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XIII

Indreks Befürchtung erwies sich als berechtigt: Kristi erwartete ihn schon lange an der verabredeten Ecke, ein Päckchen Proklamationen im Busen, und blickte ihm vorwurfsvoll entgegen.

»Ich wurde aufgehalten«, entschuldigte sich Indrek. »Ein Herr Bystryi, der immer mit einer dicken Mappe unter dem Arm herumspaziert, Sie haben vielleicht von ihm gehört? Er redete von der Seelen Seligkeit.«

Aber Kristi hatte den Namen Bystryi nie gehört und empfand auch nicht das geringste Interesse für ihn. Sie dachte nur an die verbotenen Proklamationen, die ihr am Busen brannten.

»Mir hat man nur wenige gegeben«, erklärte sie, »man fürchtet wohl, daß ich nicht recht mit ihnen umzugehen verstehe. Aber Sie werden schon sehen, ich verstehe es schon. Ich werde beweisen, daß ich des in mich gesetzten Vertrauens wert bin. Es ist so herrlich, etwas Verbotenes zu tun. Das läßt die Kräfte wachsen, gibt einem Selbstvertrauen. Ich freute mich so sehr, als der Onkel mich zu sich nach Amerika einlud, aber jetzt würde ich gar nicht mehr dahin wollen, denn hier ist es ja jetzt viel, viel interessanter. Augenblicklich ist es nirgends so interessant wie in Rußland, denn hier haben wir doch Revolution. Was tritt Ihnen vor die Augen, wenn Sie sie zukneifen und langsam vor sich hinsprechen: Re-vo-lu-tion. Aber ganz langsam?«

Aber Indrek hatte diesen Versuch noch nie gemacht, und wußte daher auch nicht, was ihm vor die Augen trete, wenn er sie schlösse.

»Aber ich sehe Feuer und Blut«, versetzte Kristi in träumerischer Begeisterung, »ein riesiges Feuer und viel, viel Blut, so daß einen schaudert. Aber darum öffne ich doch nicht die Augen, denn dieser Schauder ist so wundervoll. Damals, beim Feuerschaden, als wir beide durch die Stadt gingen, lernte ich ihn erst eigentlich recht kennen. Lieben Sie ihn auch?«

Aber Indrek konnte das von sich nicht gerade behaupten.

»Aber was lieben Sie dann?« fragte Kristi.

»Eigentlich liebe ich wohl nichts so recht«, versetzte Indrek nachdenklich.

»Und haben auch nie etwas geliebt?« forschte Kristi weiter.

Indrek schwieg.

»Warum sagen Sie nichts?« bohrte Kristi weiter. »Ach ja! Ich weiß schon! Die Mutter sagte mir mal, Liebe sei eine Schande. Nicht wahr? Junge Mädchen dürfen gar nicht von der Liebe reden, sonst denkt man, sie seien verdorben, sagte die Mutter. Und sie hält mich noch für ein ganzes Kind. Was meinen Sie, bin ich wirklich noch ein ganzes Kind?«

»Ich denke nicht«, versetzte Indrek.

»Ich denke auch nicht«, sagte Kristi erfreut, »denn würde ein Kind wohl geheime Versammlungen besuchen oder Proklamationen mit sich herumtragen? Als ich noch wirklich Kind war, da stopfte ich mir Katzen in den Busen und schleppte sie nach Hause. Ja, damals war ich wirklich noch ein Kind. Können Sie sich vorstellen, wie sinnlos – jedes Kätzchen, das man irgendwo auf einer Mauer oder in einem Kellerfenster findet, sich in den Busen zu schieben. Aber ich war damals wie toll hinter Katzen her. Sind Sie niemals toll hinter etwas hergewesen?«

»Doch«, versetzte Indrek still.

»Ja?« rief Kristi erfreut, »dann werden Sie mich gewiß verstehen.«

»O ja«, murmelte Indrek.

