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XVIII

Dieses neue Evangelium wollte Indrek nun auch den Seinen verkünden. Und darum begann er den »Volksfreund«, der von Tag zu Tag revolutionärer wurde, regelmäßig nach Wargamäe zu schicken, sowie auch noch manchen Giftpilz aus Wiljasoos Verlag und allerlei andere Bücher und Broschüren. In Ergänzung dieser Bestrebungen begann er nun auch selbst häufiger nach Hause zu schreiben, um den Verwandten Sinn und Bedeutung der großen Gegenwart näher zu erläutern und langte damit beinahe beim Kommunismus an, der die Menschheit von der Sklaverei des Eigentums befreien und damit für immer erlösen würde, so daß sie dann dem himmlischen Paradiese gerne entsagen könnte.

Aber in Wargamäe schien man diese große Weisheit nicht recht fassen zu können oder doch wenigstens kein Interesse für sie zu haben. Der Vater schrieb Indrek, er verschwende sein Geld unnütz für Bücher und Zeitungen, die durchzulesen doch sowieso niemand die Zeit fände, und in Indreks Briefen vermißte er die Hauptsache, ob dieser nämlich irgend etwas vom Bruder Andres gehört habe. Nach Wargamäe habe er schon lange nicht mehr geschrieben. Was aber Indreks Behauptung anlange, mit dem Kommunismus würde demnächst wieder die Zeit der ersten Christen und Apostel anbrechen, so könne das schon seine Richtigkeit haben, denn das stimme ja auch mit der Bibel überein, aber er sei wohl zu alt, um das noch zu erleben. Und auch der Hundipalu-Tiit, der nun ganz grau geworden sei, würde diese Zeit wohl nicht mehr erleben, aber eines möchte er vor dem Tode doch gar zu gerne wissen: wie es mit Indreks Plänen in bezug auf die Hochschule bestellt sei. Ob er noch immer daran denke, sie zu besuchen oder diesen Plan gänzlich aufgegeben habe. Denn sein alter Taufvater spreche von Indrek immer noch als vom Stolz und der Zierde Wargamäes.

Doch Indrek konnte nichts dafür, daß er nicht imstande war, darauf bedacht zu sein, den Vater oder Taufvater zu trösten oder sich mit ihren Angelegenheiten abzugeben. Er war gleichsam in einen Strudel oder Wirbelsturm geraten, der ihn mit sich riß, ohne zu fragen, ob er wollte oder nicht. Nicht Wargamäe hatte er im Kopfe, sondern die große Politik und allerlei »ismen«, die der Welt Erlösung und Seligkeit verhießen, eine neue Gesellschaftsordnung, Kunst, Wissenschaft und Literatur. Im Namen dieser neuen Ideen konnte Indrek auf einer Versammlung seinen Zuhörern die Phrase eines russischen Redners, die ihm mächtig imponiert hatte, wiederholen, daß heutzutage Goethe und Shakespeare für die Menschheit weit unwichtiger seien als etwa eine Düngerforke. Das klang dreist und groß und gefiel Indrek so gut, daß er es zu Hause sogar Kristi wiederholte, die, immer noch ans Bett gefesselt, auf Neuigkeiten brannte und sich einbildete, daß die Welt nun nach Anbruch der Freiheit schon ein ganz anderes Gesicht angenommen haben müsse.

»Das geht nicht so schnell«, erklärte Indrek, »erst müssen Polizei und Gendarmen verschwunden sein, das Militär, die Gefängnisse, die ganze Regierung, Sibirien und Sachalin und all der alte Krempe! überhaupt. Erst dann kann alles wirklich ein neues Gesicht bekommen.«

»Ach, wie herrlich wird das sein!« rief Kristi begeistert, während Indrek fortfuhr:

»Jetzt predigt der Sozialismus den Klassenkampf, aber wenn erst alles Alte beseitigt ist, dann wird es keine Klassen und auch keinen Klassenkampf mehr geben, ja, sogar der Unterschied zwischen den Geschlechtern wird aufhören, indem die Frau aus der Sklaverei des Mannes befreit werden, und man nicht mehr ihres Standes oder Vermögens wegen, sondern auf rein menschlicher Basis um sie freien wird.

»Aber wird die Schönheit dann gar keine Rolle mehr spielen?« fragte Kristi.

