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XVII

Aber ungeachtet des hohen Gedankenfluges des Herrn Maurus nahm die tägliche Schularbeit in seinem Institut unverrückt ihren Fortgang. Der Religionslehrer Wihalepp, der immer noch den Spitznamen »der Papst« führte, achtete immer strenger darauf, daß vom heiligen Gotteswort auch nicht ein Tüttelchen verlorengehe, und so kam es, daß er immer häufiger mit seinem Bleistift warnend aufs Katheder klopfen mußte und dazu erklärte:

»Wir sind Gottes Knechte, Christi Streiter. Und ein Streiter muß den Befehl der Obrigkeit aufs genaueste befolgen, aufs allergenaueste, verstehen Sie! Aber wie sollte das wohl möglich sein, wenn man diese Befehle nicht genau kennt. Darum also immer: Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, denn am Jüngsten Tage werden wir unserm Herrn Jesus Christus Rechenschaft geben müssen über jegliches Wort, jeglichen Buchstaben, der aus unserem Munde gekommen ist.«

Aber das genügte Herrn Wihalepp noch nicht. Er verlangte mehr, denn wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, aus den Schülern richtige Streiter Christi zu machen. Als General Christi schrieb er vor, daß, wenn er beim Betreten der Klasse »eins« rief, alle Schüler sich gleichzeitig zu erheben hatten, bei »zwei« wieder zu setzen, bei »drei« die Pultdeckel aufzuklappen, bei »vier« die Hände auf den Tisch zu legen, bei »fünf« die Hände zu falten, bei »sechs« die Blicke Wihalepp zuzuwenden, während bei »sieben« der Primus sich zu erheben und zu rapportieren hatte, was zu heute aufgegeben sei. Und da ein Gottesstreiter nach Wihalepps Meinung wie ein Blitz aus heitrem Himmel dreinschlagen mußte, so beschleunigte er das Tempo dieser militärischen Übung von Tag zu Tag, kommandierend: eins – auf, zwei – nieder, drei – Deckel, vier – Hände, fünf – falten, sechs – Blicke, sieben – Primus.

Einmal traf es sich, daß Herr Maurus die Klasse gerade während solch eines frommen Exerzitiums betrat. Nachdem er den Schluß der Übung schweigend abgewartet, sagte er:

»Sehr gut, sehr schön; aber ob es Gott wohl gefallen sollte, daß Herrn Maurus' Jungen so mit den Pultdeckeln klappern?«

»Daran muß man sich bloß ein wenig gewöhnen, dann macht es einem nichts mehr aus«, erklärte Wihalepp.

»Ja, das ist auch meine Meinung, daß der liebe Gott sich erst daran wird gewöhnen müssen«, meinte Herr Maurus, und als die Glocke das Ende der Stunde verkündete, bat er den Lehrer zu gehen, während er selbst in der Klasse blieb.

»Ein kluger Mensch, ein frommer Mensch, ein guter Mensch, aber Verstand hat er nicht für fünf Kopeken im Kopfe«, begann Herr Maurus nun. »Er hat Sie so lange belehrt, bis er selbst den Verstand verloren hat. Das kommt mit guten Menschen oft vor: sie lehren und lehren, verkünden Weisheit und Wahrheit, bis es sich dann eines Tages herausstellt, daß sie selbst auch nicht ein Quentchen Verstand haben, der Weise verrückt geworden ist. Und man muß einen Dümmeren suchen, der noch bei vollem Verstande ist.«

In der nächsten Religionsstunde betrat die Klasse ein kleiner, rüstiger Greis, der in Grau geradezu ertrank, denn an ihm war alles grau: Bart und Schnurrbart, Augen, Haare, Kleider. Selbst das Neue Testament, das er unter dem Arm trug, schien grau, als er vor den Bänken haltmachte, den Blick über die Klasse gleiten ließ und, freundlich lächelnd, wie zu alten Bekannten sagte:

»Guten Tag, Kinder. Wo sind wir voriges Mal stehengeblieben? Mein alter Kopf kann das nicht mehr so recht behalten. Primus!«

»Herr Lehrer, Sie sind heute das erstemal in unserer Klasse«, erklärte der Primus.

»Was? Das erstemal!« verwunderte sich der Alte, schlau in seinen Bart hineinschmunzelnd. »Ach ja, richtig, richtig, das erstemal ... Also – Katechismus beendet, biblische Geschichte beendet. Ich kenne Herrn Wihalepp, ein eifriger, treuer Knecht Gottes. Also alles immer wörtlich, was? Aber anders geht es nun mal nicht, liebe Kinder, immer wörtlich, immer wörtlich, wenn es sich um Gotteswort handelt. Und nun wollen wir mit den Reisen des Apostel Paulus beginnen.« Aber dann vertiefte er sich alsbald in irgendwelche philologische Spitzfindigkeiten, deren Untersuchung sich bis zum Ende der Stunde ausdehnte. Beim Verlassen des Katheders erklärte er lächelnd:

»Nächstes Mal gehen wir von hier weiter, immer zusammen mit dem Apostel Paulus, denn das ist ein beredter Mann, dem zuzuhören es sich schon lohnt.«

Und damit ging er. In der nächsten Stunde wurden nun freilich keine philologischen Probleme erörtert, vielmehr kam die Rede auf Jerusalem, den Ölberg, das Tote Meer, Ägypten, die Pyramiden, den heiligen Stier und den Nilschlamm, nach dessen Dicke sich das Alter der Erde bestimmen läßt.

