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XXII

Indrek begann nun immer häufiger die Familie Waarmann in ihrer Kellerwohnung aufzusuchen, als sei dieses die einzige Stelle auf der weiten Welt, wo man doch ein wenig Liebe finden könne. Hier gab es so viel Armut und Elend, daß das Leben ohne Liebe sich direkt unerträglich hätte gestalten müssen, namentlich für Tiina, die manchmal tagelang allein daheim saß, wenn die Mutter auswärts Wäsche wusch und Molli als Näherin beschäftigt war. Dann lief Indrek manchmal für kürzere, manchmal für längere Zeit, wie es sich gerade machte, hinüber, um das krüpplige Kind zu besuchen, das zum Zeitvertreib die ganze Wohnung auf den Kopf stellte und dann oft inmitten von Haufen alter Lumpen und allerlei Krams müde und gelangweilt eingeschlafen war. Sogar des Abends, wenn Mutter und Schwester heimkehrten, hatten sie oft keine Zeit für das Kind, denn dann gab es tausend andere Dinge zu erledigen.

Zu ihren Pflichten gehörte unter anderem auch die Schneeabfuhr von der Straße in den Hof und Garten, und diese Arbeit wurde meistens des Abends, ja sogar in der Nacht vorgenommen, da sich sonst hierfür keine Zeit finden wollte. Einmal, als die zusammengeschaufelten Schneehaufen wie die Kornhocken auf der Straße dastanden, kam Indrek Mutter und Tochter bei ihrer Abfuhr zu Hilfe, nicht ernstlich anfangs, sondern mehr zum Spaß, aus dem aber alsbald richtiger Ernst wurde. Da es Indrek aber peinlich gewesen wäre, bei dieser Arbeit von Bekannten gesehen zu werden, so gab Molli ihm den alten Mantel ihres verstorbenen Vaters und seine Mütze, die dem Jungen viel zu groß war, so daß sie ihm über die Augen zu fallen drohte, und er die neben ihm arbeitende Molli kaum sehen konnte. Denn Molli war immer dicht neben Indrek beschäftigt, dessen Schaufel nirgends ein so günstiges Betätigungsfeld fand wie in Mollis Nähe.

Eine angenehme weiche Wärme durchströmt alle Glieder bei dieser eifrigen Arbeit, teilt sich dem ganzen Körper mit, scheint sogar auch in die Haare, ja sogar in die Kleider zu dringen, denn wie wäre es sonst Wohl zu erklären, daß es so verwirrend süß und bestrickend ist, wenn sich Mollis und Indreks Kleider bei der eifrigen Arbeit berühren oder ein Windstoß zusammen mit lockerem Schnee Mollis Haarsträhnen, die gar nicht recht halten wollen, Indrek ins Gesicht treibt. Mag man sagen was man wolle, aber diese heimliche Schneeabfuhr ist unbeschreiblich lustig, so daß man die damit beschäftigten Leute nur beneiden kann. Wenn Indrek das Institut des Herrn Maurus beendet haben wird, wenn er Geometrie und Algebra und lateinische Grammatik von A bis Z im Kopfe haben wird, dann wird er vielleicht selbst Hausmann werden, um die Möglichkeit zu haben, auf der Straße nach Herzenslust im Schnee zu wühlen oder doch wenigstens Schneefahrer, der auf seinem Schlitten dahinkutschiert, den Heusack oder auch nur den reinen weißen Schnee zum Sitz.

Als Indrek Mutter und Tochter Waarmann bei der Schneeabfuhr begann behilflich zu sein, da erwies es sich alsbald, daß Mutter Waarmann zu dieser Zeit stets irgendein anderes wichtiges Geschäft zu erledigen hatte, so daß Indrek und Molli bei der Arbeit allein blieben, zumal eigentlich nur zwei richtige Schneeschaufeln vorhanden waren, während die dritte Schaufel eine gewöhnliche Gartenschaufel war, mit der es kein Vergnügen war, Schnee zu schippen. Tiina kam für diese Arbeit ebenso wie für jede andere natürlich überhaupt nicht in Frage, aber bei gelinderer Witterung humpelte sie gelegentlich auf ihren Krücken auf die Straße hinaus, oder sie kletterte auf das Fensterbrett und lugte durch die Scheiben, um den beiden zuzusehen.

