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XVII

Als Indrek heimgekommen sich zu Bett legte, spürte er sogleich, daß er diese Nacht einen langen und tiefen Schlaf tun würde. Das Tragen des schlafenden Kindes hatte ihn doch tüchtig ermüdet, aber es war eine wohlige Müdigkeit, eine Art tiefen Wohlbehagens, als habe sein Körper zugleich mit der Wärme des Kindes auch dessen kindlichen Sinn eingesogen, der alle Unruhe der Welt, alle Freuden und Leiden, alles Glück und Unglück viel naiver und natürlicher auffaßt als die Erwachsenen, die leicht geneigt sind, aus jedem Ereignis gleich eine Lebensfrage zu machen.

»Das war in der Tat eine nette Beerdigung«, murmelte er vor sich hin und merkte erst nachträglich, wie sonderbar dieser Satz klang. Und um diesen seinen unpassenden Ausspruch gewissermaßen wieder gut zu machen, begann er sich eindringlich vorzustellen, wieviel Elend und Not dieses Blutbad doch im Gefolge hätte. Aber sein Wohlbehagen wurde dadurch nicht weiter beeinträchtigt, das saß ganz tief in seinem innersten Wesen.

Als er am nächsten Tage Kristi über die Beerdigung und die schlafenden Kinder berichtete, da wollten Indreks Erlebnisse auch ihr wie ein lustiges Abenteuer erscheinen, und sie bedauerte lebhaft, nicht die Möglichkeit gehabt zu haben, dieses Abenteuer mitzumachen, überhaupt gestaltete sich der ganze furchtbare Vorgang mit allen seinen Folgen in der Vorstellung des Mädchens, das wegen seiner Verwundung noch immer das Bett hüten mußte, zum interessantesten, schönsten Ereignis ihres jungen Lebens, so daß sie sogar ein Gefühl des Bedauerns nicht los wurde, daß dieses schönste Ereignis nun vorüber sei.

»Denken Sie manchmal auch etwas, was Sie eigentlich gar nicht denken wollen?« fragte sie Indrek.

»Die Gedanken kommen und gehen, wer kann ihnen befehlen«, meinte Indrek.

»Ja, nicht wahr!« bestätigte Kristi eifrig und fügte dann hinzu: »Und umgekehrt – manchmal möchte man etwas denken und kann es einfach nicht.«

»Wie denn das?« fragte Indrek.

»Es geht eben einfach nicht«, beharrte Kristi bei ihrer Behauptung. »Ich kann mir zum Beispiel unmöglich vorstellen, daß Sie tot sein könnten. Von mir selbst kann ich mir das viel leichter denken: man liegt eben einfach da, ohne ein Glied zu rühren, ist über und über blutig. Aber von Ihnen kann ich das ganz unmöglich denken.«

»Nun, das ist ja fürs erste auch noch gar nicht nötig«, tröstete Indrek das Mädchen. »Aber wie ist es mit der Freiheit? Können Sie sich vorstellen, daß die plötzlich nicht mehr sein könnte? Ihretwegen gab es das große Blutbad, dann die große Beerdigung, alle meinten, nun seien sie im Besitz der Freiheit, aber dann plötzlich wäre sie ihnen wieder entglitten.«

»Nein, das kann ich mir auch nicht denken«, versetzte Kristi ohne zu zaudern, »gerade wegen dieses Mordens damals kann ich es nicht und dann auch wegen meines eigenen Blutes – und daß Sie mich damals so auf Ihren Armen nach Hause brachten.«

Und doch mußte Kristi sich schon sehr bald mit diesem Gedanken befreunden, sie und die anderen, mochten sie sich nun für Freiheitskämpfer halten oder nicht. Denn schon nach wenigen Tagen beeilte sich die Regierung, die gewährten Freiheiten näher zu erläutern, und zwar in einer Weise, die ohne weiteres erkennen ließ, daß im Grunde genommen alles beim alten bleiben solle, nur die Namen hatten sich geändert. Die Reform war durchgeführt – die Kosaken hatten neue Knuten bekommen, die Polizei neue Uniformen, die Gendarmen bessere Waffen, so daß ein jeder sich mit eigenen Augen vom Einfluß der Freiheit und gewährten Rechte überzeugen konnte.