»Und was machte Sie so toll?« fragte Kristi, Indrek neugierig ins Gesicht blickend, als wolle sie ihm ins Herz sehen, um festzustellen, ob er auch die Wahrheit rede, wenn er nun antworten würde. Indrek blickte sie eine Weile an und sagte dann, ohne den Blick von ihr abzuwenden:

»Es war ein Mädchen.«

Und als er das gesagt hatte, wandte er den Blick ab, aber er fühlte deutlich, daß Kristi ihn nach wie vor anblickte, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie schlicht:

»Vielleicht hat die Mutter doch recht, wenn sie meint, ich sei noch ein ganzes Kind, sonst hätte ich es mir wohl auch ohne zu fragen selbst sagen können, daß die Jungen ebenso toll hinter den Mädchen her sind wie die kleinen Mädchen hinter den Katzen. Nun bin ich wieder ein ganzes Stück klüger geworden. Mit Ihnen werde ich immer klüger.«

Und dann wanderten sie schweigend, gleichsam betrübt, nebeneinander her, bis sie aus der Stadt ins Freie gelangten, wo Indrek, mit der Hand vor sich hinausweisend, sagte:

»Sehen Sie, da sind sie.«

Auf dem offenen Felde erblickte man eine große Menschenmenge, die durch Zustrom von allen Seiten ständig wuchs.

»Sie haben mich traurig gemacht«, sagte das Mädchen, und als Indrek schwieg, fügte sie hinzu: »Ihre Worte machen mich immer traurig. Erinnern Sie sich des Abends, als das große Feuer war – damals war ich auch traurig.«

Aber auch auf diese Worte blieb Indrek die Antwort schuldig, und so trafen sie schweigend auf der Versammlung ein.

Es redete gerade ein junges Mädchen. Die Zuhörer, meistens Männer, Fabrikarbeiter, drängten sich immer enger um die Rednerin, als fürchteten sie, die Worte könnten verrauchen, bevor sie ihre Ohren erreichen. Dann und wann erscholl ein billigendes Gemurmel aus Tausenden rauher Kehlen. Die Rednerin geriet immer mehr in Feuer, von ihren Zuhörern mitgerissen und diese ihrerseits mit sich reißend. Es war, als wäre es gar nicht von Bedeutung, was sie sagte, sondern bloß wie sie es sagte. Der Ton ihrer Stimme, der Gesichtsausdruck, die Blicke, die heftigen, energischen Bewegungen waren es, die die Zuhörer und auch die Rednerin selbst begeisterten. Und wenn sie sich schließlich von ihrem Standort in die Luft erhoben und wie ein Schmetterling über der Menge geschwebt hätte, ja wenn sie vor ihren Augen gen Himmel gefahren wäre, hätte sich keiner darüber gewundert, so erregt war schließlich die allgemeine Stimmung, die sich in den Blicken, den Gesichtszügen, den halb geöffneten Lippen, den gereckten Hälsen, den gespannten Muskeln kundtat.

»Ach Gott, wenn ich doch auch nur einmal so reden könnte, dann würde ich meinetwegen gerne sterben!« seufzte Kristi aus dem tiefsten Grunde ihres begeisterten Herzens, um dann ergeben hinzuzufügen: »Aber das wird ja nie, nie sein.«

»Da ist nur Übung nötig«, versetzte Indrek nüchtern, »sonst nichts.«

»Und glauben Sie wirklich, daß ich dann auch so reden könnte wie die da – daß die Leute zuhören, den Mund aufgesperrt, die Augen aufgerissen? Glauben Sie das wirklich?«

»Ganz gewiß«, versetzte Indrek.

»Dann fahre ich bestimmt nicht nach Amerika, mögen Vater und Mutter tun, was sie wollen«, erklärte Kristi energisch.

Als nächster redete ein junger Mann, dessen Gesicht weiß war wie die Wand. Krösus nannte ihn die Beifall klatschende Menge.

»Sehen Sie doch, der hat sich gewiß angeschmiert, damit er nicht erkannt wird«, flüsterte Kristi.

»Den hat wohl das Gefängnis angeschmiert«, meinte Indrek.

»So weiß?« verwunderte sich Kristi mitleidig.

»Manchen weiß, manchen grau«, versetzte Indrek.

