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XXX

Im Morgengrauen traf Indrek in Wargamäe ein. Hier umfing ihn sogleich eine so düstere Stimmung, daß er es beinahe bedauert hätte, gekommen zu sein. Denn was hatte es für einen Sinn, sich zu plagen, wenn man damit die Last der anderen doch nicht erleichtern konnte. Und Indrek merkte sofort, daß er hier nicht helfen konnte.

In die Stube tretend, vernahm er ein dumpfes Stöhnen, das hinter der geschlossenen Tür zum Nebenzimmer hervordrang. Das ging ihm so durch Mark und Bein, daß Indrek sogar vergaß zu grüßen.

»Mein Himmel, Indrek, du?« rief Liine, so heftig zusammenschreckend, daß sie beinahe die Schalen, die sie in den Händen trug, hätte zu Boden fallen lassen. Aber dann gelang es ihr doch noch, das Geschirr auf den Tisch zu setzen, um die Rechte an der Schürze abzuwischen und sie dem Bruder zur Begrüßung entgegenzustrecken.

»Ist das die Mutter, die so stöhnt?« fragte Indrek, als traue er seinen Ohren nicht.

»Aber wer denn sonst?« versetzte die Schwester erstaunt. »Das geht nun schon seit Wochen so. Tag und Nacht. Anfangs gab es längere Pausen, aber nun ist es fast ohne Unterbrechung. Zuerst hätten wir überhaupt nicht schlafen können, wenn wir nicht abwechselnd gewacht hätten, so daß die übrigen auf den Heuboden kriechen konnten, aber nun sind wir schon daran gewöhnt, schlafen auch im Zimmer wie die Säcke.«

»Kann man sich daran denn wirklich gewöhnen?« fragte Indrek ganz entsetzt darüber, daß die Menschen auch gegen eine solche Not stumpf und gleichgültig werden können.

»Aber was soll man denn sonst machen?« sagte die Schwester einfach. »Kann man es nicht ertragen, so bleibt nichts übrig als fortzugehen, ganz von Wargamäe fort. Aber jemand muß doch hier sein, der Mutter helfen und das anhören. Und weißt du was, Indrek, ich knurre nun gar nicht mehr darüber, daß ich noch in Wargamäe bin und das Elend der Mutter Tag für Tag mitansehen muß. Ja, ich bin manchmal sogar froh darüber, daß es so gekommen ist, denn nun weiß ich, wie dumm es ist so zu jammern, wie wir das häufig früher taten. Was fehlt uns im Vergleich zur Mutter? Nichts. Die Not der Mutter soll mir für mein ganzes Leben eine Lehre sein, daß man lernen muß zu dulden, wenn man leben will.«

»Du redest wie ein alter Mensch«, sagte Indrek.

»Das bin ich ja auch«, versetzte Liine. »Wir alle sind während der Krankheit der Mutter im Laufe weniger Wochen alt geworden. Nur Ants, der ist noch der alte, der nimmt sich nichts zu Herzen. Wenn auf die Mutter die Rede kommt, dann sagt er immer: hier handelt es sich doch nur um das Elend eines Menschen, und dabei ist nichts zu machen. Aber es gibt Nöte, unter denen Tausende und Millionen zu leiden haben, und die können gemildert werden. Sie kommen ja jetzt immer beim Schreiber zusammen, und der trichtert ihnen denn auch diese Weisheiten ein, daß das eigene Leid nichts zu bedeuten habe im Vergleich mit dem Leid der anderen. An das Verbot des Vaters kehrt er sich ganz und gar nicht, droht vielmehr eher von hier fortzugehen, als sich etwas verbieten zu lassen. Und der Vater fürchtet, Ants könnte am Ende wirklich gehen, so daß er sich einen fremden Knecht suchen müßte, denn von Andres ist schon lange nichts mehr zu hören gewesen.«

In diesem Augenblick trat der Vater ins Zimmer. In der grauen Dämmerung machte er betroffen halt, als traue er seinen alten, schwachen Augen nicht recht.

»Bist du es denn wirklich, Indrek?« fragte er dann, nähertretend.

»Doch, ich bin es«, versetzte Indrek, dem Vater entgegengehend, um ihm die Hand zu reichen.

»Hast du irgend was von Andres gehört?« fragte der Vater sogleich, als läge diese Angelegenheit ihm am nächsten am Herzen und auf der Zunge.

»Gar nichts«, versetzte Indrek.

»Dann ist er wohl gefallen«, sagte der Vater.