Indrek kamen die allzu langen Arme und großen Hände der Fragerin in den Sinn, und er sagte ausweichend:

»Wenn die Menschen tatsächlich völlig frei und gleichberechtigt sein werden, dann wird die Schönheit jedenfalls unter den Tugenden an letzter Stelle stehen, denn sie kann man sich doch nicht geben oder nehmen wie etwa Bildung, Ehrlichkeit, Treue, Arbeitsamkeit, Keuschheit, Fleiß und so weiter, denn diese Tugenden sind ewig, die Schönheit aber ist vergänglich.«

»Aber ich glaube doch, daß die Männer auch dann die hübschen Mädchen den häßlichen vorziehen werden«, meinte Kristi nachdenklich, »so daß ich also vom Sozialismus und Marxismus gar keinen Vorteil hätte. Über meine Arme würden sich die Leute doch immer aufhalten. Ich bin zum Beispiel doch tatsächlich ein Opfer der Freiheit, wie Sie neulich ganz richtig sagten, aber doch machen sich alle über meine Wunden lustig. Die Mutter sogar sagte gleich, daß es eine Schande sei, solche Wunden zu haben, und nun spricht alle Welt darüber, so daß ich nach meiner Genesung nicht wagen werde, meine Nase aus der Türe zu stecken.«

Kristis Gedanken kreisten immer und immer wieder unermüdlich um ihre Wunde und die Narbe, die sie hinterlassen, und sie wollte diese unter allen Umständen Indrek zeigen, um sein Urteil über diese heikle Sache zu erfahren. Unter allen Umständen! Und so mußte Indrek sehr gegen seinen Willen schließlich nachgeben, nachdem er versprochen hatte, keinesfalls zu lachen. Denn Kristi wollte unbedingt wissen, ob diese Narbe wirklich so häßlich sei, wie böse Zungen behaupteten.

»Es sieht aus wie ein Schönheitsfleck auf der Wange«, sagte Indrek, nachdem er die Narbe in Augenschein genommen hatte.

»Pfui!« rief Kristi entsetzt. »Nun schäme ich mich in Grund und Boden. Sie sind imstande, meine Narbe auch andern Leuten gegenüber so zu loben. Das ist einfach scheußlich! Aber was halten Sie in Wirklichkeit von dieser Narbe, seien Sie bitte ganz offen.«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, versetzte Indrek und wollte fortfahren, wurde aber von Kristi unterbrochen, die ausrief:

»Sie sind einfach unverschämt. Ja, gerade! Das habe ich früher gar nicht von Ihnen gewußt, aber nun weiß ich es. Un-ver-schämt!« wiederholte sie, Silbe für Silbe betonend. »Ein Schönheitsfleck! An dieser Stelle! Schweinerei! Bei Gott!«

Indrek erhob sich und sagte anscheinend gekränkt:

»Es tut mir leid, daß ich es nicht verstehe, Ihnen nach dem Munde zu reden. Fragen Sie doch jemand anders um seine Meinung.«

Kristi drückte ihr Gesicht in die Kissen und brach in Tränen aus.

»Ich bin furchtbar dumm. Die Mutter hat ganz recht. Das habe ich nun von meiner Dummheit. Und Ihnen macht das natürlich Spaß. Sie lachen über mich ebenso wie alle andern.«

Aber nun sagte Indrek leise, aber entschieden, wie ein Mensch, der zu einem festen Entschluß gekommen ist:

»Sie sind tatsächlich töricht, wie Ihre Mutter ganz richtig behauptet. Um Sie nun doch ein wenig klüger zu machen, will ich Ihnen eins sagen: Diese Narbe war meiner Meinung nach tatsächlich so schön, daß ich mich kaum enthalten konnte, sie zu küssen.«

Mit diesen Worten verließ Indrek das Zimmer. Kristi blieb lange regungslos liegen, in Gedanken versunken. Dann und wann vergoß sie ein paar Tränen, lag dann wieder ruhig da, weinte aufs neue, ohne ihre Tränen zu trocknen. Daß doch Leute so etwas empfinden und es einem dann noch sagen können! Aber eins war nun jedenfalls gut: sie würde sich nicht mehr an die Neckereien und Scherze der Leute kehren, denn die bedeuteten ja nichts gegenüber dem, was sie eben erlebt hatte. Toller konnte es ja wohl nicht mehr kommen. Nur eines wäre ja tatsächlich noch toller gewesen: wenn Indrek die Narbe wirklich geküßt hätte. Das wäre so toll gewesen, daß Kristi genau genommen eigentlich gar nicht daran denken konnte.

Als die Mutter heimkam, sagte Kristi zu ihr:

»Ich will nach Amerika fahren, gleich – sofort!«

»Aber der Onkel hat ja bis heute noch nicht geantwortet, ob er dich überhaupt haben will«, wandte die Mutter ein.