»Ja, und denkt euch doch mal, Kinder«, sagte der Alte, »diese Messungen haben ergeben, daß dieser Nilschlamm älter ist als die Erde selbst. Denkt doch: der Nilschlamm älter als die Erde. Was soll man dazu sagen? Denn eine wie lange Zeit ist seit Erschaffung der Welt schon verflossen? Wer weiß es? Primus! Paas!«

Aber keiner von beiden wußte, wie lange Zeit seit der Erschaffung der Welt verflossen war. Ja, die ganze Klasse konnte über diese wichtige Tatsache nichts aussagen.

»Ich weiß es auch nicht«, erklärte der Lehrer schließlich betrübt. »Kann mich nicht entsinnen, der alte Kopf will nichts mehr behalten. Aber ein paar tausend Jährchen wird es sicher schon her sein, so etwa fünf, sechs oder noch mehr tausend Jahre. Eine genaue Zahl läßt sich ja da schwer feststellen, liebe Kinder. Ich denke nämlich an die Zeit, als der erste Mensch auftauchte, dieser Adam, der Vater von Kain und Abel, der Vater des ersten Mörders. Der erste Mann und die erste Frau, und sogleich zeugten und gebaren sie den ersten Mörder. Hätten sie sich nicht ein wenig gedulden können? Aber nein, gleich einen Mörder. Na ja, von da ab also, als der erste Mensch auf der Erde auftauchte, ist es einfach, die Jahre zu zählen, denn die Jahre der Welt laufen mit den Jahren des Menschen gleich. Aber wie ist es nun mit den Jahren vor dem Erscheinen des Menschen? Nun seht mal, meine lieben Kinder, die berechnet man eben nach dem Nilschlamm, und auf diese Weise stellt es sich eben heraus, daß der Schlamm älter ist als die Erde, das heißt der Mensch, was ja auch mit der Schrift übereinstimmt, die den Menschen aus einem Erdenkloß geschaffen werden läßt, aus Schlamm das heißt, denn wie hätte er daraus geschaffen werden können, wenn der Schlamm nicht schon vorher dagewesen wäre. Also erst die ewige Erde, dann erst der ewige Mensch. Aber wie alt die Erde ist, das weiß wohl niemand, außer vielleicht Gott. Und wenn der es wüßte, würde er es uns bestimmt nicht sagen. Und weiß er es überhaupt? Was kann ein Ewiges von einem anderen Ewigen wissen? Was ist überhaupt ewig? Kann mir das jemand von euch sagen? Primus? Paas? Ihr wißt es nicht? Ich auch nicht. Ah – ah, aber da hinten weiß es ja jemand. Wie ist Ihr Name? Lible? Ein sehr schöner Name. Also der Mann mit dem schönen Namen wird uns nun sagen, was ewig ist.«

»Ewig ist, was gewesen, ist und bleibt«, sagte Lible.

»Sehr richtig«, lobte der Lehrer, »sehr hübsch gesagt. Nur wissen wir leider nicht, was gewesen, ist und bleibt. Wir wissen nicht einmal allzu viel davon, was ist. Aber vielleicht wissen Sie mit dem schönen Namen Lible etwas, was gewesen, ist und bleibt. Was? Wie? Sonne, Mond und Sterne? Aber die gab es ja am Anfang gar nicht, wie auch schon die Schrift bezeugt. Und es kann auch eine Zeit kommen, wo es sie vielleicht nicht mehr geben wird. Was sagten Sie? Gott? Ja, der natürlich, denn der war früher als alles andere. Aber was wissen wir denn schließlich von Gott, die wir schon vom zeitlichen Menschen so wenig wissen. Denn seht mal, Kinder, mit Gott ist das genau so wie mit dem Alter der Welt: seit der Mensch existiert, können wir es schätzen, aber was vor dem Menschen war und was nach ihm kommen wird, woher sollen wir das wissen. Und mit der Welt ist die Sache insofern noch einfach, als der Nil Schlamm absetzt, nach dem sich das Alter der Welt schätzen läßt, aber was machen wir mit Gott? Wonach soll sein Alter geschätzt werden? Wir können uns an nichts halten als an den Menschen mit seinen zeitlichen Tagen, und so gewinnt es den Anschein, als würde Gott mit dem Menschen zugleich geboren. Und stürbe auch gleichzeitig mit ihm. Als wäre er überhaupt gar nicht ewig. So traurig ist es um unsere Kenntnisse vom lieben Gott bestellt. Darum soll man Gottes Namen nicht unnützlich führen ... Aber wer klingelt denn da? Was? Die Stunde ist aus? Soso, schon aus. Nun schön, nehmen wir denn vom Apostel Paulus Abschied und gehen wir nächstes Mal hier weiter. Also nächstes Mal setzen wir die Reise mit dem Apostel Paulus fort.«