»Vielleicht ist er in Gefangenschaft geraten, dann wird es lange dauern, bis man wieder etwas von ihm hören kann, der Weg ist weit«, versuchte Indrek zu trösten. Aber der Vater schüttelte ungläubig den Kopf und sagte:

»Wunder mag es ja geben, aber ich habe jedenfalls keine erlebt, so daß es mir auch an dieses Wunder schwer fällt zu glauben. Und mit Ants ist das auch so eine Sache. Der denkt nur an seine politischen Geschichten, mag zu Hause alles drunter und drüber gehen. Du, Indrek, bist nun weiter herumgekommen und hast so viel gelernt, weißt du nicht, was das eigentlich bedeuten soll, daß die jungen Leute jetzt allen möglichen Dingen nachlaufen und ihre eigenen Angelegenheiten vernachlässigen. In meiner Jugend, da waren wir nicht so. Jetzt ist das wie eine Krankheit. Hast du davon vielleicht etwas gelesen oder gehört? In diesen Blättern und Büchern, die du uns hierher geschickt hast, steht davon wohl nichts. Da findet sich alles mögliche tolle Zeug, aber nicht das, was man sucht. Und ich habe danach gesucht. Habe meine alten Augen die halbe Nacht durch angestrengt, um doch irgendwie dahinter zu kommen, aber vergeblich.«

»Das findet sich in keinem Buche, von Wargamäe schreibt niemand«, sagte Indrek.

»Wozu verschwendest du dann dein Geld für diese Bücher und Blätter, wenn da nichts Vernünftiges drin steht?« fragte der Vater vorwurfsvoll. »Oder bist du schon so reich geworden, daß du dir das gestatten kannst?«

»Nein, Vater«, erwiderte Indrek, »ich bin arm und werde wohl auch arm bleiben, denn in mir fließt Wargamäe-Blut.«

»Nun, dann wirf dein Geld doch nicht für diesen unnützen Kram hinaus, und schick uns das Zeug nicht mehr«, sagte der Vater belehrend, »alle diese Aufstände und all diese neuen Geschichten, die sind da natürlich drin, aber die bringen doch gar keinen Nutzen, wenn ihr ohnehin alle aus Wargamäe ausrückt. Nun will es mir schon scheinen, daß der Hundipalu Tiit recht hat, wenn er sagt, daß alle darum von hier weggehen, weil sie zu viel von den Dingen dieser Welt hören. Jetzt ist man überall dabei, die Güter niederzubrennen, und Ants erklärt, wenn es keine Güter mehr gäbe, dann würde die Freiheit anbrechen. Aber hör mal, sage ich, was hat das denn für einen Zweck, wenn ihr alle Güter niederbrennt und diese gepriesene Freiheit erringt, und dabei doch einer nach dem andern aus Wargamäe loszieht? Was fange ich mit dieser großen Freiheit an, wenn ich hier unter den alten halbverdorrten Kiefern allein heulen muß, wie ein alter Wolf? Früher waren wir wenigstens noch zu zweien, aber nun, seit die Mutter zusammengebrochen ist ...«

In diesem Augenblick wurde die Tür zur Hinterkammer geöffnet, und auf der Schwelle erschien ein junges Mädchen, das Indrek im ersten Augenblick überhaupt nicht erkannte – so sehr war die sechzehn bis siebzehnjährige Tiiu gewachsen. Äußerlich glich sie mehr dem Vater als der Mutter, und ihre grauen Augen blickten den Bruder freudig überrascht an.

»Die Mutter will wissen, mit wem der Vater in der Vorderstube so viel redet«, sagte Tiiu, und sich nach der Kranken umwendend, erklärte sie leise lächelnd:

»Das ist ja Indrek, Indrek ist heimgekommen.«

Nun war nichts mehr zu machen, Indrek mußte sogleich zur Mutter hinein. Mit zitterndem Herzen trat er über die Schwelle und blickte die Kranke gleichsam verständnislos an, denn es fiel ihm schwer, sie wiederzuerkennen, so sehr hatte ihr schweres Leiden sie verändert. Die Mutter lag auf dem Rücken, den Kopf auf einem niedrigen Kissen, weil ihr in dieser Lage leichter war, und damit sie ihren Blick auf Indrek richten könnte, mußte Tiiu die Hand unter das Kissen schieben und ihren Kopf aufrichten. So sah Indrek zwei nahezu wildfremde Gesichter nebeneinander vor sich: ein junges, blühendes und ein altes, welkes, die Augen in dem einen klar und blitzend, im andern anstatt der Augen eigentlich nur noch dunkle, tiefe Höhlen.

»Nun, erkennst du ihn?« fragte Tiiu die Mutter.

