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XVI

Als Indrek im Herbst wieder zur Stadt kam, war die Schule schon im vollen Gange. Wie auch bisher stets, so verspätete er sich auch dieses Mal. Das schien ihm nun schon einmal vom Schicksal überhaupt beschieden zu sein.

Als Indrek eintraf, war Herr Maurus selbst gerade unten im großen Zimmer, wo er irgendeine Affäre mit Tigapuu und dem Fürsten klärte. Diese beiden waren nämlich während des Sommers, den sie beide in der Stadt verbracht hatten, große Freunde geworden. Sie gingen stets zusammen aus, wobei der Fürst die Mittel, Tigapuu seine reiche Erfahrung in den Dienst dieser Ausflüge stellte. Nach dem klugen strategischen Grundsatz »Getrennt marschieren, vereint schlagen« verließen sie das Haus stets auf verschiedenen Wegen, und zwar in der Weise, daß, wenn der Fürst die Vordertür benutzte, Tigapuu durch den Hof auf die Straße schlüpfte, oder umgekehrt. Und das mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß man den Eindruck gewann, es handle sich hier um einen wichtigen Punkt ihres Freundschaftsvertrages. Heimkehren taten sie dafür freilich in so munterer Laune, daß sie diese Abmachung anscheinend vergaßen, und meistens alle beide mit großem Lärm zur Vordertür ins Haus polterten, Düfte um sich verbreitend, die gleichzeitig an einen Bierausschank und einen Blumenladen gemahnten. Auf diese Düfte hatte es Herr Maurus eben gerade abgesehen, als Indrek mit seinem Bündel das Zimmer betrat. So geriet der Direktor plötzlich zwischen zwei Feuer, indem es galt, gleichzeitig den Ursprung dieser Düfte festzustellen und Indrek zu interpellieren, ob er nicht vielleicht ein wenig Geld mitgebracht hätte. Das eine durfte nicht unterlassen, das andere nicht verzögert werden, denn Düfte verdunsten bekanntlich schnell, und des Geldes wegen ist man nie sicher, bevor man es in der Hand hat. Dieses Dilemma löste Herr Maurus in der Weise, daß er Indrek mitsamt seinem Bündel im Vorzimmer Posto fassen ließ, dortselbst, wo er auch im vergangenen Herbst gewartet hatte, mit dem Unterschiede nur, daß der Lette Kopfschneider ihm damals einen Stuhl angeboten hatte, während sich heute niemand um ihn bemühte. So mußte er denn dort neben seinem Bündel dastehen, sogar im Mantel, denn bevor Herr Maurus mit jemand Geldangelegenheiten geordnet hatte, durfte er nichts anderes unternehmen. Und so stand er denn da und hörte zu, wie der Direktor die Parfümfrage löste.

»Wer ist hier gewesen?« forschte er, eifrig umherschnuppernd, »warum sind die Fenster geöffnet? Wer hat sie geöffnet?«

»Tigapuu«, erklang es im Chor.

»Aha!« rief der Direktor. »Holt mir mal den Tigapuu her.«

Und als dieser erschien, trat er nahe an ihn heran, beschnupperte ihn, ließ sich von ihm anhauchen, stieß ihn dann heftig mit der Faust vor die Brust und schrie:

»Du Schinder! Wo bist du gewesen? Was sind das für süße Düfte?«

»Ich habe einen bekannten Studenten besucht, der mit seiner Frau zusammen lebt; vielleicht ist es von daher«, meinte Tigapuu gleichmütig.

»Wer ist dieser bekannte Student, der mit solch einer Frau zusammen lebt? Wie ist sein Name?«

»Seines Namens kann ich mich nicht entsinnen«, sagte Tigapuu.

»Wie, wie?« schrie der Direktor. »Ein bekannter Student, lebt mit solch einem Frauenzimmer, und seines Namens kann er sich nicht entsinnen?! Unser Tigapuu kann sich des Namens dieses verheirateten Studenten nicht entsinnen!«

»Ja, es ist ein Freund des Fürsten«, bemerkte Tigapuu.

Nun wurde auch der Fürst herbeizitiert und ebenfalls von Herrn Maurus vor allem von allen Seiten beschnuppert. Sonderbarerweise duftete dieser Sohn der Berge genau ebenso wie Tigapuu, nur mit dem Unterschiede, daß er den Namen des Studenten, der mit seiner duftenden Frau zusammen lebte, kannte, während Tigapuu ihn nicht hatte nennen können.

»Hier ist mein Haus«, erklärte Herr Maurus nun, »und in diesem meinem Hause herrscht solch eine heilige Ordnung, daß keiner meiner Jungen einen Freund besuchen darf, der solch eine duftende Frau hat, denn sonst bringt er diese Frauendüfte auch in mein Haus mit. Aber ich werde mich schon noch erkundigen, ob Ihr Freund wirklich solch eine duftende Frau hat«, fügte er in drohendem Ton hinzu. »Das werde ich unbedingt, und dann wollen wir weiter reden. Herr Ollino, Herr Ollino!« rief er dann, hinter die Tür des Genannten stürzend, »kommen Sie her und notieren Sie den Namen des Studenten, der eine so duftende Frau hat, daß Herr Maurus es bis hierher spüren kann.«

Aber Ollino war nicht auf seinem Zimmer, und so blieb denn der Name des Studenten mit der duftenden Frau unaufgezeichnet, denn Herrn Maurus selbst gebrach es hierfür an Zeit: wartete doch draußen der Wargamäe Indrek mit Geld. Und darum eilte er nun ins Vorzimmer, wo er Indrek winkte, ihm zu folgen, worauf sie alle beide die Treppe emporstiegen, dieselbe Treppe, die im vergangenen Herbst so nach der trauernden Pastorin geduftet hatte. Aber heute war davon nichts zu spüren, und darum verhärtete Indrek vielleicht auch sein Herz, mehr jedenfalls, als es Herrn Maurus lieb sein konnte, der, in seinem Zimmer angelangt, vor Indrek haltmachte und ihn über die Brille hinweg forschend betrachtete.