So mußte es allen von Tag zu Tag immer klarer werden, daß der Genosse Krösus recht hatte, wenn er behauptete, mit der Freiheit sei es dieselbe Geschichte wie mit einem Feinde, der nicht früher überwunden sei, bevor er am Boden liege, und man ihm den Fuß auf die Gurgel gesetzt habe.

Zur Durchführung dieser Operation bedurften die Freiheitskämpfer aber vor allem Geld, und immer wieder Geld, das sich auf diese Weise als die eigentliche Freiheit darstellte oder doch als ihr Symbol. Es schuf Vertrauen, besorgte Waffen und Anhänger, organisierte die Massen. Wer also für die Freiheit kämpfen wollte, der mußte vor allem Geld besorgen – so lautete die Losung in den Fabriken und Werken, in den Handwerksstuben und Beamtenkanzleien. Geld mußte um jeden Preis geschafft werden.

Aber es mochte wohl nur wenige geben, die diese Binsenwahrheit über den engen Zusammenhang zwischen Geld und Freiheit ernster nahmen als Krösus. Wie ernst dieser es damit nahm, davon konnte sich Indrek einmal mit eigenen Augen überzeugen. Als er eines Tages ziellos durch die Straßen bummelte, kam ihm eine zweispännige Droschke entgegengefahren, in welcher Genosse Krösus lässig zurückgelehnt Platz genommen hatte. Als er Indrek, der ihn höflich grüßte, erkannte, ließ er halten und forderte ihn auf, neben ihm Platz zu nehmen, wobei er ihn sogar als »Genossen« anredete, was diesem nicht wenig schmeichelte, denn was hätte es wohl Schöneres, Ehrenvolleres geben können, als vom berühmten Krösus so intim angeredet zu werden.

»Genosse, wollen Sie nicht ein Stückchen mit mir fahren«, sagte Krösus, und es klang wie eine Bitte, die aber doch im Unterton deutlich einen Befehl durchklingen ließ, dem man ohne Widerspruch nachzukommen habe.

»Ein kleiner revolutionärer Akt nur, weiter nichts«, sagte Krösus, nachdem die Droschke sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, um in schnellem Tempo der Innenstadt zuzurollen. Vor einem größeren Laden ließ Krösus halten.

»Kommen Sie mit«, bedeutete er Indrek und rief dann dem Kutscher über die Schulter ein barsches »Warten!« zu.

Im Laden ließ Krösus den Inhaber herausbitten. Als dieser erschien, sagte er:

»Wir hätten mit Ihnen ein paar Worte im Vertrauen zu reden. Die Sache ist von Wichtigkeit, und wir haben wenig Zeit. Unsere Droschke wartet draußen.«

Der Inhaber schien einigermaßen erstaunt, bat die Herren dann aber doch höflich näherzutreten und führte sie in sein Kontor, aus dem einige Angestellte auf seinen Wink verschwanden.

»Bitte, womit kann ich dienen?« sagte er höflich.

»Die Geschichte ist ganz einfach«, begann nun Krösus. »Wie Ihnen bekannt sein wird, ist gegenwärtig der Kampf um die Freiheit in vollem Gange ...«

»Wie?« rief der Kaufmann erstaunt, »die gewünschten Freiheiten sind ja doch schon gewährt.«

»Bitte mich nicht zu unterbrechen«, schnitt Krösus dem Kaufmann in herrischem Tone das Wort ab. »Und stecken Sie Ihre Nase nicht in Dinge, von denen Sie nichts verstehen. Betreiben Sie Ihr Geschäft, das ist Ihre Sache, wir wiederum kämpfen für die Freiheit, das ist unsere Sache. Und der Freiheitskampf kostet Geld, das wir nicht haben. Sie aber wohl, und daher frage ich Sie im Namen meiner Partei: wie viel sind Sie bereit, freiwillig zu spenden? –«, er betonte das Wort »freiwillig«, so daß der Kaufmann unwillkürlich auf den Gedanken kommen mußte, daß die Zahlung auch erzwungen werden könne –, »für die Freiheitskasse zur Besorgung von Gewehren, Bomben und Maschinengewehren. Keine Erklärungen, wenn ich bitten darf, einfach ja oder nein, damit ich Bescheid weiß und meiner Partei berichten kann.« Bei diesen Worten zog Krösus gleichsam in Gedanken seinen Revolver aus der Tasche, als wolle er bloß mal feststellen, ob mit dem alles in Ordnung sei. Als er die Erregung des Kaufmanns bemerkte, hob er beruhigend die Hand und sagte: »Sie haben nichts zu fürchten. Ihnen droht auch nicht die geringste Gefahr, wir sind doch keine Räuber oder Erpresser, ich wollte nur mal nachsehen, ob mein kleines Spielzeug in Ordnung ist, denn man kann ja schließlich nie wissen. Nur eines behalten Sie bitte im Auge: Wir sind entschlossen, das ganze Volk zu mobilisieren, um die Satrapenherrschaft an der Newa zu stürzen, damit sich solche Blutbäder wie kürzlich nicht mehr wiederholen. Die Armen opfern hierfür ihr Blut, die Reichen ihr Geld. Also bitte!«

