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Erster Teil


I

Als die Räder des Zuges ihren einförmigen Takt zu pochen begannen, fühlte sich Indrek zum ersten Male in seinem Leben völlig allein und gleichsam von aller Welt verlassen.

Die ganze Vergangenheit konzentrierte sich ihm nun seltsam zusammenschrumpfend irgendwie auf Wargamäe, sich gleichzeitig zu einer Art Traum oder Märchen wandelnd. Was vergangen, schien belanglos; was bevorstand, so bedeutsam und groß, daß ihm vorerst noch jeder Inhalt fehlte.

Und sogar selbst erschien er sich fremd in der fremden Umgebung. Wildfremde Menschen drängten ihn in eine Ecke des Wagens. Einigen Trost bot nur die Möglichkeit, aus dem Fenster zu blicken, an dem die Telegraphenpfosten auf der offenen Fläche oder zwischen den halbentlaubten Büschen vorüberflitzten, die Wiesen mit den eingezäunten Heuschobern, Wälder, Sümpfe, Moore, die mit Getreidehocken besäten Felder. Hier und da mal eine bunte Herde, ein am Feuer stehender Hirtenknabe, und ein dem dahindonnernden Zuge kläffend nachstürzender Köter, den der niederschlagende Rauch der Lokomotive alsbald verschlang. Aber selbst diese bekannten Dinge ließen Indrek heute kalt, vermochten nicht sein Interesse zu erregen.

Eine stumpfe Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt, obgleich ihm sein ganzer Körper innerlich zu vibrieren schien, sei es nun aus unbezwingbarer Furcht vor der Zukunft oder in der Erwartung eines großen Glücks, wer mochte das wissen.

Dann und wann stieß er mit der Hacke nach seiner unter die Bank geschobenen Kiste, um sich zu vergewissern, daß sie noch vorhanden sei. War sie doch der einzige bekannte Gegenstand in dieser fremden Umgebung, deren Inneres Dinge barg, die Indrek vertraut und teuer waren. Und jedesmal, wenn er feststellte, daß die Kiste unverrückt an ihrem Platze stand, überkam ihn ein gewisses Gefühl heimischer Zuversicht. Ja, diese kreuzweise mit einem festen Strick verschnürte Kiste war recht eigentlich sein wahrer Reisebegleiter, nicht aber die ihn umgebenden Mitreisenden.

An seinem Ziele angelangt, gedachte Indrek den Wagen als letzter zu verlassen, um mehr Platz und Ruhe zu haben. Aber so geriet er gerade aus dem Regen in die Traufe, indem er mit den einsteigenden, in den Wagen drängenden Reisenden in einen erbitterten Kampf verwickelt wurde.

»Vorwärts, du Bauernlümmel!« wurde ihm von irgendwoher scherzweise zugerufen.

Indrek wollte sich nach dem Rufer umblicken, aber bevor er diesen noch erspäht hatte, wurde er schon von einem anderen heftig angefahren:

»Mach, daß du aus dem Wege kommst mit deiner elenden Kiste, damit man doch einsteigen kann.«

Diese Worte brachten Indrek gewissermaßen erst wieder zu vollem Bewußtsein. Erst jetzt wurde er die durcheinanderdrängende Menschenmenge recht gewahr, gleichwie auch sich selbst, wie er, die schwere Kiste aufs rechte Knie stützend, durch das Gedränge der um sich stoßenden Reisenden den Ausgang zu gewinnen suchte.

Erst an der Wand des Stationsgebäudes fand er sich wieder. Hier ließ er die Kiste niedergleiten, um ein wenig mit sich Rats zu pflegen und die Versickerung des Menschenstroms abzuwarten. Hier hatte er auch Gelegenheit festzustellen, daß noch ganz andere, weit größere Kisten an ihm vorbeigeschleppt wurden als die seine. Das ermutigte ihn. Die Kiste wiederum aufs rechte Knie stützend, schob er sich weiter.

Als Indrek vor das Stationsgebäude hinaustrat, hatte sich die Menge zum größten Teil bereits verlaufen. Kaum hatte er seine Kiste ein wenig abseits niedergesetzt, als auch schon ein krausbärtiger alter Droschkenkutscher neben ihm haltmachte und mit der Peitsche vor seinen Augen herumfuchtelnd rief:

»Nun, junger Herr, fahren wir?«

Indrek wußte nichts Besseres zu erwidern als seine Kiste zu lüpfen, um sie auf das Gefährt zu stemmen.