»Wie sollte ich ihn nicht erkennen«, erwiderte die Mutter, »aber ob er mich erkennen mag?« Und dann ließ sie den Kopf wieder zurücksinken, als interessiere der Anblick des heiß herbeigesehnten Sohnes sie nicht weiter. Sie lag wieder da wie vorhin, nur ohne zu stöhnen, als sei sie um Indreks willen bestrebt, eine Weile stumm zu leiden. Stumm stand auch Indrek vor ihr, tief erschüttert durch die Erkenntnis, wie furchtbar schnell sich hier auf dieser Welt alles verändere. So schnell, daß einem auch die liebsten, die nächsten Menschen über Nacht fremd werden können.

»Nun, du sprachst doch immer davon, daß Indrek kommen würde und dir Arznei bringen, die dir die Schmerzen nehmen würde, nun ist er da, willst du ihm nicht etwas sagen?« fragte Tiiu und machte Anstalten, den Kopf der Mutter wieder zu heben, aber diese gab ihr durch ein Zeichen zu verstehen, sie möge sie ungestört liegen lassen.

»Geh weg«, sagte sie leise zu Tiiu. »Geht alle weg«, fügte sie nach einer Weile hinzu.

»Auch Indrek?« fragte Tiiu.

»Nein«, hauchte die Mutter kaum hörbar.

So verließen denn alle die Hinterstube außer Indrek, der immer noch am Fußende des Bettes stand und auf den dürren Leib der Mutter niederblickte, der so ausgemergelt war, daß er sich unter der Decke überhaupt kaum abzeichnete. Die auf der Decke ruhenden Hände waren nur Haut und Knochen, und zum ersten Male in seinem Leben nahm Indrek eigentlich wahr, wie furchtbar lang und fein menschliche Finger sein können. Und plötzlich fielen ihm jemandes anderen Hände ein, die sich nach ihm ausgestreckt hatten, dort, vor einem schwarzen Tisch. Damals war es Frühling gewesen, die ersten Gräser hatten ihre frischen Spitzen neugierig zwischen den Pflastersteinen der Straße emporgereckt. Sie hätten damals von Blut geredet, ja, von Blut ... Indreks Blick blieb auf den Händen der Mutter haften, als wolle er feststellen, ob auch sie vielleicht noch durch das frische Blut eines anderen neu belebt werden könnten. Und nun sah er, daß die rechte Hand der Mutter den Versuch machte sich zu bewegen, das aber auf keine Weise zustandebringen konnte. Darum trat er vor das Bett, beugte sich zur Mutter nieder und fragte:

»Wünschst du etwas?«

»Setz dich zu mir«, flüsterte die Mutter.

Indrek gehorchte und fragte, um das lastende Schweigen zu brechen:

»Sind die Schmerzen sehr arg?«

»Nein«, erwiderte die Mutter leise, »an die Schmerzen gewöhnt man sich, wenn sie so lange in einem brennen, aber stöhnen möchte man, das ist alles.«

»Aber dann stöhne doch, Mutter«, sagte Indrek.

»Du bist doch nicht daran gewöhnt«, sagte die Mutter.

»Ich werde mich schon daran gewöhnen«, versicherte Indrek.

Und so begann das leise, jammervolle Stöhnen aufs neue, wie es vorhin ins Vorderzimmer herübergeklungen hatte.

»Wo sind die Schmerzen am heftigsten?« fragte Indrek.

»Am schlimmsten brennt es in der rechten Seite«, versetzte die Mutter, »und dann noch tiefer irgendwo, aber wo, das kann ich nicht so genau sagen.«

»Also immer dieselbe rechte Seite«, murmelte Indrek schuldbewußt. Besonders tief erschütterte ihn der Umstand, daß die Mutter nun gar nicht mehr bestrebt war, irgend etwas zu verheimlichen, zu entschuldigen oder zu mildern, sondern offen erklärte:

»Ja, immer diese Seite, dieselbe Stelle, die damals auf dem Kartoffelfelde von deinem Stein getroffen wurde.«

Indrek versuchte, sich diese ganze Szene wieder in Erinnerung zu rufen, wie er das schon so oft getan, aber heute versagte seine Phantasie. Deutlich sah er nur das Kartoffelkraut vor sich: es war noch ganz grün mit nur einigen wenigen schwarzen Flecken, und das Kraut reichte ihm an manchen Stellen nahezu bis unter die Arme, wenn er längs den Furchen dahinspazierte. So klein war ich damals noch, ging es ihm durch den Kopf, und so ein großes Unglück habe ich angerichtet. Und nun war er groß, und dasselbe Kartoffelkraut würde ihm allenfalls ein wenig bis übers Knie reichen, und doch war er außerstande, wenigstens seiner Mutter gegenüber das Böse, das er damals getan, in Gutes zu verkehren. Kann hier auf der Welt vielleicht überhaupt nie etwas wieder gutgemacht werden? Hier kann nur das Gute sich in Böses verkehren, aber nicht umgekehrt. Vielleicht sucht der Mensch darum schon von alters her Hilfe in der Erlösung, der Aufopferung?