Kristi wollte noch etwas bemerken, aber um sie her wurde gezischt und zur Ruhe gemahnt. Der junge Mann redete langsam, gleichsam gedankenvoll. Fast bei jedem Worte machte er eine Pause, es gleichsam im Munde um und um wendend. Es klang, als wären seine Kiefern steif, die Kehle zugeschnürt oder die Zunge verkrampft, so daß er alle Kraft zusammennehmen müsse, um die einzelnen Worte zwischen den Zähnen hervorzustoßen, die sich manchmal so fest zusammenzupressen schienen, daß man meinte, sie knirschen zu hören. Diese angespannten Mundbewegungen und die krampfhaft zu Fäusten geballten Hände erweckten den Eindruck, daß in jedem dieser so mühevoll hervorgestoßenen Worte ein tieferer Sinn verborgen sei, eine Frucht bitterer Erfahrung und eine eiserne, unerschütterliche Überzeugung. Hörte man längere Zeit hin, so wollte die ganze Rede einem in einen weißlichen Schein getaucht erscheinen, als spiegele sie die weißen Züge und weißlich blitzenden Augen des Redners wider. Anfangs wirkten seine Worte drückend, ja geradezu niederschmetternd, so daß alles gebeugt und erschüttert dastand, aber dann durchzuckte alle plötzlich ein heißer Grimm, so daß es den Anschein hatte, als setzten die gebeugten Leiber zum Sprunge an, um irgend jemand an die Gurgel zu fahren.

»Und wenn es zu Gewaltakten kommt, so lehnen wir jegliche Verantwortung ab, denn man zwingt uns dazu, man treibt, man stößt uns auf den Weg der Gewalt. Den Feind auf beide Schultern gelegt, den Fuß ihm auf die Gurgel gesetzt, das ist Männerart«, rief der Redner, seine Rede schließend, um seinem Nachfolger Platz zu machen.

Indrek und Kristi warteten den Schluß der Versammlung nicht ab, sondern machten sich auf den Heimweg. Als sie wieder in der Stadt angelangt waren, wichen sie aber sehr bald vom direkten Wege ab, da Kristi Indrek das Vorstadthaus zeigen wollte, wo sie einmal gewohnt hatte, als auf dem Hofe noch eine einzelne Linde stand, die nun durch einen Jasminbusch ersetzt war, den Kristi jeden Sommer aufsuchte, um an seinen Blüten zu riechen und dabei an die verschwundene Linde zu denken. Von hier führte sie Indrek nach dem Orte, wo sie geboren war. Aber hier war das alte Haus, in dem die Eltern damals gewohnt hatten, längst abgerissen und durch ein viel größeres, neues ersetzt worden.

»Es ist so furchtbar schade, daß dieses alte Haus nicht mehr steht«, klagte Kristi, »ich hätte es Ihnen gar zu gerne gezeigt.«

Als Indrek durch den Zaun den Jasminbusch und dann das neue Haus betrachtete, das an Stelle des Geburtshauses Kristis erbaut war, da fiel ihm plötzlich Wargamäe ein, das große, weite Wargamäe, und er mußte es unwillkürlich mit dieser elenden abgelegenen Vorstadt vergleichen, mit diesem düsteren, schmutzigen Hause, diesem engen verwahrlosten Hofe, den schmalen, häßlichen Gassen voll Staub und Schmutz. Und doch hatte man sich in dieser Freiheit da draußen als Gefangener gefühlt, und keiner war da gewesen, der nicht von dort fortgestrebt hätte. Und er wollte etwas wie Scham diesem Mädchen gegenüber empfinden, das ihm diesen Hof zeigte, diesen verfallenen Zaun und dahinter den Jasminstrauch. Und zum ersten Male glaubte er zu erfassen, daß für die Liebe nichts weiter erforderlich sei als ein Herz, das liebt, zu lieben vermag ...

Die Dämmerung senkte sich schon über die Stadt, als die beiden auf dem Heimwege in die Innenstadt gelangten. Auf dem Marktplatze entdeckten sie eine dunkle Menschenmenge, und Indrek forderte Kristi auf, näher zu gehen, um zu sehen, was da los sei. Kristi war anfänglich wohl dagegen, indem sie erklärte, sie müsse unbedingt heim, aber als Indrek sich bereit erklärte, Vater und Mutter zu Hause beschwichtigen zu helfen, gab sie nach und ging mit ihm.