»Über den Fluß?« fragte der Droschkenkutscher, als Indrek mit seiner Kiste Platz genommen hatte.

»Ja, das weiß ich eigentlich selbst nicht recht«, versetzte Indrek.

»Wie denn das?«

Indrek erläuterte mit wenigen Worten seine Angelegenheit.

»Nun ja, dann also natürlich über den Fluß, zum alten Traat, das ist nahe und billig. Aber eins muß ich Ihnen sagen: eine Dreckschule ist das, eine elende Dreckschule. Mein Neffe hat sie besucht, hätte wohl bis zum Jüngsten Tage dort gehockt, wenn nicht die Militärpflicht dazwischengekommen wäre. Da half kein Singen und kein Beten. Er versuchte in Pleskau Examen zu machen, aber daraus wurde nichts. Er plumpste durch. Eine Dreckschule, diese Anstalt des alten Maurus. Und der selbst erst! Gott behüte! Vor dem heißt es sein Geld in acht nehmen, wie vor dem Bösen seine Seele.«

Und als sie dann über die Brücke zuckelten, kam es nochmals mit Überzeugung von den Lippen des Alten:

»Eine aasige Schule! Keine Rechte, und nicht einmal eine hübsche Uniform.«

Dann schwieg er, als dehne er den auf die Schule gemünzten Tadel auch auf den aus, der die Absicht hegte, dieses Institut zu besuchen. Indrek wurde es gar nicht gewahr, als die Droschke endlich hielt, und fuhr erst auf, als folgende Worte an sein Ohr drangen:

»So, da wären wir nun ... beim alten Traat ... Fünfundsiebzig ... Zur Vordertür herein, da kommen Sie gleich ins Schankzimmer. Nach hinten hinaus gibt es auch Zimmer für Herrschaften, ganz anständige Zimmer. Treten Sie nur dreist ein ... Zu Maurus ist es von hier nicht weit: bloß um die Ecke, und dann ist man auch gleich da. Der alte Traat wird Ihnen schon den Weg weisen, er weiß Bescheid. Alle wissen Bescheid. Und denken Sie an mich: auf den Beutel achtgeben!«

Sprach's, gab dem Pferde die Peitsche und fuhr davon.

Indrek drängte sich mit seiner Kiste durch die Türe. Im Eingang trat ihm ein junges Mädchen entgegen, das mit der Linken den Türflügel offenhielt und mit der Rechten den um die Kiste gewundenen Strick faßte. Wenn man Indrek später gefragt hätte, ob dieses Mädchen blond oder brünett gewesen sei, dick oder schlank, lang oder klein, so hätte er diese Fragen kaum zu beantworten vermocht. Eines aber hätte er unzweifelhaft gewußt: das Mädchen lächelte, und dieses Lächeln prägte sich seinem Gedächtnis für lange Zeit ein, vielleicht weil es in der Stadt das erste Frauenlächeln war, das ihm galt. Und er hätte dieses Lächeln wohl noch viel länger im Gedächtnis behalten, wenn er nicht nach Jahren mit demselben Mädchen an anderer Stelle unter anderen Umständen wieder zusammengetroffen wäre. Dieses Zusammentreffen löschte in seinem Gedächtnis jenes erste wunderbare Lächeln für immer aus, so daß er es nie mehr wiederfand, in der Stadt nicht, ja, nicht in der ganzen weiten Welt. So wunderbar war dieses erste Frauenlächeln, das ihn in der Stadt begrüßte.

»Nun, junger Mann?« fragte ein rotbärtiger Mann, der, auf die Ellenbogen gestützt, über den Schanktisch gebeugt, mit ein paar Bauern schwatzte, die behaglich schmausend vor ihren offenen Brotsäcken saßen. »Sie wünschen wohl ein Zimmer?«

»Ja, wenn ich bitten dürfte«, sagte Indrek und verspürte plötzlich Hunger.