»Womit könnte ich dir helfen, Mutter« fragte Indrek und fügte dann feierlich hinzu: »Ich will alles tun, was du willst.«

Aber die Mutter wollte nichts, gar nichts, wenn sie nur nicht so furchtbar stöhnen müßte.

»Willst du mir glauben, Indrek, dieses ewige Stöhnen wird mir noch den Verstand rauben«, sagte die Mutter. »Die Ohren der anderen können sich doch wenigstens zuweilen noch davon erholen, aber meine nie. Vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen, immer dasselbe. Ich klage und jammere ja nicht, mag es schmerzen, aber wozu dieses Stöhnen? Weißt du, Indrek, das ist alles wegen Juß, wegen meines ersten Mannes, der sich hinter der Kate an der Fichte erhängte. Andres, dein Vater, hat diese Fichte wohl mit Stumpf und Stiel ausgerodet, und an ihre Stelle eine Eberesche gepflanzt, die wächst noch jetzt da, trägt dicke, runde, süße Beeren. Andres meinte damals, nun sei Juß erledigt, nicht nur der lebende, sondern auch der tote. Aber gegen den toten Juß kam Andres nicht auf. Du weißt es ja nicht, niemand außer mir und Andres weiß es, daß Juß ihn erstechen wollte, bevor er sich erhängte. Wenn ihm das gelungen wäre, dann wäre nicht Andres dein Vater, sondern Juß, und dann hätte ich nicht diese Schmerzen. Davon habe ich niemand gegenüber je auch nur ein Wort verlauten lassen, und werde das auch nie tun, Indrek, nur dir sage ich es, denn du bist mein in Sünden empfangenes Kind, und vor dir stehe ich wie vor meinem Gott, und ich würde auch nicht ein Wort über meine Schmerzen verlieren, denn diese Schmerzen sind recht und gut. Aber diese andere, die niemand sieht und kennt, die Juß und seine Kinder liebte, die sie immer noch liebt, die schreit und stöhnt, denn sie sagt, warum sollte ich denn jetzt meine Schmerzen lautlos ertragen, wo ich doch unschuldig bin, denn ich liebte doch Juß. So ist das, mein Sohn. Andres vermochte nichts gegen den toten Juß, denn ich denke sein, denke sein bis zum heutigen Tage, und ich erinnere mich auch der hohen Fichte mit dem dicken langen Ast, über den sich so gut ein Strick werfen ließ. Andres hat diese Fichte wohl beim Steinsprengen zu Asche verbrannt, aber ich erinnere mich schon der großen Steine hinter der Kammer, die unter dem Feuer aus der Fichte des gehängten Juß in Stücke sprangen. Und ich denke, nicht Andres hat diese großen Steine gesprengt und abgeführt, sondern der erhängte Juß, denn hätte Juß sich nicht erhängt, dann wären diese Steine vielleicht überhaupt nicht gesprengt worden. Und wenn die Kühe kommen, mit ihren prall gefüllten Eutern, längs dem neu mit den Zweigen von Juß' Fichte gebrückten Wege des abends heimwärts kommen, dann denke ich, das ist der Segen des Gehängten, denn ohne ihn wäre hier kein Durchkommen gewesen, und die Kühe hätten ewig durch Moor und Sumpf kriechen müssen. So denke ich, wenn diese andere stöhnt, die wegen Juß nicht leiden sollte. Aber ich habe einen heimlichen Gedanken, der mir beim Stöhnen gekommen ist. Und den sage ich nur dir, Indrek. Das nämlich, daß Juß hinter dem Kirchhof beerdigt wurde, und daß ich auch dort neben ihm beerdigt werden möchte. Aber da wird man ja nicht anders beerdigt, als wenn man es ebenso macht wie Juß, als er Andres mit dem Dolchmesser nichts anhaben konnte. Aber ich möchte neben Juß ruhen, und wenn ich könnte, richtete ich es so ein, daß man mich auch dahin bringt. Das ist der neue Gedanke, den ich jetzt denke, wenn ich dieses Stöhnen höre.«

»Mutter, würdest du denn wirklich lieber hinter die Mauer zu Juß wollen, als mit uns zusammen auf den Friedhof?« fragte Indrek.

