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XIX

Kristi und ihre Mutter disputierten noch über die Gedankenfreiheit, als der alte Lohk nach Hause kam. Er war jetzt überhaupt nur sehr selten zu sehen, allenfalls in den Morgenstunden, wenn die Revolution eine Erholungspause machte. Und dann konnte man auch aus dem Zimmer der Lohks das Hämmern des Alten hören, der mit seinen Schusterarbeiten beschäftigt war. Aber das kam doch im ganzen nur selten vor, so daß die Sorge für die Erhaltung der Familie nahezu völlig auf Frau Lohks Schultern lastete. Dessenungeachtet schien auch Vater Lohk keineswegs mittellos zu sein, so daß seine Frau sich oft wunderte, wo wohl das Geld herkommen mochte, obwohl ihr Mann doch so wenig arbeitete. Aber der Mann erklärte ihr die Sache höchst plausibel, indem er sagte:

»Bildest du dir denn etwa ein, daß ich um Gottes Lohn Tag und Nacht überall herumrenne? Na, ich danke! Nur anfänglich war ich so töricht. Und schließlich ist doch meine Hand auch etwas wert. Wenn die anderen Opfer der Revolution unterstützt werden, dann habe ich doch wohl auch ein Anrecht darauf. Ich schnorre es mir heraus, ganz einfach. Wenn alle Tage Geld gesammelt wird, dann dürfte doch wohl auch für mich etwas abfallen. Die Revolution hat eben ihre Jünger zu unterstützen wie die Fabrik ihre Arbeiter. Arbeiten kann ich nicht mehr, aber Revolution machen, das geht allenfalls noch, so daß ...«

Im übrigen solle die Alte aber den Mund halten, sonst würden alle mit ihren Wünschen und Forderungen kommen, und wo sollte das enden, denn so viel Geld könne niemand sammeln, daß es für alle reiche. So sei es nun mal in der Welt, und die Revolution mache da keine Ausnahme.

Bei dieser Gelegenheit nahm der Alte auch sein Töchterchen wegen ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu Indrek vor, indem er sagte:

»Vor unserem Mieter solltest du dich ein wenig mehr in acht nehmen, liebes Kind, wer kennt ihn denn? Er soll mit einem jungen Mann umgehen, der bei der Polizei angestellt ist.«

»Aber das ist doch sein Schulkamerad vom Lande«, erklärte Kristi.

»Schön, schön«, fiel der Vater ihr ärgerlich ins Wort. »Schulkamerad hin, Schulkamerad her, aber bei der Polizei ist er nun mal angestellt, da ist es besser, man sieht sich vor.«

»Aber Vater, du wirst doch Herrn Paas nicht verdächtigen wollen!« rief Kristi ganz erregt aus.

»Still, du dumme Gans«, beschwichtigte sie der Vater. »Du schreist ja so laut, daß er selbst und die Nachbarn es hören können. Ich denke auch nicht daran, ihn zu verdächtigen, ich sage bloß, daß er Beziehungen zur Polizei hat, und man daher gut daran tut, sich vorzusehen.«

Aber diese Warnungen waren in den Wind gesprochen, im Gegenteil, sie gossen bloß Öl ins Feuer der Begeisterung Kristis für die Revolution im allgemeinen und Indrek im besonderen, dem sie die ganze Geschichte mit der Narbe schon längst verziehen hatte. Wenn sie noch vor wenigen Tagen drauf und dran gewesen war, so bald als möglich nach Amerika zu gehen, so wollte sie nun wiederum nichts von der Reise mehr wissen, da sie eine Trennung von Indrek und all den andern für Revolution und Freiheit schwärmenden Genossen bedeutet hätte.

Als nach einiger Zeit Leute gesucht wurden, denen das zu revolutionären Zwecken gesammelte Geld zur Aufbewahrung anvertraut werden könne, empfahl Kristi Indrek, gerade wegen seiner Beziehungen zur Polizei, insofern gerade diese ihn bei den Spitzeln als unverdächtig erscheinen lassen müßten.

Aber Indrek wollte von diesem Amt eines Kassierers der »Unterwelt« nichts wissen, insofern es ihm doch bestimmte Verpflichtungen auferlegte und seine Bewegungsfreiheit einschränkte. Kristi dahingegen war mit allen Mitteln bestrebt, ihn zu überreden, anzunehmen, denn für sie bedeutete es gleichsam eine Prestige- und Ehrensache.

»Jemand muß es doch übernehmen«, erklärte sie, »das ist doch Ehrensache. Ich habe Sie zudem empfohlen, da könnten Sie es doch schon meinetwegen tun.«

»Was kann Ihnen denn daran gelegen sein?« fragte Indrek.

»Aber ich würde es so sehr wünschen«, versetzte Kristi.

»Schön«, sagte Indrek, »dann will ich es Ihretwegen tun.«

Diese Antwort gefiel Kristi ausgezeichnet, so daß sie lächelte, obgleich ihr gleichzeitig Tränen in die Augen traten, die sie vergeblich fortzuwischen suchte.