»Das kleine«, sagte der Rotbart zum Mädchen, das, Indrek anblickend, wiederum lächelte und ihn dann mit sich zog. »Dreißig pro Tag!« rief der Rotbart ihnen nach.

Allein auf seiner Stube, löste Indrek den um seine Kiste gewundenen Strick, öffnete den Deckel und suchte den mitgenommenen Mundvorrat hervor, um sich ein wenig zu stärken. Alles dies tat er halb wie im Traum und ganz mechanisch, denn ihm gingen immer noch die Worte des Droschkenkutschers über die Schule und ihren Direktor, den er sobald als möglich aufzusuchen gedachte, im Kopfe herum.

Um aus seiner Stube auf die Straße zu gelangen, mußte Indrek entweder den Korridor oder das Schankzimmer passieren, aus dem er vorhin gekommen war. Diesen letzteren Weg wählte er und handelte damit vermutlich unbewußt nach dem Fingerzeig des Schicksals, denn dadurch betrat er die Straße mit wesentlich leichterem Herzen, als er das Gasthaus betreten hatte.

Im Schankzimmer fand er den Rotbart nunmehr allein vor, nach wie vor sich auf die Ellenbogen gestützt über den Schanktisch lehnend, als wäre es ihm nur auf diese Weise möglich, mit richtigem Genuß sein Pfeifchen zu schmauchen.

»Zum ersten Male bei uns?« fragte er, als Indrek eintrat.

»Zum ersten Male«, erwiderte der Junge wortkarg, denn er eilte hinaus.

»Von weither?«

»Von sehr weit.«

»In die Schule?«

»Jawohl, das ist meine Absicht.«

»Zum alten Maurus natürlich! Anderswo kommt man nicht mehr an.«

»Wer weiß, ob man dort noch ankommt«, meinte Indrek, den das Gespräch mit dem Rotbart zu interessieren begann.

»Da kommt man schon an, wenn man nur Geld hat. Ohne Geld sogar. Bei Maurus kommt man immer und jederzeit an, sei es im Herbst, zu Weihnachten oder zu Ostern, magst du acht, achtzehn oder achtzig Jahre alt sein. Spaß beiseite! Dort sitzen auch Glatzköpfe und Graubärte. Eine tüchtige Schule, Sie werden schon sehen, gehen Sie nur hin. Da kommen die Heuochsen aller Länder und Völker zusammen, und der alte Maurus macht aus allen Männer. Wenn nötig, setzt es auch ein Fell voll, denn gegen ungebrannte Asche kommt doch keine Arznei auf. Mein Bruder hatte einen Sohn – einen langen Lümmel, einen unmöglichen Galgenstrick. Er gab ihn in die Stadtschule – nach einem Jahre wurde er hinausgeschmissen! Er gab ihn in eine andere Schule, nach einem halben Jahre war er draußen! Er wollte ihn in eine dritte Schule geben, aber da wurde er gar nicht erst aufgenommen. ›Bring dieses Rhinozeros zum alten Maurus‹, sagte ich ihm, ›und wenn dort nichts aus ihm wird, dann laß ihn Dünger fahren.‹ Mein Bruder ging zu Maurus und sagte diesem unter vier Augen (wie ich ihn angewiesen hatte): ›Ich zahle, was du verlangst, aber mach aus meinem Jungen einen Mann, einen richtigen Mann. Einen Studenten mit einem richtigen Farbendeckel.‹ – ›Das wollen wir schon machen‹, hatte der alte Maurus gemeint, ›selbst aus einem Pferdedieb kann noch etwas werden, wenn man die Sache nur richtig anfängt.‹ Und was glauben Sie, was geschah? Aus dem Nömme-Karla wurde ein Student. Es kostete freilich ein Heidengeld, aber es gelang. Nun studiert er schon sechs Jahre, daß die Wände knacken, und es kostet noch mehr als beim alten Maurus. Mit einem Wort, eine tüchtige Schule also. Sie ist hier gleich nebenan: wenn man aus der Tür tritt, rechts, dann nochmals rechts und man ist zur Stelle. Ein Steinhaus, aber nur von der Vorderseite, hinten ist alles Holz, reines Holz. Man könnte sagen, ein steinerner Kopf mit einem hölzernen Schwanz. Und der Schwanz, der ist eigentlich die Hauptsache, der Steinkopf ist nur Aushängeschild und Reklame, denn an seiner Stirn findet sich die Aufschrift: Schule allererster Kategorie. Ganz wie der alte Maurus selbst, denn der ist auch erster Kategorie: ausstudierter Pastor. Verstehen Sie? Wenn es ihm einfallen sollte, könnte er mitten in der Nacht vor den Altar treten oder auf die Kanzel klettern; nicht so, wie wir beide hier stehen, einer hinter dem Schanktisch und der andere davor und weiter nichts. Aber die Deutschen haben ihm keine Stelle gegeben. Und so hat der alte Maurus denn seine erstklassige Schule gegründet, die Quelle der Weisheit. Da gehen Sie ruhig hin, denn das ist eine rein estnische Schule, erst mit deutscher und nun mit russischer Unterrichtssprache. Aber das tut nichts; alle estnischen Schulen haben deutsche oder russische Unterrichtssprache, andere estnische Schulen hat es bis heute nicht gegeben, richtige estnische Schulen ...«