Anfangs war es immer so, daß, wenn der eine den kleinen Schneeschlitten zog, der andere ihn von hinten schieben half, aber bald kamen Molli und Indrek dahinter, daß dieses doch nicht die richtige Methode der Schneeabfuhr wäre. Vielmehr wäre diese in der Weise zu bewerkstelligen, daß, wenn der eine lachend vorne zieht, der andere sich auch vorne einspannen muß, um den Arbeitskameraden zu entlasten, und wenn der eine sich daran macht, den Schlitten aus aller Kraft vorwärtszuschieben, so daß er keucht und kreischt, der andere am besten daran tut, sich kräftig schiebend neben ihn einzuschalten, denn zwei sind doch immer mehr als einer. Das wußte namentlich die runde Molli, die ja mit dieser Arbeit viel vertrauter war als Indrek, den sie nun in dieser Kunst unterrichtete und belehrte. Und so geschah es denn einmal, als sie im Garten die besonders hoch und schwer geratene Schneefuhre nebeneinander hinter sich herzerrten, gleichzeitig im hohen Schnee stolperten und hinstürzten, was ja in so tiefem, lockerem Schnee, unter dem sich vereiste alte Schneeklumpen verbergen, leicht geschehen kann. Denn gerade solch ein Schnee lag im Waarmannschen Garten unter den alten Apfelbäumen, wohin sie den Schnee von der Straße schleppten.

Genau genommen stolperte und stürzte zuerst Molli, und dann erst Indrek und zwar so unglücklich, daß er halb auf das Mädchen fiel. Und als er dann versuchte, sich im weichen lockeren Schnee zu erheben, suchte das lachende Mädchen dasselbe zu tun, und dabei verwickelten sich ihre Beine irgendwie, so daß sie aufs neue hinstürzten, Indrek noch unglücklicher als das erstemal, nämlich nahezu ganz über das Mädchen. Das alles geschah halb unbewußt, halb wie im Traum, denn die betäubende Arbeitswärme saß beiden noch in den Knochen. Nur eins merkte Indrek deutlich: auch im kalten, lockeren Schnee war das Mädchen warm und weich, so daß man es sogar durch ihre Kleidung deutlich spürte. Und als er dann den Versuch machte, sich zu erheben, da bemerkte er, daß sie sich gerade unter dem alten Apfelbaum befanden, unter dem er mit dem schlafenden Kinde auf den Armen durchgegangen war, von dessen Zweigen kalte Tropfen auf die nackten Beine des Kindes gefallen waren, so daß dieses erwachte. Im Herbst hatte der Baum voller roter Äpfel gehangen, voller roter Äpfel, fuhr es Indrek durch den Kopf, als er erneut hinfiel. Aber dann bemerkte er plötzlich, daß sein Gesicht dem Gesicht des Mädchens ganz nahe war, dessen lachender Mund offen stand, so daß er ihren heißen Atem direkt spüren konnte; und die runden Augen des Mädchens schienen augenblicklich gar nicht so sehr rund und blitzten im Dunkeln. Im nächsten Augenblick hatte das Mädchen ihm die Hand um den Hals geschlungen, und dann sank Indrek mit seinem Munde auf den Mund des Mädchens, nur ein wenig schief, so daß Mund und Mund sich nicht völlig deckten, was doch sonst unbedingt hätte der Fall sein müssen, wo der Mund des Mädchens doch so klein und rund war. Oder lachte es immer noch mit geöffneten Lippen? Bewußt kamen Indrek diese Gedanken freilich erst später, aber unbewußt mußte er etwas Ähnliches wohl schon dort unter dem alten Apfelbaum geahnt haben, denn er hatte ja versucht, seinen Mund richtig zu verschieben; aber noch bevor ihm das gelungen war, war der Mund des Mädchens unter dem seinen überhaupt verschwunden, und er schnappte mit den heißen Lippen nur kalten Schnee auf.