Wie sich alsbald herausstellte, wurde die draußen auf freiem Felde unterbrochene Versammlung hier fortgesetzt. Es redete gerade wiederum dasselbe junge Mädchen, das sie vorhin gehört hatten. Aber kaum hatten Indrek und Kristi sich der Menge genähert, als diese plötzlich gleichsam zusammenfuhr und in Bewegung geriet: alles blickte gespannt und erregt um sich, und die mehr in der Mitte des Platzes stehenden Leute hoben sich auf die Zehen, um besser sehen zu können, als plötzlich hier und da der Ruf ertönte: »Soldaten!« Irgendwo hörte man jemand laut und böse fragen: »Was zum Teufel haben die hier zu suchen?« Und dann sagte auch die Rednerin etwas auf die Soldaten Bezügliches, was aber weder Indrek noch die um ihn Stehenden genauer hören konnten. Aber es mußte sich wohl um eine Beruhigung handeln, denn die Menge blieb ruhig auf dem Platze, als wolle sie der Rede weiter zuhören, und dasselbe taten auch Indrek und Kristi.

Kristi war so klein, daß sie nicht über die Köpfe der vor ihr stehenden Leute hinwegblicken konnte, und da sie unbedingt mit eigenen Augen alles sehen wollte, vor allem, wo die Soldaten standen und wie viele es wohl sein mochten, so ließ Indrek sie auf sein eines gekrümmtes Knie steigen, sie stützend umfaßt haltend. Aber im selben Augenblick erklang ein Befehlswort, und gleich darauf krachte die erste Salve. Indrek und Kristi stürzten gleich den übrigen zu Boden. Genau konnte sich Indrek später gar nicht recht entsinnen, wie oder wohin er gefallen und wer mit ihm gestürzt war, nur so viel weiß er, daß jemand neben ihm und ein anderer wie auf ihm liegt, aber wer das sein mochte, das hätte er für kein Geld zu sagen vermocht. Er hörte um sich her schmerzliches Stöhnen, Wimmern, Schreien und Kreischen, und dann glaubte er wie durch einen Nebel jemanden fluchen zu hören: »Der Teufel, mit Kugeln!« Er hörte Stimmen und ein Rauschen, das er nie früher glaubte vernommen zu haben. Und dann sah er plötzlich neben allem diesem mit seltsamer Deutlichkeit einen bekannten Rasenplatz vor sich, über den eine Menge großer, grau bemooster Steine verstreut war; sah am Rande dieses Rasenplatzes ein Erlengehölz, voll gleicher, grau bemooster Steinblöcke; sah einen kleinen Jungen eine Erle erklettern, bis in den höchsten Wipfel des Baumes hinauf und sah ihn sich dort schaukeln, hin und her wiegen, bis der zarte Wipfel, der Last nicht gewachsen, plötzlich brach, und der Junge samt dem Wipfel mit seinen weichen, hellgrünen Blättern, herabstürzte, direkt auf einen breiten, grau bemoosten Stein, wo er betäubt unter den weichen Erlenblättern liegenblieb. Und dieses alles deutlich vor sich sehend, als betrachte er gerade eben, am Boden liegend, den betäubten Knaben, sprach Indrek vor sich hin: »Dieser Junge war ich«, um sich dann alsbald zu verbessern: »Dieser Junge bin ich.« Aber dann mußte er sich sogleich darüber verwundern, warum er, wenn er doch dieser Junge sei, bäuchlings fest an den Erdboden gepreßt daliege, wo er doch so deutlich sehen kann, daß dieser Junge dort, unter den frischen, hellgrünen Erlenblättern auf dem Rücken daliegt, die nackten Fersen gegen den Stein gedrückt, die Zehen emporgereckt, die rechte Hand ausgestreckt, so daß die Finger über den Rand des mit graugrünem Moose bedeckten Steines hinausreichen, während die Linke immer noch den grünen Erlenwipfel umfaßt hält, als könne der ihm irgendwie helfen. Und was für ein widerliches Geprassel das doch ist, daß es doch gar nicht endlich einmal aufhören will, als solle es in alle Ewigkeit dauern. Der Junge da unter dem Erlenwipfel hört es nicht, hört kein Prasseln, Stöhnen, Schreien und Röcheln, um ihn her herrscht Ruhe. Nur die Sonne scheint warm vom hellblauen Frühlingshimmel, der Wind rauscht in den zarten, klebrigen Blättern, und dann und wann singt ein Vögelchen dem daliegenden Knaben seine schlichte einschläfernde Weise. Wie deutlich sieht Indrek diese blanke Sonne am frühlingsblauen Himmel und glaubt das Zwitschern des Vögelchens im Blattwerk zu hören, und wieder murmelt er vor sich hin: »Und doch bin das ich.