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XXIX

Als Indrek den Brief zum ersten Male durchgelesen hatte, war ihm zumute, als habe er weder einen Kopf mehr auf den Schultern noch ein Herz in der Brust. Wie betäubt ging er umher oder hockte irgendwo in einem Winkel, den Kopf in die Hände gestützt. Er nahm kaum wahr, was um ihn her vorging, und wenn jemand ihn anredete, so schien er es nicht zu bemerken. Nur wenn sich ihm die Möglichkeit bot, den Brief nochmals durchzustudieren, schienen ihm Aufmerksamkeit und Verstand wiederzukehren. In der Schule ging es mit ihm immer weiter zurück, so daß die Lehrer ihn schon völlig aufgegeben hatten wie so manchen anderen. Daran war man in Herrn Maurus' Lehranstalt erster Kategorie ja schon gewöhnt. Es gab da eben so manchen Schüler, der sozusagen grundsätzlich nicht mitarbeitete. Man ließ ihn gewähren, einmal würde er sich schließlich doch wohl zusammennehmen. Und wenn nicht, dann doch wenigstens die Schule bald verlassen, da ihm dieser Zustand auf die Dauer ja doch auch peinlich und unerträglich werden mußte. So meinte man. Nur Herr Molotow war anderer Ansicht, er bestand darauf, daß gelernt würde, und darum ließ er auch Indrek keine Ruhe.

»He, Sie langer Laban da!« rief er. »Sie verstehen natürlich wieder nichts.«

»Nein«, versetzte Indrek ruhig.

»Aber was verstehen Sie denn eigentlich. Sie Pferdegesicht?«

»Das weiß ich nicht«, versetzte Indrek ernst.

»Hören Sie doch den Dämelack«, wandte sich Molotow an die Klasse, »gelernt hat er nicht, aber Spaß versteht er zu machen.«

»Ich mache keinen Spaß«, widersprach Indrek.

»Haben Sie denn einen Klotz oder einen Amboß an Stelle des Kopfes?« fragte Molotow.

»Sehr möglich«, versetzte Indrek.

Einmal stellte Molotow Indrek auf der Straße, betrachtete ihn lange aus seinen halbblinden Augen durch die Brillengläser und fragte dann:

»Herr Paas, bin ich Ihnen ein Kamerad oder nicht? Verstehen Sie? Bin ich Ihnen bisher kameradschaftlich begegnet oder nicht?«

»Jawohl, Herr Lehrer, das sind Sie«, versetzte Indrek.

»Aber warum lernen Sie denn bei mir nicht mehr?«

»Ich lerne bei niemandem mehr«, sagte Indrek leise.

»Das ist keine Antwort«, sagte Molotow. »Was Sie bei den anderen tun, das ist Ihre Sache; ich will wissen, warum Sie bei mir nicht mehr lernen. Habe ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt? Es gibt ja solche Esel, die gleich über alles gekränkt sind und das Lernen aus irgendeinem blödsinnigen Vorurteil ganz aufstecken. Verhält es sich vielleicht so?«

»Nein, Herr Lehrer, nichts dergleichen. Ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen.«