»So, nun ist ja alles gut«, sagte Kristi still, gleichsam für sich.

»Ich muß gestehen, ich begreife Sie nicht ganz«, sagte Indrek. »Es macht den Eindruck, als hätten Sie irgend etwas auf dem Herzen. Können Sie denn tatsächlich diese Geschichte von damals nicht vergessen?«

»Ja, diese Geschichte und auch noch etwas anderes«, erwiderte Kristi, »ich hatte mir nämlich gedacht, daß, wenn Sie einverstanden sein würden, dann wäre es damals nur Ihre Gedankenfreiheit gewesen, aber wenn Sie nicht einverstanden sein würden, dann würde das bedeuten, daß es damals böse gemeint war. Und nun sind Sie einverstanden, und so war es denn nur Gedankenfreiheit, ganz ebenso wie damals, als Sie behaupteten, Sie könnten es sich sehr wohl vorstellen, daß jemandes Vater ein Spitzel sei. Nicht wahr?«

Indrek überlegte ein wenig und sagte dann:

»Ganz recht!«

»Nun, sehen Sie, ich bin gar nicht so dumm, wie Sie damals meinten«, sagte Kristi erfreut.

»Natürlich nicht«, pflichtete Indrek dem Mädchen bei. »Aber Sie verstehen die Sachen nach Ihrer Weise und erklären sie manchmal so frei, daß man sich direkt wundern muß.«

»So daß ich also auch verstehe, frei zu denken, ganz wie Sie«, sagte Kristi glücklich.

»Viel freier noch«, meinte Indrek. »Aber wenn ein Mensch sich allzu eifrig in der Gedankenfreiheit übt, dann stimmen seine Gedanken schließlich nicht mehr mit den Dingen überein.«

»Das haben Sie von den Sozialdemokraten, die behaupten auch immer, daß die Gedanken der freien Denker mit den Tatsachen nicht übereinstimmen«, erklärte Kristi weise.

»Sehr richtig«, versetzte Indrek, »und darum lernen Sie beizeiten auch ein wenig zu zweifeln.«

»Das Zweifeln fällt mir besonders schwer«, bekannte Kristi, »ich kann es einfach nicht, und als der Vater meinte, daß ...« Kristi schwieg plötzlich und biß sich auf die Lippen.

»Was sagte der Vater denn?« fragte Indrek.

Kristi überlegte lange, bevor sie eine Antwort fand. Sollte sie Indrek belügen oder den Vater angeben? Schließlich wählte sie doch das letztere und berichtete Indrek offen alles, indem sie ihn gleichzeitig flehentlich bat, sich nur den Eltern gegenüber um Gottes willen nichts davon merken zu lassen.

»Aber das ist doch nur natürlich, daß der Vater Sie vor mir warnt, denn im Grunde genommen wissen Sie von mir doch eigentlich gar nichts«, sagte Indrek gelassen. »Ich könnte ja zum Beispiel sogar ein Spitzel sein und ...«

»Das ist nun wieder Ihre Gedankenfreiheit, die absolut nicht mit den Tatsachen übereinstimmt«, unterbrach ihn Kristi.

»Wieso denn das?« fragte Indrek.

»Sie können ja sagen, was Sie wollen«, erklärte Kristi, »aber ich kann mir so etwas überhaupt nicht denken. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, daß meine Eltern Spitzel wären, oder gar Sie, das wäre mir ganz und gar unmöglich. Und darum kann ich es nicht billigen, daß der Vater sie so verdächtigte. Wenn Sie ein Spitzel wären, was hatten Sie denn damals auf dem Marktplatz zu suchen als geschossen wurde? Denn dann hätten Sie ja doch das alles voraus wissen müssen. Nicht? Und hätten Sie mich von dort nach Hause getragen, wenn Sie ein Spitzel wären? Das hätte kein Spitzel getan, das ist sicher.«

»Ihrer Meinung nach ist ein Spitzel also überhaupt eigentlich kein Mensch.«

»Natürlich nicht, das ist doch klar«, versetzte Kristi. »Meiner Meinung nach ist er nicht einmal ein richtiges Tier. Was er eigentlich ist, das wüßte ich gar nicht so recht zu sagen, aber ich fühle, daß es ein so widerlicher Kerl ist, daß ich mich gar nicht einmal so recht auszudrücken verstehe.«

»Aber ein Spitzel kann doch zum Beispiel nicht nur Kinder haben, wie ich schon mal sagte, sondern sie auch lieben«, meinte Indrek.

