort gerade bei ihr kauft. Das ist mein Blumenkind – so habe ich es genannt. Bei dem kaufen Sie im nächsten Frühling, denn dann werde ich nicht mehr sein, und es hätte sonst am Ende keinen Käufer. Wenn Sie wollen, dann mögen Sie ihr sagen, daß das Fräulein mit dem breiten Hut und dem weißen Schleier nun keine Blumen mehr kaufe, an ihrer Stelle vielmehr nun Sie es täten. Die Kleine wird sich meiner sicher genau erinnern.

... Dr. Rotbaum behauptet, daß Liebe verschönere, aber für mich hat das wohl keine Geltung, denn ich werde von Tag zu Tag abscheulicher. Sie würden mich gar nicht wiedererkennen, wenn Sie mir nun begegnen würden. Nicht einmal, wenn ich nach unten ins Zimmer kommen würde, wo Sie am Tisch sitzen. Und damit Sie sich nur ja nicht vorzustellen versuchen, wie ich jetzt wohl aussehen mag, schicke ich Ihnen meine Photographie. Die ist damals gemacht, als ich noch nicht wußte, daß ich geliebt werde. Aber jetzt, wo ich das weiß, will ich so geliebt werden, wie ich auf diesem Bilde bin. Ich schicke es Ihnen an Stelle der Tassenhenkel, denn die haben Sie wohl aufbewahrt. Aber nun können Sie sie fortwerfen. Mit den Tassenhenkeln fing es an, das Bild ist das Ende. So war es mit unserer Bekanntschaft bestellt. Wie froh wäre ich, wenn Sie finden würden, daß das Ende ein wenig hübscher war als der Anfang. In dieser Hoffnung schicke ich Ihnen gerade das Bild.

... Heute sprach Dr. R. mir von Myrte und Schleier. Das hat irgend etwas zu bedeuten, denn seine Worte bedeuten immer etwas. Aber ich merke auch ohnedies, daß die Hände mir auf die Brust zu sinken drohen. Wenn Sie wüßten, wie schrecklich es mir ist, Ihnen davon zu schreiben! Aber noch schrecklicher wäre es, nicht davon zu schreiben, und darum tue ich es doch. Verzeihen Sie mir das und alles andere. Es kommt mir vor, als hätte ich Ihnen nur Leid und Böses zugefügt, und das quält mich manchmal. Aber dann tröste ich mich mit dem Gedanken: wenn ich fühle, daß man mich lieben kann, selbst nach dem Tode noch lieben, dann kann ich doch nicht so ganz schlecht und böse sein. Nicht wahr?

... Endlich habe ich Ihnen nun doch die Wahrheit gesagt, gesagt, daß ich überhaupt gar nicht nach Hause geschrieben habe und die Meinigen gar nicht zu sehen wünsche. Auch Sie nicht. Behalten Sie mich im Gedächtnis, wie ich auf dem Bilde bin. Ich fürchte nur, sie telegraphieren. Aber einerlei! Das ändert doch nichts mehr an der Sache. All Ihr Blut könnte mir nun nicht mehr helfen. Nein, auch das nicht! Und so ist es gut, so ist es am allerbesten.

... Dies ist vielleicht das letztemal, daß ich den Bleistift zur Hand nehme. Aber vielleicht schreibe ich Ihnen auch noch einmal, und dann will ich auch meinen Namen unter den Brief setzen, denn bald werde ich ja nichts weiter mehr sein als ein bloßer Name. Und darum soll er am Schlusse des letzten Briefs stehen wie eine duftende Blume: Wenn ich nur wüßte, welche Ihrer Meinung nach am schönsten duftet: Ramilda oder Rimalda, Radilma oder Ridalma, Darilma oder Diralma, Dalmira oder Dilmara ...«


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