»Ach, es ist einfach schrecklich, nie das tun zu können, was man will«, jammerte Kristi. »Erst schien es, als könntet ihr mich nicht schnell genug loswerden, und nun heißt es wieder, es geht nicht.«

»Aber das ist doch sehr einfach, liebes Kind«, verteidigte sich die Mutter. »Schickt der Onkel dir das Reisegeld, kannst du fahren, sonst eben nicht.«

»Und wenn ich das Geld stehlen sollte, ich fahre«, sagte Kristi trotzig.

»Wo bekommt der Arme nun was zu stehlen«, sagte die Mutter bekümmert und fuhr, als sie die Blicke der Tochter erstaunt auf sich ruhen fühlte, fort: »Der Vater sagt doch immer, nicht die Armen stehlen, sondern die Reichen, und darum sind sie eben reich.«

»Dann werde ich auch zum Diebe werden, denn ich will durchaus reich werden«, erklärte Kristi bestimmt.

»Was ist heute eigentlich mit dir los, daß du solch ein dummes Zeug schwatzt?« sagte die Mutter besorgt. »Sieh dich nur vor, daß der Vater das nicht zu hören bekommt.«

»Glaubst du, daß der Vater so sehr gegen das Stehlen wäre, wenn man dabei nur reich werden könnte?« fragte Kristi.

»Gutes Kind, du machst mir heute einfach bange mit deinen Geschichten«, rief die Mutter, indem sie ihre Tochter prüfend betrachtete. »Wo hast du nur all diesen Unsinn her?«

»Das ist eben Gedankenfreiheit«, erklärte Kristi nun. »Das heißt eben die Freiheit, alles zu denken, was dir nur durch den Kopf geht, überhaupt alles, was du magst. Ich übe mich eben in der Gedankenfreiheit, um, wenn die Revolution das mal verlangen sollte, imstande zu sein, alles zu denken.«

»Diese Revolution hat dich ganz dämlich gemacht«, sagte die Mutter hoffnungslos.

»Aber das ist doch eine ganz einfache Geschichte, das mit der Gedankenfreiheit!« rief Kristi und versuchte aufs neue, der Mutter die großen Vorzüge dieser Freiheit klarzumachen. Als dabei aber nichts Rechtes herauskam, rief sie ungeduldig:

»Ach Gott, Mutter, dir, kann man doch wirklich rein gar nichts erklären! Und dabei ist die Geschichte doch so einfach! Heutzutage geht es doch schon mal nicht anders. Man muß frei zu denken verstehen. Herr Paas zum Beispiel, der kann alles denken, was er will, einfach alles. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was der alles denken kann. Da komme ich einfach nicht mit. Du meinst, die Revolution habe mich dämlich gemacht, aber wenn du ihn erst hören würdest! Einfach toll! Aber er sagt, anders gehe es nun mal nicht, wir hätten eben Revolution.«

»Dann hast du diesen Unsinn also von ihm«, sagte die Mutter. »Er war es ja auch, der dich damals auf den Marktplatz mitschleppte.«

»Ja«, seufzte Kristi, »und nun lacht alles über mich.«

»Das ist nun schon mal so, mein Kind«, meinte die Mutter, »wenn einem Frauenzimmer etwas passiert, dann lacht alle Welt, aber wenn einem Manne etwas zustößt, dann findet das keiner komisch. Das war schon vor der Freiheit so und wird wohl auch so bleiben. Und darum meine ich, haben die Frauen gar keinen Nutzen von der Freiheit. Irgendwelche Lebedamen und Modepüppchen vielleicht, die weder Kinder noch sonst etwas haben. Aber die waren ja auch schon früher frei, sind ja überdies eigentlich überhaupt keine richtigen Frauen, sondern ...«

»Sieh mal, Mutter, das ist auch Gedankenfreiheit«, unterbrach Kristi plötzlich die Mutter.

»Was?« rief diese entsetzt, wie vor den Kopf geschlagen.

»Nun ja«, erklärte Kristi. »Du behauptest, eine Frau sei eigentlich gar keine Frau, aber in Wirklichkeit bleibt doch eine Frau immer eine Frau, nicht wahr? Und du denkst eben nur so, damit du, wenn mal solch eine Revolution kommen sollte, daß die Frau überhaupt gar keine Frau mehr wäre, nicht zu erschrecken brauchtest, weil du das schon vorher selbst gedacht hast. Ebensogut könnte man denken, daß der Mann überhaupt kein Mann sei, und wenn man dann plötzlich bemerkte, daß er doch ein Mann ist, dann würde man erschrecken, nicht? Hast du, Mutter, jemals gedacht, daß ein Mann überhaupt kein Mann sei?«

»Nein«, versetzte die Mutter, »denn ein Mann bleibt immer ein Mann, aber eine Frau ist nicht immer eine rechte Frau.«


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