»Aber was zum Teufel ist es denn?« rief Molotow. »Sie gehörten zu den wenigen, auf die ich große Hoffnungen setzte, denn ich war der Meinung, daß Sie im Frühling ruhig zur Prüfung im staatlichen Gymnasium würden vorgehen können. Weder von Ihrer Schule noch von Ihrem Direktor hält man hier auch nur das allermindeste, sie sind allen nur zum Gespött. Und darum dachte ich mir, es wäre nett, wenn wir diesen staatlichen Gymnasiastenjüngelchen mal zeigen würden, wie man zur Reifeprüfung in der Mathematik vorbereitet sein muß. Verstehen Sie? Das hätte in Ihrem eigenen Interesse gelegen und auch im Interesse der Schule. Natürlich auch in meinem. Und nun versagen Sie völlig und geben überdies noch den anderen ein schlechtes Beispiel. Sagen Sie mir doch als Ihrem alten Kameraden, was ist eigentlich mit Ihnen los? Ein Weib steckt natürlich dahinter? Nicht? Ist sie alt oder jung? Alt natürlich, das heißt älter als Sie, denn sonst wäre sie nicht so schlau. Aber wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde, und das sage ich Ihnen nicht als Lehrer, sondern als älterer Kamerad, der weit erfahrener ist als Sie: glauben Sie nicht an die Liebe, denn sie ist in der Hand der Frau weiter nichts als eine Schlinge, bestimmt, den Mann zu drosseln. Ein Lasso! Bleiben Sie frei, wie ich, Ihr Genosse, frei bin. Und das beste Mittel gegen die Liebe – das ist die Mathematik, und immer wieder die Mathematik. Schade, daß Sie von Integralen und Differentialen noch nichts verstehen, die helfen nämlich am allerbesten. Aber eines sage ich Ihnen: hüten Sie sich vor der Unendlichkeit, Sie wissen doch, die auf die Seite umgestürzte Ziffer acht. Denn die Unendlichkeit endet unweigerlich mit der Liebe, solch ein Schwein ist sie. Man könnte sie direkt als Vater und Mutter der Liebe bezeichnen, denn die Liebe ist immer entweder Null oder unendlich. Also hüten Sie sich vor der umgestürzten Acht. Aber in alles andere vertiefen Sie sich ruhig, je schwieriger es ist, um so besser. Und noch eins könnte ich Ihnen empfehlen: wenn Sie auf den Straßen promenieren, lassen Sie Ihre Gedanken nie unbeschäftigt umherschweifen, das vergiftet die Seele. Stellen Sie vielmehr Ihrem Kopf irgendeine Aufgabe, etwa indem Sie die Leute zählen, die Sie überholen und die Ihnen entgegenkommen, und sich diese beiden Zahlen fest einprägen. Verwirrt sich die Rechnung, so beginnen Sie von neuem. Durch Übung erreicht man viel. Und wenn Ihnen das keine Schwierigkeiten mehr bereitet, dann komplizieren Sie die Aufgabe, indem Sie nun Männer und Frauen gesondert zu zählen beginnen, so daß Sie sich nun also schon vier verschiedene Zahlen einprägen müssen. Und daheim können Sie etwa an der Zahl Pi rechnen, indem Sie sie etwa mit einer Genauigkeit bis zur vierundzwanzigsten Dezimalstelle ausrechnen, was Sie dann ja immer weiter ausdehnen können, bis zur zweihundertsten Stelle usw. Verstehen Sie? Pi bis zur zweihundertsten Dezimalstelle, und ich möchte wohl sehen, was für eine Grimasse Ihre Liebe dann machen wird.«

So war der Lehrergenosse bestrebt, seinen Schülergenossen mit Hilfe der Mathematik wieder zur Vernunft zu bringen. Indrek nahm sich auch Molotows Ermahnungen zu Herzen und versuchte es mit seinem Rezept, aber es erging ihm dabei wunderlich genug. So konnte er beispielsweise ganz vernünftig beginnen: einmal eins ist eins, zweimal zwei ist vier, zweimal drei ist sechs, zweimal vier ist acht, – aber diese Acht will auf keinen Fall stehen, sie legt sich immer wieder auf die Seite; Indrek kann es deutlich sehen: sie liegt auf der Seite, ganz ausgestreckt auf der Seite. Und wenn er genauer hinsieht, dann entdeckt er, daß es überhaupt gar keine Acht ist, sondern die Unendlichkeit, vor der Molotow ihn so dringend gewarnt hat, denn diese Unendlichkeit ist ja nichts anderes als die Liebe. Aber die ist ja eben gerade verboten, denn Indrek soll doch arbeiten, um im Frühling die Reifeprüfung zu bestehen. Die Liebe läßt einen nicht reif werden ... und darum wieder von vorne: einmal eins ist eins, einmal zwei ist zwei ... einmal acht ist acht – bauz! Da liegt sie schon wieder auf der Seite. Die Acht liegt auf der Seite. Wie stets. Und das bedeutet die Liebe. Wenn die Acht auf der Seite liegt, dann ist es die Liebe, die unendliche, ewige Liebe ... Rimalda, Ramilda, Ridalma, Radilma, Diralma, Darilma ... Die Liebe ist der Übermensch. Und der ist wohl schon längst ausgestorben. Wie alles Große und Schöne. Nur seine Knochen hat man noch nicht gefunden. Und wenn sie gefunden worden sind, so hat man sie nicht erkannt und für die Knochen irgendeines Sauriers gehalten. Vielleicht des Homohippus? Sicherlich des Homohippus. Und nun wird alles immer dürftiger und kleiner. Selbst die Erde zieht sich zusammen. Den Übermenschen hat es gegeben, Johannes den Täufer hat es gegeben, Goethe hat es gegeben. Und nun sind sie alle nicht mehr. Und alle haben geliebt, alle! Auch Christus liebte, denn er sagte doch: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? So liebte er und starb am Kreuz. Und Goethe? Was hätte Goethe an Indreks Stelle getan? Goethe und der Übermensch? Wenn man das doch bloß wissen könnte, denn damit wären alle Zweifel behoben, Indrek würde es einfach ebenso machen wie sie. Würde nach dem Beispiel Goethes handeln, wie diese alte Dame, von der Ramilda schreibt, oder Rimalda, Ralmida oder Rilmada, Ridalma oder Radilma? ...