Indrek strebte schon lange, von einem Fuße auf den anderen tretend, dem Ausgang zu, ohne daß der Rotbart sich dadurch in seinem Redeschwall hätte stören lassen. Zum Glück betraten nun einige Männer das Lokal, und nun faßte Indrek sich ein Herz und ergriff offen die Flucht. Als der Schankwirt das sah, rief er ihm nach:

»Also immer rechter Hand, rechter Hand, und auf dem Rückwege linker Hand, immer linker Hand!«

Draußen war es mittlerweile völlig dunkel geworden. In der feuchten Herbstluft schienen die brennenden Straßenlaternen wie von einem Heiligenschein umgeben. Es sah aus, als drängten sich Myriaden winziger Insekten um das Licht, die auseinanderstoben, wenn Indrek sich ihnen näherte, als fürchteten sie ihn. »Linker Hand, immer linker Hand«, klang es ihm im Ohre nach, und ohne sich weiter Rechenschaft zu geben, handelte er instinktiv nach dieser Vorschrift. Aber bald nahm er wahr, daß er sich den letzten Ausläufern der Stadt näherte, und erst jetzt fiel ihm ein, daß er sich ja erst auf dem Rückwege hätte links halten sollen. Und so machte er denn kehrt, um, an seinem Ausgangspunkt wieder angelangt, von hier aus seinen Weg, nun aber sich rechter Hand haltend, aufs neue zu beginnen. Bald stand er vor dem weißen Steinhause. Während sein Blick, nach dem Schilde suchend, prüfend über die Fassade glitt, näherte sich jemand schnellen Schritts und verschwand in der Tür, aus der ein Lichtstrahl auf die Straße fiel und ein paar vergilbte Grashalme beleuchtete, die zwischen den runden Pflastersteinen ein kümmerliches Dasein fristeten. Dieser Anblick berührte Indrek wie ein zarter Gruß aus der Heimat, denn er erinnerte ihn an die lange, einsame Staude, die einmal auf dem Strohdache des Wohnhauses in Wargamäe aufgeschossen war.

Er war noch ganz in diese Erinnerung versunken, als die Türe plötzlich aufgerissen wurde und ein junger Mann, eine Uniformmütze auf dem Kopfe, auf die Straße heraustrat. Ohne sich von seinem Tun recht Rechenschaft zu geben, riß Indrek seine Mütze vom Kopfe und fragte in seinem Gemeindeschreibergehilfen-Russisch, ob dieses hier die Lehranstalt erster Kategorie des Herrn Maurus sei. Gerade so drückte er sich aus – Lehranstalt erster Kategorie –, denn sonst hätte er gefürchtet, dieses seines Erachtens große, weiße Steinhaus zu beleidigen. Die Antwort erfolgte in höchst freundlichem Tone und überdies in estnischer Sprache:

»Jawohl, das ist die Maurussche Schule, treten Sie nur näher.«

Und als der Fremde Indrek unschlüssig dastehen sah, zog er die Glocke und wartete, bis die Tür geöffnet wurde. Dann sagte er auf russisch:

»Hier wünscht jemand Herrn Maurus zu sprechen.«

Sprach's und verschwand in der Dunkelheit.


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