»Sie sind so groß und lang, daß Sie einen direkt ersticken können«, sagte das Mädchen, indem sie sich losriß, um sich zu erheben. Diese Worte und der harmlose Ton der Stimme brachten auch Indrek wieder zum Bewußtsein, dessen Glieder gleichsam von einer Lähmung befallen waren. Wieder auf den Füßen, wollte er irgend etwas Entscheidendes tun oder sagen, was schließlich aber doch ungetan und ungesagt blieb. Nur das Mädchen redete wie für zwei.

Aber als die Arbeit dann beendet war und Indrek sich zum Gehen anschickte, begleitete das Mädchen ihn bis zur Pforte, und hier fanden sie einander im Schatten der nahezu gegen die Wand gelehnten Pforte, sich fest umfassend und mit Augen und Mund, Augen und Mund des anderen suchend. Nun fanden ihre Lippen schon fest und sicher gerade zueinander, so daß Indrek die Zähne des Mädchens deutlich so fest sich in seine Lippen bohren fühlte, daß es ihm schien, als spüre er auf der Zunge einen leichten Geschmack von Blut. Aber weh tat das nicht, ganz und gar nicht, deswegen hätte der Druck ruhig noch weit stärker sein können. Aber dafür reichten die Kräfte des Mädchens nicht, so daß Indrek ihr zu Hilfe kommen mußte, als seien sie beide noch eben dabei, den Schlitten da hinter der Pforte hervorzuzerren, wo er sich weiß Gott irgendwie festgefahren.

Schließlich riß das Mädchen sich los und sagte keuchend, mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme:

»Sie verschlingen mich ja geradezu, verschließen mir den Mund und drücken mir die Nase schief. Wie soll ich denn da überhaupt noch atmen!«

Aber Indrek umfaßte sie wortlos aufs neue und küßte sie so lange, bis ihre Beine zu wanken begannen und er sie mit den Händen stützen mußte und ihr Körper so weich und schmiegsam wurde, daß ihre Knochen überhaupt nicht mehr zu spüren waren, geschweige denn die Zähne, nur etwas Warmes, Duftendes, das man mit großen durstigen Zügen hätte in sich schlürfen mögen, so wunderbar süß berauschte es.

Von diesem Abend ab stand für Indrek alles im Zeichen dieses neuen Erlebnisses. Auf der ganzen Welt gab es nichts als nur dieses eine, und was er tat und trieb, alles geschah schließlich nur zu dem Zweck, um mit Molli zusammenzukommen. Wochen und Tage im Kalender hatten keinen anderen Sinn, als ein Wiedersehen mit ihr zu ermöglichen, wenn auch nur für wenige Minuten.

»Wußtest du, daß es so kommen würde?« fragte das Mädchen Indrek einmal.

»Nein«, versetzte er. »Wie sollte ich das wissen?«

»Aber ich wußte es«, sagte das Mädchen. »Ich wußte es schon damals, als wir nebeneinander auf dem Strohbund saßen und Tiina auf deinem Schoße schlief.«

»Wie konntest du das wissen?« forschte Indrek erstaunt.

»Ich ahnte es«, erklärte das Mädchen. »Aber ich dachte, es würde viel früher dazu kommen; ja, ich dachte eigentlich, daß es schon damals auf dem Strohbund dazu hätte kommen können als Tiina schlief.«

Diese Worte belehrten Indrek darüber, daß das Mädchen ihr Verhältnis viel einfacher auffaßte als er. Seines Erachtens war etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes geschehen, worüber sich, genau genommen, nicht sprechen ließ. Das konnte man tun, das konnte man empfinden, davon konnte man träumen und daran denken, aber davon reden, nein, das konnte man nicht, denn es gab ja gar nicht so tiefe Worte, um so etwas auszudrücken.