Solch sonderbare Dinge gingen mit Indrek vor, als er bestrebt war die Liebe mit Mathematik zu kurieren, wie der Genosse Molotow es ihm beigebracht. Aber bald sollte er erfahren, daß solche wunderlichen Dinge sich nicht nur mit ihm begaben, sondern sogar mit Genosse Molotow selbst, obgleich diesem doch Integrale und Differentiale sozusagen aus erster Hand zur Verfügung standen.

* * *

Ihren Anfang nahm diese Sache höchst einfach und gewöhnlich, so daß niemand in der Lage war, sich so recht darauf vorzubereiten. Wie es auch schon früher oft vorgekommen war, erschien Herr Molotow eines schönen Tages schon vor dem Gagentage bei Herrn Maurus mit dem Ersuchen, ihm sein erst nach mehreren Tagen fälliges Monatsgehalt auszuzahlen. Und alle Erklärungen des Direktors und Ollinos, den er wie stets in schwierigen Situationen als seinen Adjutanten herangezogen hatte, die Auszahlung des vollen Gehaltes könne heute gar nicht in Frage kommen, allenfalls nur ein kleiner Vorschuß, fruchteten nichts. Herr Molotow bestand auf seiner Forderung: er wolle sein Gehalt unbedingt schon heute haben, und zwar die ganze Summe ungekürzt. Der Wortwechsel wurde immer erregter, und schließlich begann Herr Molotow Ausdrücke zu gebrauchen, als sei er dabei, seinen Schülern die Mathematik beizubringen. Und als auch das nicht half, begann er zu toben, indem er nach einem erst kürzlich angeschafften, neuen Stuhl griff und ihn krachend gegen den Fußboden schmetterte, daß von dem Möbelstück wenig übrigblieb.

»Bekomme ich mein Geld oder nicht?« schrie er.

Herr Maurus rannte erschrocken ins Nebenzimmer, aber Ollino wahrte vollkommen seine Ruhe und sagte:

»Nein, es ist kein Geld da.«

Wieder krachte ein neuer Stuhl schmetternd gegen den Fußboden.

»Bekomme ich mein Geld?«

»Nein«, versetzte Ollino immer noch völlig ruhig.

Nun stürmte Molotow an die Kleiderablage und begann die Haken derselben herunterzubrechen, die kurzen und die langen, einen nach dem anderen, knicks, knacks, knicks, knacks, es klang wie lebhaftes Pelotonfeuer, in dem Mäntel und Hüte kraftlos zusammensanken.

»Ihr Teufelsviehvolk, Geld, sage ich!« schrie er.

»Es ist keins da, und wenn Sie das ganze Haus zusammenhauen«, versetzte Ollino mit unerschütterlicher Ruhe, was den anderen ganz aus dem Häuschen brachte. Mit geradezu wahnsinnigen Blicken sah er sich im Zimmer um, woran er sich nun wohl machen solle, und stürzte schließlich auf den großen Schrank zu, auf dem einst Goethe und Schiller friedlich nebeneinander gestanden hatten. Er packte den Schrank mit beiden Händen und machte den Versuch ihn umzustürzen, aber Ollino war zur rechten Zeit zur Stelle und stützte das schwankende Möbel im letzten Augenblick. Und so schoben und zerrten sie hin und her, so daß der Schrank wohl bedenklich schwankte, ohne indessen umzustürzen. Als Molotow hierbei hinter der Schrankecke hervor Ollinos von der Anstrengung gerötetes Gesicht erblickte, schrie er ihn an:

»Sie elender Hundesohn! In Christi Namen frage ich Sie zum letzten Male: haben Sie denn wirklich gar kein Geld?«

»In Christi Namen, nein«, versetzte Ollino ernst.