Krösus fingerte immer noch an seinem Revolver herum mit steinerner Miene und Augen so kalt und hart wie Metall.

»Ich verstehe«, sagte der Kaufmann, »ich bin leider kein reicher Mann, aber hundert Rubel könnte ich immerhin spenden, denn ich sympathisiere mit Ihrer Bewegung.«

»Für Ihr Geschäft ist das zu wenig«, sagte Krösus, »sagen wir dreihundert, denn Sie müssen doch bedenken, daß wir nicht alle Tage kommen.«

»Dreihundert finden sich im ganzen Geschäft nicht«, erklärte der Kaufmann, »bedenken Sie doch selbst die Zeiten. Wer kauft jetzt überhaupt etwas. Aber hundert mit Vergnügen.«

Schließlich erklärte Krösus sich auch mit dieser Summe zufrieden. Als er das Geld in die Tasche schob, sagte er bedeutsam:

»Sie täten klug daran, der Polizei nichts von der Sache zu sagen, denn sonst könnten Sie leicht in den Verdacht kommen, unsere Bewegung zu unterstützen und andrerseits auch wieder uns zu bespitzeln. Sie verstehen?«

»Ich verstehe schon«, erwiderte der Kaufmann, »die Sache bleibt unter uns.«

»Vielen Dank also, im Namen meiner Partei«, sagte Krösus, den Hut lüftend, und dann verließen sie den Laden und bestiegen die Droschke, um schon in nächster Nähe wiederum haltzumachen und ein Geschäft zu betreten, wo sich dann dieselbe Geschichte wiederholte. Nur daß die Inhaberin hier eine alte Dame war, die in Tränen ausbrach und erklärte, mehr als fünfzig nicht geben zu können, und dann ängstlich fragte:

»Aber wie steht es denn nun mit der Polizei? Muß die auch noch immer weiter etwas bekommen, oder kann ich sagen, ich hätte schon Ihnen gezahlt?«

Diese Frage schien Krösus denn doch ein wenig unerwartet zu kommen, aber er faßte sich sogleich und sagte:

»Sie sind ein Huhn, verehrte Frau oder Fräulein oder was Sie nun sind. Die Polizei steht noch nicht zu unserer Verfügung. Noch nicht. Aber wenn das mal der Fall sein wird, so werden wir sie in eine Miliz umwandeln. Dann wird es überhaupt keine Polizei mehr geben. Verstanden?«

»So daß sie also fürs erste immer noch bleibt und man ihr auch immer weiter zahlen muß?« fragte die alte Dame im Bestreben, nur ja ganz sicher zu gehen.

»Das müssen Sie schon selbst wissen, was Sie zu tun haben«, sagte Krösus, und fügte dann noch die Warnung hinzu, von der ganzen Sache nichts verlauten zu lassen, sondern sie völlig geheimzuhalten.

»Ich verstehe, ich verstehe«, nickte die alte Dame verständnisvoll, »die Polizei schärft einem auch immer wieder ein: reinen Mund halten, sonst ...«

»Ein Weib bleibt doch immer ein Weib«, sagte Krösus, als sie die Droschke wieder bestiegen, »Verstand nicht für fünf Kopeken. Kapiert nicht, was Polizei ist, was Miliz, was Revolution, was ein Gendarm. Grützkopf!«

So besuchten sie noch eine ganze Reihe von Läden, und überall fand Krösus' Anliegen Entgegenkommen. Nur im letzten Geschäft weigerte der Inhaber sich kategorisch, zu zahlen. Krösus inszenierte zwar auch hier die eindrucksvolle Spielerei mit dem Revolver, aber diese verfehlte vollkommen ihre Wirkung.