»Wieviel Geld haben Sie mitgebracht?« fragte er, indem er die Hand ausstreckte, als erwarte er, Indrek werde ihm das Geld hierselbst in die geöffnete Rechte zählen. Aber das geschah nicht, vielmehr wünschte Indrek vor allem, mit Herrn Maurus ein Wörtchen zu reden.

»Erst das Geld, dann die Erklärung«, sagte Herr Maurus. »Die alte Schuld nebst Zinsen, vor allem die Zinsen, und dann reden wir weiter.«

Aber davon wollte Indrek nichts wissen. Vielmehr wünschte er, die alte Schuld nebst Zinsen fürs erste auf sich beruhen zu lassen und mit dem neuen Gelde ein neues Leben zu beginnen. Und dieses neue Leben sollte sich in der Weise gestalten, daß er nun nicht mehr unten im Zimmer würde zu schlafen brauchen und die Türglocke ihn ganz und gar nichts mehr angehen solle, vielmehr würde er für sein neues Geld nur noch lernen und die Schule besuchen, weiter nichts.

»Wieviel Geld haben Sie denn überhaupt?« fragte der Direktor schließlich, um dann, als Indrek ihm die Summe genannt, fortzufahren: »Das ist zu wenig; damit ist nichts anzufangen. Denn Sie kommen ja nun in eine höhere Klasse, da kosten die Lehrkräfte mehr.«

Aber gleichzeitig streckte er wiederum die Hand aus, um das Geld entgegenzunehmen, als hätten sie sich schon geeinigt. Und nun überreichte Indrek ihm die vorgenannte Summe, die der Direktor ins Schubfach seines Tisches schob, worauf er fragte:

»Und die Zinsen? Wie bleibt es mit denen? Haben Sie denn gar nichts mehr?«

Indrek verneinte.

»Nun, schön«, erklärte der Direktor nun, »ich verlange auch gar keine Zinsen, aber dafür müssen Sie ordentlich lernen.« Und bei diesen Worten blickte er Indrek schmunzelnd an, als handle es sich bloß um einen dummen Scherz.

Und so wurde denn Indrek wieder ein vollberechtigter Schüler, der sich vor den Vons, Pans und Grafen keineswegs zu schämen brauchte. Leider ist von diesen aber nun keiner mehr zur Stelle. Vielmehr ist eine ganze Schar neuer Gesichter aufgetaucht, für die Indrek indessen nicht das geringste Interesse hat. Von den alten »Größen« ist nur noch der Fürst übriggeblieben, aber auch sein Ruhm erblaßt von Tag zu Tag mehr, denn inzwischen ist aus Tiflis irgendein Grusinier oder Armenier eingetroffen, der zu berichten weiß, daß an solchen Fürsten im Kaukasus kein Mangel herrsche, so daß vier, fünf Stück von ihnen in ein kleines feuchtes Zimmerchen passen. Aber was war das für ein Fürst, der in Scharen mit anderen zusammen wie die Wanzen in modrigen Stuben lebte? Genau genommen empfanden alle ein gewisses Bedauern wegen der Erniedrigung dieses stolzen Repräsentanten des Instituts, namentlich auch Herr Maurus, der bestrebt war, den Eindruck der Erklärungen des neuen Schülers aus Tiflis durch die Feststellung abzumildern, daß es sich hier weder um einen Grusinier noch um einen Armenier handle, als vielmehr um einen reinblütigen Juden, und überdies noch den Sohn eines Schneiders. Da nun nach Herrn Maurus' Ansicht alle Juden Nihilisten, Sozialisten und Revolutionäre waren, so tat man gut daran, sich vor ihnen in acht zu nehmen, denn sie morden Fürsten, Könige und Kaiser. »Aber was geht uns das an?« meinte Herr Maurus. »Was haben wir mit dem Sozialismus oder dem Nihilismus zu tun? Gottlob nichts! Mögen doch die Deutschen, die Franzosen und Engländer ihren Sozialismus haben und ihre Könige und Fürsten ermorden, was geht uns das an? Höchstens insofern, als auch der Heiland Sozialist war, das heißt eben ein Jude mit ein wenig göttlichem Blut. Raufte er doch zusammen mit seinen Jüngern fremde Ähren und verfluchte einen fremden Feigenbaum, so daß dieser verdorrte. Das ist doch reiner Sozialismus. Glaubt ihr, daß solch ein Sohn seinem Vater Freude machen kann? Nein, natürlich nicht. Und darum war es ein Mißgriff Gottes, daß er seinen Sohn als Juden auf die Welt kommen ließ. Und eben darum mußte Christus auch so jung sterben, wieder in den Himmel zurückkehren, sterben durch die Hand eines ehrlichen Römers, der weder Jude noch Sozialist war. Das war Gottes Ratschluß, daß sein Sohn nicht durch die Hand eines Sozialisten, sondern eines braven Römers sterben sollte. Die Jungfrau Maria hat ihn geboren, ein braver Römer ihn getötet.« Schließlich verstieg Herr Maurus sich in seinen profunden Betrachtungen so weit, seinem Bedauern Ausdruck zu geben, daß Christus nicht als Este auf die Welt gekommen sei, als welcher er noch jetzt am Leben sein könnte, denn was seien zweitausend Jahre vor dem Herrn!

So belehrte Herr Maurus seine Zöglinge über die schwierigen Probleme des Sozialismus, der Revolution und der Erlösung, von denen alle doch so wenig wußten.


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