»Dann ist also nichts zu machen, selbst wenn ich dies Ding hier umstürze?« fragte Molotow resigniert.

»Nein, nichts, gar nichts«, bestätigte Ollino.

»Aber was wird dann werden?« fragte Molotow ratlos.

»Sie werden wenigstens bis morgen warten müssen«, meinte Ollino.

»Das geht unmöglich, können Sie das denn nicht verstehen?« sagte Molotow, indem er einen der zerbrochenen Stühle heranzog, ihn auf die Seite legte und sich darauf setzte. Eine Weile blickte er düster schweigend vor sich hin auf den Fußboden. Als er dann seine halbblinden Augen wieder zu Ollino emporhob, schimmerten hinter den Brillengläsern Tränen.

»Was ist eigentlich mit Ihnen los, Herr Molotow?« fragte Ollino besorgt.

»Seien Sie ein Engel, und besorgen Sie mir noch heute Geld«, bat Molotow mit bebender Stimme.

»Schön, ich will Ihnen aus meiner eigenen Tasche geben, was ich habe«, sagte Ollino.

»Herrgott, Sie sind ein anständiger Kerl, ein Erlöser, direkt ein Heiland!« rief Molotow aufspringend. »Und ich bin der Schächer am Kreuz, der, der ins Paradies kam.«

Aber Ollino hatte nicht so viel wie nötig war, und daher mußte auch Herr Maurus, der sich inzwischen wieder ins Zimmer gewagt hatte, seine Börse zücken. So wußte Molotow schließlich in seiner freudigen Dankbarkeit nichts Besseres zu tun, als abwechselnd Ollino und dem Direktor schluchzend um den Hals zu fallen, wobei er immer aufs neue versicherte:

»Sie sind Engel, bei Gott, Engel! Nie hätte ich geglaubt, daß Sie solche Engel sein könnten!«

Und dann stürmte er aus der Tür.

»Dieser Mensch ist verrückt geworden«, meinte Herr Maurus nachdenklich. »Hier werden alle allmählich verrückt. Man wird ja sehen, wie lange wir beide vorhalten.«

»Wir halten schon vor, Herr Maurus«, sagte Ollino beruhigend, um nach einer kurzen Weile hinzuzufügen:

»Aber die Stühle und die Kleiderständer sind zum Teufel.«

»Und ganz neue Stühle noch dazu«, klagte Herr Maurus. »Ein Rubel das Stück. Das hätte man ihm abziehen sollen.«

»Nun, nächstes Mal«, sagte Ollino.

Aber dieses nächste Mal kam nie, denn Herrn Molotow hatten sie heute zum letzten Male gesehen. Am nächsten Morgen erhielt Herr Maurus einen Brief, in welchem Molotow mitteilte, daß es ihm nicht mehr möglich sei, den Unterricht fortzusetzen. Diesem Schreiben war eine Schätzung der Kenntnisse der Schüler in Gestalt einer Nummerliste beigefügt, auf der Indreks Namen gegenüber eine schöne runde Null prangte.

»Dieser Mensch ist tatsächlich verrückt geworden«, meinte Herr Maurus, Ollino die Liste zeigend.

»Er und wohl auch der andere, der die Null bekommen hat«, meinte Ollino.

Sehr richtig! Auf diesen Gedanken war Herr Maurus gar nicht gekommen. Richtig, sehr richtig! Indrek mußte vorgenommen und verhört werden.

»Herr Molotow hat Ihnen eine Null gegeben, was hat das zu bedeuten?« fragte der Direktor Indrek.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Indrek.

»Das wissen Sie natürlich nicht«, sagte der Direktor. »Aber haben Sie ihm auf seine Fragen geantwortet?«

»Nein«, versetzte Indrek kurz.

»Nun, sehen Sie«, wandte Ollino sich an Herrn Maurus. »Molotow ist gar nicht so verrückt.«

»Warum haben Sie nicht geantwortet?« setzte der Direktor sein Verhör fort.

»Ich hatte nicht gelernt.«

»Und warum hatten Sie nicht gelernt?«

»Ich konnte nicht.«

»Warum? fragt Herr Maurus«, wiederholte der Direktor mit erhobener Stimme.

»Ich konnte nichts fassen«, erklärte Indrek.