»Juß quält mich, Juß peinigt mich mit Schmerzen, reißt mich zu sich. Keiner hilft mir, denn keiner vermag etwas gegen Juß und seine Schmerzen. Auf dich habe ich gewartet, Indrek, in der Hoffnung, daß du vielleicht mit Juß' Schmerzen fertigwerden würdest. Du warst meine letzte Hoffnung, du, mein in Sünden empfangenes Kind. Wenn du mir auch nicht helfen kannst, dann kann niemand mir helfen, und dann gehe ich hinter die Mauer zu Juß, damit er doch endlich mal Ruhe gibt. Das sage ich dir, Indrek.«

»Mutter, ich helfe dir«, sagte Indrek, indem ihm gleichzeitig zumute war, als bliebe ihm im Kopf und Herzen etwas stehen.

»Ich wußte es«, sagte die Mutter. »Ich habe es allen immer gesagt, laßt nur Indrek heimkommen, er wird schon wissen, was zu tun ist. Er hat die Arznei, die Juß' Schmerzen stillen wird. Der Doktor ist zweimal hier gewesen, aber er wußte keine Arznei gegen Juß' Schmerzen, er konnte nicht helfen. Er hat mir wohl allerlei Tropfen, Pulver und Pillen verschrieben, aber das Stöhnen wollte nicht nachlassen. Du hörst es ja selbst, Indrek, vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen, wer vermag das auf die Dauer auszuhalten, wer vermag das, wer kann das ...«

Die Mutter lag auf dem Rücken, das scharfe Kinn stand empor, die Sehnen am Halse traten wie Stricke hervor. Die spärlichen schwarzen Haarsträhnen klebten an der Kopfhaut, als seien sie feucht von Schweiß oder mit irgend etwas eingefettet. Die Augen lagen geschlossen tief in ihren dunkeln Höhlen. Die knochige Stirn stand auffallend groß weit vor. Während ihrer Worte hob sie nur einige wenige Male die Lider, um sie dann alsbald wieder sinken zu lassen. Ihre Worte wurden häufig von Stöhnen unterbrochen, die Sätze rissen oft in der Mitte ab, so daß man auf die Fortsetzung eine Weile warten mußte. Manchmal wollte es scheinen, als verwirrten sich ihre Gedanken, aber dann fanden sie sich doch immer wieder klar und vernünftig zurecht. Zum Schluß sagte sie zu Indrek:

»Nun geh, damit du das Stöhnen nicht mehr hörst, sonst gewöhnst du dich auch daran wie die anderen und meinst, das müßte so sein. Aber das ist nicht so! Die andern wissen das bloß nicht, aber du weißt es. Du weißt alles, sie wissen nichts. Auch Andres nicht. Er weiß nicht einmal das, daß diese Schmerzen von Juß kommen, die Schmerzen und der Stein, den du da auf dem Kartoffelacker schmissest. Er glaubt, ich phantasierte, mein Verstand hätte gelitten, das glaubt er, denn er weiß nichts von diesem Stein und von Juß. Sag du mir nun, Indrek, phantasiere ich, oder bin ich bei klarem Verstände?«

»Du bist ganz klar, Mutter«, versetzte Indrek.

»So daß du also diesen Stein geworfen hast, und nun schmerzt es?«

»Ja, ich warf ihn, und nun schmerzt es«, bestätigte Indrek.

»Und war es nicht Juß' Stein, den du warfst?«

Als Indrek einen Augenblick mit der Antwort zögerte, schlug die Mutter die Augen auf, wandte mit großer Mühe ein wenig den Kopf, blickte Indrek an, versuchte wehmütig zu lächeln, und sagte dann, die Augen wieder schließend:

»Also, auch du kannst das nicht verstehen. Du bist wohl ein Professor, aber von Juß verstehst du nichts. Ganz wie die andern.«

»Nein, Mutter«, protestierte Indrek, in der Hoffnung, die Leidende zu trösten, »ich verstehe Juß schon, jetzt schon. Damals, als ich den Stein schmiß, da verstand ich ihn nicht, aber nun verstehe ich ihn.«

»Dann sag das auch den andern, daß du Juß und seinen Stein verstanden hast«, sagte die Mutter, um dann aber nach einer kurzen Weile hinzuzufügen: »Oder nein, besser sag gar nichts, kein Wort von diesem Stein, das bleibt unter uns und Juß.«

»Gut, Mutter«, versprach Indrek.

»Und nun geh, laß mich stöhnen«, sagte die Mutter entschlossen, und Indrek verließ das Zimmer.


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