Im übrigen aber hatte dieses Erlebnis zur Folge, daß Indrek mit Lernen nachzulassen begann.

»Sind Sie Esel verliebt oder was ist sonst mit Ihnen los?« fragte Herr Molotow, als Indrek sich wieder mal durch völlige Kenntnislosigkeit hervorgetan hatte. »Irgendeine Gans hat Sie vermutlich behext.«

Und als Indrek statt einer Antwort nur über und über errötete, fuhr der Lehrer fort:

»Hüten Sie sich vor den Weibern! Das kann ich Ihnen nur raten. Die Mathematik liebt die Weiber nicht, denn wo Weiber sind, da ist Narretei. Die Weiber machen einen zum Narren. Ja, dazu sind sie recht eigentlich da, um den Mann zum Narren zu machen. Weiß Gott, was der Mann nicht auf der Welt alles erreicht hätte, wenn dieses Kreuz ihm nicht ständig am Halse hängen würde.«

Es fehlte nur wenig, daß Indrek ihm vor der ganzen Klasse ein hohes Lied der Liebe gesungen hätte, und ohne Weiber gab es doch keine Liebe.

Die seltsame Betäubung, in welche Indrek verfallen, hielt bis zum Frühling an. Dann begann es immer häufiger vorzukommen, daß Molli keine Zeit hatte, mit ihm zu kommen, wenn Indrek sie zu einem Spaziergang aufforderte. Ja, manchmal traf er sie nicht einmal zu Hause an, wenn sie seiner Meinung nach dort hätte sein müssen. Dann mußte er mit Madam Waarmann und ihrer jüngeren Tochter vorliebnehmen und immer wieder ihrem Bericht darüber zuhören, was sie früher gewesen, wo und wie sie gelebt, mit wem sie verkehrt, welche Lebensgewohnheiten sie gehabt, wie sie den Tisch gedeckt, was sie gegessen, was sie getragen habe und wie sie schließlich Molli erzogen, damit diese einen guten Mann finden möge.

»Meine Tochter sucht einen Mann, der hundert Rubel monatlich verdient und schon um die Mittagszeit Feierabend macht«, erklärte Madam Waarmann offenmütig. »Und ich bin ganz ihrer Meinung. Irgendein Grünschnabel kann natürlich nicht mit solch einem Gehalt rechnen, aber einen Grünschnabel soll sie auch gar nicht nehmen. Mit jungen Leuten amüsiert man sich, liebelt, bummelt, tanzt man, aber heiratet sie nicht. Heiraten tut man nur einen ausgewachsenen Mann. Daß er älter ist, hat nichts zu bedeuten; ältere verstehen viel tiefer zu lieben als junge. Die jungen Männer, die fangen schon bald nach der Hochzeit an, anderen nachzulaufen. Aber das tun die alten nicht. Darum sage ich meiner Tochter stets: nimm nur einen älteren, der läuft nicht jedem Unterrock nach und verdient mehr, verdient seine hundert Rubel monatlich und macht schon mit der Mittagspause Feierabend ...«

Madam Waarmann mochte diese Angelegenheit beleuchten, von welcher Seite sie wollte, immer liefen die Ausführungen auf dasselbe Ziel hinaus: ein älterer Mann, der gut verdient, wenigstens hundert Rubel monatlich und von der Mittagspause ab Feierabend hat. Aus der endlosen Variierung dieses Themas mußte Indrek doch endlich wohl schließen, daß Madam Waarmanns Äußerungen eine besondere Bedeutung beizumessen sei, und darum war er bestrebt, um jeden Preis mit Molli zusammenzukommen. Da ihm das aber lange nicht gelingen wollte, so hatte der Schmerz Zeit, sich immer tiefer in sein Herz zu fressen, und nur wenn irgendwelche außerordentliche Ereignisse eintraten, ließ er für eine Weile ab, als seien seine scharfen Zähne gleichsam abgestumpft.


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