»Wie denn das?« verwunderte sich der Direktor. »Bis heute ist es gegangen, und nun plötzlich will es nicht mehr gehen. Sie sind doch nicht aus Petersburg oder Moskau. Von da kommen zu Herrn Maurus solche Leute, die nichts mehr kapieren können. Die estnischen Jungen aber, die müssen alles kapieren, alles, alles, alles, sonst sind sie gar keine richtigen estnischen Jungen. Und die, die da von weitem her hierherkommen, die zahlen Herrn Maurus Geld, aber Sie zahlen gar nichts. In Herrn Maurus' Hause herrscht eine feste Ordnung: zahl und krieg Nullen wieviel du willst, aber wenn Herr Maurus zahlt, dann mußt du Fünfer haben.«

Da die Sache eine persönliche Wendung zu nehmen schien, so hielt Herr Ollino es für geraten, zu verschwinden. So hatte Herr Maurus die Möglichkeit, sich offener auszusprechen.

»Gestehen Sie nur«, begann er aufs neue. »Da steckt irgendein Mädchen dahinter, das die Nullen auf dem Gewissen hat. Sie sind so lang, daß die Mädchen Ihnen direkt ins Gesicht blicken können. Und wenn ein Mädchen einem ins Gesicht blickt, dann setzt es in der Mathematik sogleich Nullen. Herr Maurus ist alt, dem kann man nichts vormachen. Antworten Sie: ist es ein Mädchen oder nicht?«

Aber Indrek schwieg. Daher sagte der Direktor:

»Also ein Mädchen. Mädchen machen junge Leute immer verrückt. Darum – nicht auf die Mädchen gucken! Warum wurde die männliche Jugend Griechenlands dazu angehalten, auf der Straße die Augen niederzuschlagen? Weil sie nicht auf die Mädchen gucken und verrückt werden sollten. Nicht einmal von hinten darf man auf die Mädchen gucken, denn da sind der Zopf und die Hüften zu sehen, und die machen auch verrückt. So sind die Mädchen nun mal beschaffen. Aber bei Herrn Maurus darf ein armer Junge nicht verrückt werden. Hier heißt es entweder zahlen, dann mag man auch verrückt werden; zahlt man aber nicht, dann heißt es bei gesundem Menschenverstande bleiben. Verstanden?«

So belehrte und warnte der Direktor Indrek wie ein Vater. Aber schon am nächsten Tage galt es, diese Vermahnung zu verdoppeln und zu vertiefen, denn es traf die Nachricht ein, Molotow habe eine seiner Schülerinnen entführt, ein Mädchen aus wohlhabenden Kreisen – eben jenen »Schweißfuchs«, von dem er den Jungen mal berichtet hatte. Erst jetzt erfaßte man, warum er so stürmisch auf der Auszahlung seines Gehalts bestanden hatte.

»Der Mensch war also doch verrückt«, sagte Herr Maurus zu Ollino, der dem Direktor widersprach, indem er meinte:

»Nur verliebt, nicht verrückt. Wer hätte das wohl denken können, daß Molotow sich verlieben würde.«

»Verliebt oder verrückt, was ist da für ein Unterschied«, lächelte Herr Maurus lebensklug. Und dem mußte man eigentlich beipflichten, wenn man den Brief in Betracht zog, den Molotow an die Eltern des »Schweißfuchses« gerichtet hatte, um sein Vorgehen zu entschuldigen. In diesem Briefe erklärte er nämlich, daß, obgleich er – Molotow – Sozialist sei und ein großes Schwein obendrein, er doch ihre Tochter liebe, liebe wegen ihrer goldenen Augen. Aber da sie als ordentliche, vernünftige Eltern ihre Tochter einem solchen Rüpel wie er doch nie gegeben haben würden, so habe er getan, was er tun mußte, denn etwas anderes sei ihm nicht übriggeblieben; ihre Tochter sei eben ein solcher Engel, daß er sie vergöttern und solch ein Rüpel sein müsse, wie er es nun eben mit ihrer Tochter sei.

Als Indrek das alles hörte, war sein erster und letzter Gedanke:

»Da helfen also weder Integrale noch Differentiale, da hilft überhaupt garnichts.«

Und dabei verzog sich sein Mund zu einem schmerzlichen Lächeln, aus dem schwer zu entnehmen war, ob diese Tatsache ihm Freude bereite oder einen letzten schweren Schicksalsschlag bedeute.


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