Das Neue Testament unter dem Arm verließ er gesenkten Hauptes die Klasse. In der folgenden Stunde wiederholte sich dann dasselbe: kaum hatte er das Testament geöffnet, als ihm auch schon irgendein Gedanke kam, der ihn den Apostel Paulus und seine Reisen vergessen ließ. Und wozu auch mit Paulus reisen, wenn man beispielsweise im Herbst mit den Störchen in den Süden fliegen kann, übers Mittelmeer und Ägypten bis nach Südafrika, wo es warm ist, und die Sonne so hell scheint. Oh, diese endlosen Vogelschwärme, wie sie die Phantasie des alten Lehrers beflügeln. Oder warum sich nicht auf einen Fischerkutter setzen und weit hinaussegeln, nach Island oder Neufundland, um dort Fische zu fangen und einzusalzen! Oder warum nicht auf einen Elefanten klettern und eine Tigerjagd mitmachen oder mit einer Kamelkarawane durch die Wüste von einer Oase zur andern ziehen und die Fata morgana bewundern! Aber anstatt dessen konnte man auch Maulbeerbäume pflanzen, ihre üppigen Blätter schneiden und Seidenwürmer füttern. Man konnte in die Katakomben hinabsteigen oder in die Ruinen von Herculanum, zumal die ja ganz nahe an Paulus Reiseweg lagen. Man konnte Wasserfälle und Berge bewundern, Kakteen und Schildkröten, duftende Orchideen und Riesenschlangen, Bienen, Ameisen und Termiten, denn die Welt war ja so voll von Schönem und Interessantem, daß es kein Ende gab. Das Semester neigt sich seinem Ende zu, aber die Fülle des Interessanten nimmt nicht ab. Ja, ein Jahr vergeht, und immer noch erzählt der graue Alte, der allgemach schon weiß zu werden beginnt, seine interessanten Geschichten. Und immer weiß er diese seine Geschichten irgendwie mit dem Menschen, mit der ganzen Welt zu verbinden, in Beziehung zu setzen.

Aber am Schluß jedes Semesters harrte des alten Lehrers eine schwere Aufgabe. Als er der Klasse das erstemal darüber sein Herz ausschüttete, seufzte er so aus tiefstem Herzen, daß alles gespannt war zu hören, was nun kommen würde.

»Was ist das Allerschwerste?« fragte er die Klasse. »Wer weiß es? Kann niemand mir das sagen? Primus! Paas! Lible! Was? Keiner weiß es? Nicht einmal Lible? Er weiß nur, daß Gott ewig ist ... Das Nummernstellen ist das Allerschwierigste, liebe Kinder. Denn bedenkt doch mal bloß: wir haben ja nichts getan, wofür man Nummern stellen könnte. Wir wollten ja den Apostel Paulus begleiten, aber dazu sind wir ja gar nicht gekommen, das habt ihr ja selbst gesehen. Aber was machen wir denn nun? Was für Nummern soll ich euch stellen? Primus, was für eine Nummer soll ich Ihnen stellen? Sie wissen es nicht. Der Primus weiß nicht, daß er Religion immer auf fünf antwortet. Denn sonst wäre er ja gar kein Primus. Und Sie Paas? Was? Null? Paas ist mit einer Null zufrieden. Richtig, sehr richtig. Null ist eine hübsche Nummer. Aber da Gott die Demut liebt und Sie überdies schon die Konfirmandenlehre besucht haben, vor allem aber doch ein Christ sind, so kommt Ihnen eine Fünf zu, denn was für ein konfirmierter Christ wären Sie sonst. Das Vaterunser verstehen Sie doch? Und die zehn Gebote? Mit den Erklärungen? Und die biblische Geschichte selbstverständlich. Aber was wollen Sie dann noch? Ein wahrer Christ muß sich schon bescheiden lernen. Also – fünf, Paas für Religion fünf. Und Sie, Lible, Sie werden doch wohl nichts dagegen haben, wenn ich Ihnen fünf stelle? Nein? Unterwerfen Sie sich meinem Beschluß? Sehr gut! Aber was reden wir so viel! Stellen wir einfach allen fünf, dann hat keiner sich zu beklagen. Ist jemand dagegen? Nein? Also – fünf. Aber es würde natürlich nicht schaden, wenn Sie ein wenig über die Reisen des Apostels Paulus nachlesen würden, denn das könnten Sie gefragt werden. Ja, natürlich. Also – fünf! Ihr alle seid doch Christen, also selbstverständlich fünf.«


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