« Und dann merkt er plötzlich, daß das Geprassel aufgehört hat, nur noch Ächzen, Stöhnen und Wimmern ist zu hören und Laute, die man wohl vernehmen, ja mit dem ganzen Leibe mitempfinden kann und nie vergessen wird, die man aber nicht zu nennen wüßte. Und dann hebt Indrek den Kopf und sieht, daß auch die anderen die Köpfe heben, und richtet sich auf. Aber sein Fuß ist durch irgend etwas Schweres behindert, so daß er ihn auf keine Weise frei machen kann. Was das war, wußte Indrek nicht, er erinnerte sich später bloß, daß es ihm schließlich doch gelang, den Fuß frei zu bekommen und sich zu erheben. Aber sobald er den Fuß heben wollte – es mußte der linke gewesen sein, denn an diesem fehlte ihm später der Stiefel – als er nur daran denkt den Fuß zu heben, fühlt er alsbald, daß jemand ihn krampfhaft festhält. Das war in Indreks Erinnerung der erste Augenblick, in dem es ihm scheinen wollte, als habe er Angst empfunden, und darum riß er seinen Fuß mehrfach heftig zurück, bis er ihn endlich frei bekam. Und nun setzte er sich in Gang, denn er sah, daß auch die anderen sich in Bewegung setzten. Aber dann sah er diese anderen hier und da wieder niederstürzen, sich aufrichten und wieder umsinken, aber er selbst hielt sich aufrecht. Wieviel Schritte er gegangen war, oder ob er überhaupt schon einen Schritt gemacht hatte, das wußte er nicht, als er plötzlich fühlte, daß jemand ihn am Mantel hielt und dabei ächzte und schluchzte. Indrek will sich wiederum losreißen, denn er muß nun doch endlich mal gehen, aber dann hört er plötzlich eine bekannte Stimme sagen: »Helfen Sie mir bitte! Helfen Sie mir nach Hause!« Erst jetzt wendet Indrek sich um und beugt sich nieder, um zu sehen, wer denn da mit so bekannter Stimme mit ihm redet, und sieht, daß es Kristi ist. Aber warum steht sie denn nicht auf, sondern kniet so sonderbar, daß es eigentlich gar kein rechtes Knien ist, aber auch wieder kein Stehen auf allen vieren. Und dann plötzlich kommt ihm der klare Verstand wieder, denn nun erblickt er auf dem Erdboden Blut, viel Blut, und in der Nähe liegt ein Mann, der überhaupt keinen Kopf mehr zu haben scheint. Und dann beugt er sich zu dem Mädchen hinab, läßt sich auf ein Knie nieder, um das ächzende Wesen sich leichter auf die Arme laden zu können, erhebt sich und schreitet mit seiner Last dahin – ganz ruhig und langsam, und ist nur froh, daß nun niemand ihn mehr weder am Fuß noch am Mantel festhält. Wie lange er so dahinging, Kristi auf den Armen, das wußte er nicht recht, aber nach einer Weile kam ihm eine leere Droschke entgegen, und der Kutscher ließ seinen Gaul halten. Ohne ein Wort zu sagen kletterte Indrek ins Gefährt und mußte dem Kutscher dann wohl seine Adresse genannt haben, denn dieser nahm von vornherein die rechte Richtung. Erst als sie schon ein Stück Weges gefahren waren, bemerkte Indrek, daß ihm der Stiefel am linken Fuß fehlte und daß dieser Fuß feucht war.

»Bist du unverletzt?« fragte Kristi, die Indrek immer noch auf seinen Armen hielt.

»Ich weiß nicht«, versetzte er, und so fuhren sie schweigend nach Hause.


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