»Herr des Himmels!« rief Kristi ihn unterbrechend, »wann werde ich wohl so weit sein, so frei denken zu können! Ein Spitzel Kinder, die er noch dazu lieb hat! Ein Spitzel und Liebe! Nein, so etwas sollte man überhaupt gar nicht denken, niemand sollte so denken. Das müßte einem ja sogar die Liebe direkt verekeln. Wissen Sie, wie ich mir das vorstelle: ich sehe etwas Krummes, Boshaftes, Schleimiges, Widerliches, das mich schon mit seinem bloßen Blick beschmutzt, und daneben einen Engel mit Flügeln auf dem Rücken, schlank und leicht, so daß er die Erde kaum zu berühren, zu schweben, scheint. So sehe ich den Spitzel und die Liebe. Wie sollte man die beiden wohl zusammenbringen können? Nein, das ist unmöglich!«

»Stellen Sie sich doch vor, daß der Spitzel der böse Engel ist und die Liebe der gute Engel, der den bösen retten will.«

»Aber ich will gar nicht, daß der Spitzel gerettet oder gar selig würde!« rief Kristi ungeduldig. »Und das würde ich meinetwegen Jesus Christus selbst sagen, wenn er mal käme, uns zu erlösen. Ich würde ihm einfach sagen: Erlöse, wen du willst, aber laß die Spitzel aus dem Spiele, sonst werden weder ich noch alle anderen anständigen Menschen in den Himmel wollen. Einerlei wohin, aber nur nicht in den Himmel.«

»Aber wenn Christus nun ganz einfach kommen würde, so wie ich zum Beispiel, Sie traurig anblicken und sagen würde: nun gut, liebes Kind, ich will nicht, daß du nicht ins Himmelreich kommst, denn ich habe dich lieb, und darum will ich die Spitzel fürs erste noch nicht erlösen. Aber du wirst doch nicht verlangen, daß sie ewig in der Hölle braten sollen, wo sie doch nur so kurze Zeit Spitzel gewesen sind. Mögen Sie hundert Jahre in der Hölle sitzen, tausend Jahre, eine Million meinetwegen, aber doch nicht ewig. Und darum, liebes Kind, wenn du mich wirklich ebenso lieb hast, wie ich dich, wird dein Herz dann nicht nach einer Million Jahren erweicht werden, so daß du erlaubst, dann auch die Spitzel zu erlösen? Was würden Sie Christus darauf antworten?« fragte Indrek.

»Wo nehmen Sie nur solche Geschichten her?« rief Kristi.

»Nicht ich, sondern Sie haben Christus in die Debatte gezogen«, versetzte Indrek. »Ich mache bloß den Versuch, als sein Stellvertreter an Ihr Herz zu pochen, sonst nichts. Und so sollen Sie mir nun antworten, als ob ich Christus wäre, der Sohn Gottes, verstehen Sie?«

»Aber das ist doch Gotteslästerung, so zu reden«, sagte Kristi.

»Das schon, aber Sie haben zuerst gelästert, als Sie Christus verbieten wollten, die Spitzel zu erlösen. Aber vor allem bitte ich um Ihre Antwort: erlauben Sie Christus die Spitzel zu erlösen, wenn sie eine Million Jahre in der Hölle geschmort haben oder müssen sie in alle Ewigkeit dort bleiben?«

»Sie sollen in alle Ewigkeit dort bleiben«, sagte Kristi ohne zu zaudern.

»Schön«, erklärte sich Indrek gleichsam mit ihr einverstanden, fuhr aber dann fort: »Aber was dann, wenn Christus Ihnen dann sagt: liebes Kind, wegen der Spitzel mag sich dein Herz ja verhärten, aber wird nicht meine Liebe dein Herz erweichen, der ich dich so geliebt habe, daß ich mein Leben für dich gelassen habe. Um meiner großen Liebe willen, erlaube mir doch nach einer Million Jahren auch die Spitzel zu erlösen und in den Himmel zu bringen. Was würden Sie Christus dann antworten?«

»Ach, Sie ziehen mich eben ja doch nur auf«, sagte Kristi, »denn so etwas gibt es doch gar nicht und wird auch nie passieren. Und Sie selbst glauben ja wahrscheinlich gar nicht an Christus und die Erlösung der Welt, so sagten Sie wenigstens mal. Ich glaube es ja eigentlich auch nicht so recht, nur meine Mutter glaubt es, und die würde sicherlich allen Spitzeln ohne weiteres die ewige Seligkeit gönnen, wenn nur Christus es wünschte.«

»Aber Sie?« fragte Indrek, »Sie sind mir immer noch die Antwort schuldig.«

»Ich ließe sie unter keinen Umständen in den Himmel, wenn ich etwas zu sagen hätte«, erklärte Kristi bestimmt.

»Auch um Christi großer Liebe willen nicht?« fragte Indrek.

»Auch um Christi großer Liebe willen nicht. Aber wenn Christus mich gerade so sehr bitten würde, dann würde ich ihm sagen: nun gut, hol die Spitzel in den Himmel, wenn es durchaus sein soll, aber mir erlaub dann den Himmel zu verlassen, denn mit Spitzeln kann ich nun mal nicht zusammen sein. Das würde ich Christus um seiner großen Liebe willen sagen.«

»Und würden vor den Spitzeln womöglich in die Hölle fliehen?« fragte Indrek unerbittlich weiter.

»Auf den untersten Grund der Hölle«, versetzte Kristi unbeirrt, worauf Indrek auf sie zutrat, ihre Hand faßte und sagte:

»Mädchen, Sie können einem wirklich Angst einjagen.«


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