»Nun schön«, sagte Krösus, endlich sich erhebend, »ich werde meiner Partei über Sie berichten, die wird dann das Weitere beschließen.«

»Ganz wie Ihnen beliebt«, versetzte der Kaufmann, »ich kenne den Rummel. Mit der Polizei hat man da seine liebe Not. Wenn Sie mich dazu zwingen können, und es für mich in irgendeinem Sinne vorteilhaft ist, dann werde ich natürlich zahlen, aber fürs erste ist die Polizei meines Erachtens Ihnen doch noch über.«

»Das heißt also. Sie drohen mit der Polizei«, fiel Krösus dem Kaufmann schneidend in die Rede.

»Nein, wozu das«, lächelte der Kaufmann verbindlich. »Es wäre nicht klug, sich zwischen zwei Feuer zu begeben. Ich zahle nur dort, wo es sich absolut nicht vermeiden läßt und halte den Mund. Ist die Polizei der Stärkere, so zahle ich eben ihr, sind Sie der Polizei über, dann eben Ihnen. Einfache Geschichte, nicht? Geschäft ist Geschäft, und ich bin eben Geschäftsmann, nicht Politiker. Meine Freiheit ist dort, wo die Steuern niedriger sind und der Geschäftsgewinn höher, das übrige interessiert mich nicht. Lassen Sie uns also in aller Freundschaft scheiden, und wenn Sie die Polizei an die Wand gedrückt haben, dann kommen Sie wieder, das ist meine Meinung.«

»Die Polizei kann Sie gegen uns nicht schützen«, bemerkte Krösus. »Wo war sie neulich, als die Läden demoliert wurden?«

»Richtig«, erklärte der Kaufmann sich mit diesem Einwande einverstanden, »aber auch Sie waren damals nirgends zu sehen. Demolieren und Rauben waren plötzlich zu einer Privatangelegenheit geworden. Meinem Freunde wurde der Laden ausgeräumt. Da steckte auch von mir Geld darin, so daß ich schon ein ganz hübsches Sümmchen zum besten der Revolutions- und Freiheitskasse geopfert habe.«

»Sie sind also der einzige, der ...«

»Die Polizei wiederholt mir das schon seit Jahren«, unterbrach der Kaufmann ihn lachend.

Und damit schied man voneinander.

»Diesem Reaktionär muß man die rote Farbe ein wenig deutlicher vor die Augen malen, damit er Vernunft annimmt«, zischte Krösus Indrek zu, als sie sich in die Droschke schwangen.

Aber das letzte Gespräch schien Krösus die Laune doch ein wenig verdorben zu haben, denn er erklärte plötzlich, er habe ein wichtiges Geschäft zu erledigen, das er beinahe ganz vergessen hätte. Er ließ die Droschke halten und verabschiedete sich von Indrek, um dann stolz davonzurollen, den Hut in die Stirn gedrückt, die Beine übereinandergeschlagen. Indrek stand noch eine ganze Weile wie betäubt da und blickte der Droschke nach. Freude und Stolz erfüllten ihn beim Gedanken, daß er solch einen bedeutsamen revolutionären Akt hatte mitmachen können. Und in wessen Gesellschaft noch überdies? Mit Krösus, der in der ersten Reihe der Freiheitsapostel marschierte, wenn nicht gar an der Spitze.

Das auf diese und auch auf weniger revolutionäre Weise gesammelte Geld sollte zur Verbreitung und dem Ausbau der revolutionären Ideen, namentlich auch auf dem Lande, verwendet werden. Die Schlagworte lauteten: Los von der Kirche, Befreiung von der Vormundschaft der Pfaffen, dieser Priester der Gewalt und Schleppenträger der Gutsbesitzer. Die Zeiten waren vorüber, wo man seinem Feinde, der einem auf die eine Backe einen Streich gegeben, auch die andere hinhielt, jetzt sollte jeder Streich nicht mit zwei, sondern mit zwanzig wiedervergolten werden. Das war die neue Lehre und die wahre revolutionäre Tugend, die gepredigt wurden.


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